Bei einem Namen wie House of Tales kann man darauf setzen, dass ein neues Spiel des deutschen Entwicklers einen Schwerpunkt auf die Handlung legen wird. Mit jedem neuen Titel inklusive der beeindruckenden, leider aber kaum beachteten Handy-Spiele, hat House of Tales wachsendes Talent darin bewiesen, Spieler in eine komplexe und erwachsene Geschichte zu verwickeln, ohne vor kontroversen Themen zurückzuschrecken.
Nach der Veröffentlichung von The Moment of Silence wurde es für einige Monate still um den Entwickler und selbst als dann das neue Projekt angekündigt wurde, das nur als Gegenwarts-Thriller über die psychologische Dimension von Gewalt beschrieben wurde, schien das Siegel der Verschwiegenheit über den Details zu liegen. Jetzt gab es jedoch mehr von dem zu sehen, was wie eines DER Adventures aussieht, die man im nächsten Jahr im Auge behalten sollte.
Das Spiel ist Overclocked und wir hatten das Glück, auf der E3 einen in sich abgeschlossenen Spielabschnitt antesten zu dürfen. Bevor wir den Eindruck von der Demo schildern noch ein paar Worte zum Hintergrund.
Overclocked beschreibt der Creative Director Martin Ganteföhr als "Reise in die Charaktere". An verschiedenen Stellen werden die Spieler in insgesamt sechs Rollen schlüpfen. Die zentrale Figur ist dabei der ehemalige Armeearzt Dave McNamara, der seine Karriere beim Militär hinter sich gelassen hat, um als Gerichtspsychiater zu arbeiten. Als ein lang anhaltendes, heftiges Gewitter über New York tobt, wird McNamara in eine psychiatrische Klinik gerufen, um fünf junge Leute zu untersuchen, die in der Stadt aufgefunden wurden und Waffen bei sich tragen, allerdings völlig desorientiert sind und unter Gedächtnisverlust leiden. McNamaras Aufgabe ist es nun, innerhalb der nächsten sieben Tage mit Hilfe von Hypnose und anderen psychologischen Techniken in die Köpfe der Leute einzudringen, um herauszufinden, wer sie sind und was mit ihnen passiert ist. Alles wird noch dadurch verkompliziert, dass sich McNamara selbst mit einer inneren Aufruhr quält, die erschreckende Parallelen zu den Problemen seiner Patienten zeigt.
Das Spiel benutzt eine besondere Erzähltechnik, um fiktionale Elemente mit ziemlich verstörenden realen Szenarien zu vermischen. Während McNamaras Geschichte chronologisch erzählt wird, laufen die Geschichten der Patienten in umgekehrter zeitlicher Abfolge ab - von den jüngsten Erinnerungen bis zu den ältesten. Während der Therapie wird der Spieler in die Rolle des Patienten versetzt, um eine bestimmte Erinnerung zu spielen, während McNamara aus dem Off den Spieler führt. Wenn mehr Hinweise benötigt werden, um tiefer in die Psyche einzudringen, dann verblasst die Erinnerung und man steuert wieder den Arzt. Diese Hinweise kommen aus den Gedankenwelten der anderen Patienten, denn die Geschichten der fünf sind ineinander verwoben.
Unsere E3-Präsentation zeigte einen Abschnitt aus den Erinnerungen einer Frau, die sich an ihren Namen nicht mehr erinnern kann. Auf einem militärischen Wachturm an einer Küste gefangen ist ihre einzige Hoffnung auf Rettung, ein Schiff auf sich aufmerksam zu machen, das am nächtlichen Horizont schwimmt. Es gibt ein riesiges Flutlicht auf dem Turm, das natürlich nicht funktioniert - es handelt sich schließlich um ein Adventure. Glücklicherweise gibt es einen Stromschalter und eine Steuerkonsole in der Nähe, die jedoch - adventuretypisch - ebenfalls nicht funktionieren. Mit etwas Gehirnschmalz gelingt es schließlich, die komplizierte aber logische Folge von Rätseln zu lösen, um ein funktionierendes, bewegliches Licht zu erhalten. Als die Rettung dann in greifbarer Nähe scheint, passiert tragischerweise... na ja, ich will nicht alles vorwegnehmen, selbst aus der kleinen Demo nicht. Es dürfte aber klar sein, dass die Probleme der jungen Frau gerade erst begonnen haben und die Spannung mich bereits ergriffen hatte.
Overclocked war das erste Spiel, das wir auf der Messe gesehen haben, und erstaunlicherweise konnte es visuelle Standards setzen, die kein anderes Spiel danach mehr toppen konnte (auch wenn viele davon auf ihre Weise exzellent aussahen). Sicher war die kleine Umgebung nicht viel, um sich damit eine Meinung zu bilden, und es ist schwer zu sagen, warum genau die Grafik so beeindruckend war, aber die Frische, die Ausgereiftheit und der Realismus haben dafür gesorgt, dass sich der Titel sehr lebendig anfühlt. Overclocked verwendet die komplett überarbeitetee Engine von The Moment of Silence und es ist tatsächlich seinem Vorgänger weit überlegen. Die vorgerenderten 2D-Hintergründe sind ausgiebig animiert und es werden Echtzeit-Partikeleffekte, dynamische Beleuchtung, Schatten und Shadereffekte neben großzügiger Verwendung von Kamerafahrten eingebaut. Wenn technische Aspekte dir nichts bedeuten, dann brauchst du nur eins zu wissen: es funktioniert. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, die Hintergründe würden in Echtzeit-3D dargestellt werden.
Auch die Charaktermodelle wurden überholt. Die Darstellung der Gesichter wurde verbessert und Motion Capturing wird für die Geschlechter getrennt durchgeführt, sodass die subtilen Unterschiede zwischen Mann und Frau auch in den Bewegungen sichtbar werden. In der E3-Demo war noch nicht alles komplett animiert, die Bewegungen sahen aber natürlich und glaubwürdig aus. Ich würde auch den Sound kommentieren, aber jeder, der behauptet, er könne auf der E3 etwas hören, lügt. Um das Bild abzurunden sind auch alle traditionellen Elemente von Adventures mit dabei: Point-&-Click-Interface, 3rd-Person-Perspektive, intuitives Inventar und deutlich verbessertes Pathfinding. Von der Vergangenheit lernend gelingt es House of Tales wirklich, ihre Kunst zu verbessern und ihre Erfahrung umzusetzen. Zwar konnten wir nur einen winzigen Teil des Spiels sehen, Overclocked soll aber mit 45 verschiedenen Locations und ca. 5000 Zeilen Dialog (das heißt: jede Menge) über angepeilte 20 Spielstunden unterhalten können.
Mit seiner besonderen Erzählstruktur und moralisch herausfordernden Themen wie Gewalt und Krieg, begleitet von einer interaktiven Studie des Charakters ist Overclocked wohl nicht nur eines der ungewöhnlichsten kommenden Genrevertreter, sondern auch eines der ambitioniertesten Projekte. Es ist ein komplexes Unterfangen und House of Tales wird jede Menge zu tun haben, diese Geschichte zusammenzusetzen. Aber wenn erste Eindrücke etwas zählen, dann ist das Spiel auf gutem Weg, sein großes Potenzial auszuschöpfen. Es ist noch ein weiter Weg bis zum geplanten Veröffentlichungstermin im April 2007, doch die Uhr tickt.
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