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Dear Esther
Vom: 21.05.2012

Über den Tellerrand

 

Lieber Leser,

ich bin an einem Strand, direkt vor einer verfallenen Hütte. Vor mir steht ein alter Leuchtturm, dessen Treppen von der Zeit derart angegriffen wurden, dass man ihn nicht mehr besteigen kann. Ich weiß nicht genau, wo ich bin und ich kann mich auch nicht erinnern, wie ich hier her kam. Die Landschaft ist wunderschön, aber auch einsam und trist. Nichts in dem Haus oder der Umgebung deutet darauf hin, dass es hier Leben gibt. In der Ferne blinkt ein rotes Licht auf einem merkwürdigen Stahlturm. Ich kann nicht genau sagen warum, aber ich fühle mich dorthin gezogen. Langsam mache ich mich auf den Weg.



Aus der Ferne höre ich eine Stimme. Ich glaube, sie spricht zu mir. Ich habe den Strand hinter mir gelassen und bin nun auf einen Hügel geklettert. Dieser Ort ist atemberaubend schön, doch ich friere und fühle mich verlassen. Jemand erzählt mir etwas von der Reise des heiligen Petrus nach Damaskus, einem skandinavischen Ziegenhirten namens Jacobson und dem Autor Donnelly. Ab und zu spricht die Stimme auch von einem Betrunkenen und einer Autofahrt. Es fällt mir schwer, die Geschichten auseinander zu halten und in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Aber ich bin mir sicher, dass jemand zu mir spricht. Weit weg, jenseits dieser Insel. Ich kann ihn nicht sehen, ich kann ihm nicht antworten. Ich kann nur lauschen und meinen Weg zu dem merkwürdigen Turm fortsetzen.



An einer Klippe habe ich Autoteile und einen aufgesprengten Koffer gefunden. Sind das meine Sachen? Bin ich… tot? Aber der Wind, die Geräusche, die Landschaft, das Schreien der Möwen und die Brandung – alles fühlt sich so echt an. Wo ist diese Insel? Warum komme ich nicht von ihr fort? Ich habe mehrmals versucht, auf das offene Meer hinaus zu schwimmen, aber jedes Mal verlor ich mich im Dunkeln und sah die Umrisse des Turmes, bevor ich meine Augen wieder auf der Insel öffnete. Ich werde weiter Richtung Turm gehen.



Ich habe eine Tropfsteinhöhle entdeckt. Sie ist wunderschön! Die leuchtenden Gesteinsformen haben mir den Atem verschlagen. Ich wandere durch diese Höhle, betäubt von ihrer Schönheit. Vor mir ist ein riesiger Wasserfall. Ich möchte springen, in den See darunter eintauchen, fallen, den Luftzug spüren. Spüren, dass ich am Leben bin. Ich halte den Atem an, nehme Anlauf und… Ich bin unter Wasser. Unter mir ein Highway. Dort vorne stehen zwei Autos. Oh mein Gott, sie sind in einen Unfall verwickelt. Langsam schwimme ich auf die Wracks zu. Ich bin der Lösung ganz nahe, das weiß ich. Nur noch ein paar Meter. Ich bin gleich da, aber die Luft geht mir aus. Ich muss atmen! Nur noch wenige Schritte, dann kann ich die Unfallstelle näher in Augenschein nehmen, nur noch ein paar Meter. Luft! Ich brauche…



Dear Esther ist ein ambitioniertes Erzählprojekt des Medienforschers Dr Dan Pinchbeck. Ursprünglich im Jahr 2008 als Modifikation der Half Life-Engine Source entwickelt, erschien der Titel im Jahr 2011 erneut auf Steam, diesmal in einer grafisch deutlich aufgehübschten Version. Den Titel als Spiel zu bezeichnen, ginge bereits zu weit, denn eigentlich handelt es sich um eine interaktive Erzählung mit Adventure-ähnlichen Elementen. Der Spieler erwacht an einem einsamen Strand, an der Küste einer hügeligen Graslandschaft. Hin und wieder vernimmt er eine männliche Stimme, die abwechselnd Ausschnitte aus verschiedenen Geschichten und seinem persönlichen Leben von sich gibt. Es ist die Aufgabe des Zuhörers, durch die Erkundung der Landschaft und durch genaues Zuhören alle Erzählungen zuzuordnen und einen Sinn darin zu finden. Dabei lässt das Spiel einen großen Raum für Interpretationen. In diversen Foren werden über viele Seiten hinweg Erfahrungen und Deutungen des Titels ausgetauscht. Und das ist die größte Stärke von Dear Esther: Die Anregung zum philosophisch-interpretatorischen Denken. Recht viel mehr gibt es für den Zuschauer auch nicht zu tun: Zwar steuert man per WASD-Tastenkombination die Hauptperson aus der Ego-Perspektive und sieht sich mit der Maus um, ansonsten gibt es aber keinerlei Interaktionsmöglichkeiten mit der Umgebung. Außerdem wurde nur eine Laufgeschwindigkeit eingebaut, und die fällt sehr gemächlich aus. Besonders in den ersten Spielminuten und in weniger aufregenden Abschnitten wird dies zur Geduldsprobe. Wer dennoch ruhig und mit offenen Augen durch die Spielwelt wandert und auch Sackgassen und Umwege nicht scheut, wird mit immer neuen Schauplätzen und einem tieferen Erleben der Geschichte belohnt. Ein ganz besonderer Höhepunkt ist sicherlich die Edelsteinmine, die im dritten Kapitel auf den Zuschauer wartet. Bis zum Finale mehren sich Andeutungen und Hinweise darauf, wen der Zuschauer verkörpert und in welcher Situation er sich befindet. Nach dem Finale am blinkenden Metallturm sind dann Fantasie und Interpretationsreichtum gefragt.

Für geduldige Spieler, die gerne erkunden, es auch einmal ruhiger angehen lassen und die auf das Lösen von Rätseln komplett verzichten können, ist Dear Esther sicherlich ein guter Tipp. Grafik und Atmosphäre sind einzigartig und die Geschichte ist klug ausgedacht und gut umgesetzt.


Die verschiedenen Versionen von Dear Esther

Dear Esther gibt es in der grafisch deutlich verbesserten Version für 7,99 € auf Steam, die ursprüngliche Version aus dem Jahr 2009 gibt es kostenlos in der Mod DB. Dort kann ebenfalls kostenlos die erste Version des Soundtracks als .zip-Datei heruntergeladen werden. Den Soundtrack der Neuversion gibt es für 5,99€ bei Steam oder für umgerechnet etwa 6,20€ auf Bandcamp. Da das Spiel und all seine Texte auf Englisch sind und das Sprachniveau durch sehr poetische Texten recht hoch ist, empfiehlt es sich die vollständige deutsche Übersetzung zu installieren. Mehr dazu in unserem Forum.

Hans Duschl