Vorschau

von  Adventure-Treff
23.06.2006
Experience112 (E3)
Wenn es um Spieldesign geht, dann gibt es immer mal wieder eine Idee, die in ihrer Einfachheit und Eleganz so brillant ist, dass es ein Wunder ist, dass noch niemand zuvor darauf gekommen ist. Vielleicht ist auch schon jemand zuvor darauf gekommen, doch sie konnte sich in einer Branche, die Innovationen üblicherweise abstößt, nicht durchsetzen. Ich meine damit echte Originalität und nicht die technischen Verbesserungen, die wir als Fortschritt durchwinken. Es ist keine Überraschung, dass Innovation es so schwer hat. Immerhin ist das Vertraute verlässlich und sicher, während das Unbekannte neu, anders und riskant ist. Und warum etwas verändern, nur um es zu verändern? Wenn es nicht kaputt ist, braucht es auch nicht repariert werden, richtig? Deswegen bekommen wir normalerweise einen steten Strom des Altbekannten, bis ein mutiger und einfallsreicher Entwickler es wagt, einen frischen Ansatz auszuprobieren.

An dieser Stelle kommt Lexis Numérique ins Spiel. Während andere Firmen das nächste große Ding drehen wollen, will das französische Studio sein eigenes Ding machen. Dass ihr Ziel, "originelle Konzepte mit erstklassigem Design" zu entwickeln, keine hohle Drohung ist, haben sie bereits bewiesen. Seit der Gründung 1990 hauptsächlich mit Kinderspielen beschäftigt hat die Firma im Jahr 2003 mit In Memoriam auf dem Adventuremarkt für frischen Wind gesorgt. Der Cyber-Thriller überzeugte als fesselnder Mix zwischen Realität und Fiktion und wird bald mit einem Nachfolger bedacht, der so aussieht, als könnte er das ursprüngliche Konzept noch weit verbessern können.

Während die Arbeit an In Memoriam 2 an der einen Front fortgesetzt wird, ist der Entwickler außerdem mit der Arbeit an einem ebenso originellen Titel beschäftigt, von dem noch kaum jemand gehört hat: Experience112. Zwar lag noch nichts in spielbarer Form vor, wir hatten jedoch das Glück, von Djamil Kemal, dem Marketing-Leiter von Lexis Numérique, das Konzept vorgestellt zu bekommen. In unserem E3-Bericht habe ich Experience112 das vielversprechenste Adventure der Messe genannt, denn die Grundidee ist so genial, dass das Spiel es verdient hat, eines der am heißesten erwarteten Titel des kommenden Jahres zu sein.

Um Experience112 zu verstehen solltest du alles, was du über Adventures weißt, vergessen und neu anfangen. Im Introfilm schwenkt die Kamera über Klippen und malerische Küsten, um schließlich ein altes, verfallenes Schiff zu zeigen, das gestrandet ist. Wenn das Spiel beginnt finden Spieler sich in der Kontrollzentrale des Schiffes wieder, in der sich höchst fortschrittliche Kontrolltafeln und Überwachungsmonitore befinden. Der Spieler besitzt keine Repräsentation auf dem Bildschirm, was aber nicht bedeutet, dass es ein First-Person-Spiel wäre. Stattdessen siehst du auf einem der Monitore eine Frau, die in einer der Kabinen erwacht. Die intravenösen Röhren in ihren Armen machen deutlich, dass sie krank ist. Du siehst, wie sie einen Brief liest und anschließend einen verzweifelten Versuch startet, den abgeschlossenen Raum zu verlassen. Hilflos aber eindeutig nicht allein braucht sie deine Hilfe, um aus ihrem Gefängnis zu entkommen. Und so beginnt das Abenteuer, dass du durch sie erlebst, ohne deine Position zu verändern.

Da du dich nicht bewegen kannst, steht dir lediglich ein Arsenal fortschrittlicher Technologie zur Verfügung. Indem du das Überwachungssystem mit einem einfachen Point & Click System bedienst (wobei für bestimmte Aufgaben auch direkte Kontrolle möglich ist) und die verschiedenen Möglichkeiten des System strategisch einsetzt, kannst du der Frau, die sich bald als Professor Lea Nichols entpuppt, dabei helfen, die Hürden der Umgebung zu meistern. Leider hast du dabei keine Möglichkeit, verbal mit ihr in Kontakt zu treten, dein Einfluss beschränkt sich also auf subtilere Dinge. Manchmal heißt das, Türen zu öffnen oder zu schließen, Gashähne zu betätigen, das Licht ein- und auszuschalten oder ein Telefon klingeln zu lassen. Andere Male musst du direkteren Einfluss nehmen und zum Beispiel Wasser, Luft, Temperatur und Strom kontrollieren oder Feinde ablenken, von denen sie vielleicht sogar noch nicht mal weiß.

Als Leas erweiterte Augen und Ohren musst du ständig ihren Pfad auf Gefahren absuchen. Das Kamerasystem ermöglicht es, denselben Ort aus mehreren Perspektiven zu beobachten, zum Beispiel eine verschlossene Tür von beiden Seiten, oder verschiedene Räume im Blick zu behalten. Die Kameras können frei schwenken und zoomen, sodass du die Räumlichkeiten genau absuchen und sogar Lippen lesen kannst. Du musst allerdings auch Lichverstärker, Wärmekameras, Hitzedetektoren und sogar mobile Kameras auf fernsteuerbaren Wagen benutzen, um die Umgebung vollständig zu erkunden. Dies sind nicht bloß Gimmicks, sie sind wichtige Bestandteile des Spiels. Wenn du beispielsweise eine strukturelle Schwäche im Fußboden übersiehst kann das fatale Folgen haben.

Glücklicherweise bedeutet das nicht "Game Over". Die Entwickler sind der Meinung, dass es dem Spieler die Illusion nehmen würde, wenn man Lea sterben und dann wieder auferstehen lassen würde. Ihr Ziel ist es also, Konsequenzen zu schaffen, die der Spieler auf natürliche Weise überwinden kann. Lea kann zum Beispiel bewusstlos werden oder sich verletzen. Dann ist dein oberstes Ziel, sie wiederherzustellen. Das stellt einen nahtlosen Fluss in der Geschichte her und sollte Spieler ermutigen herumzuexperimentieren, anstatt sie für Fehler zu bestrafen.

Und als wenn das noch nicht schwer genug wäre kommt noch eine weitere Ebene der Herausforderung hinzu, Leas Unabhängigkeit. Obwohl sie auf dich angewiesen ist, weiß sie nicht, wer du bist und sie hat ihre eigenen Angewohnheiten, Eigenheiten und Ängste und wird dir nicht unbedingt blind folgen. Du musst also ihre Reaktionen beobachten, ihre Entscheidungen vorausahnen und vor allem ihr Vertrauen gewinnen. Ohne dieses Vertrauen wird sie häufiger zögern, dir zu folgen oder Informationen herauszugeben und ihre eigenen Entscheidungen treffen. Sie in gefährliche Situationen zu bringen ist ein Weg, dieses Vertrauen zu gefährden, laut Kemal wird es aber auch andere geben. In einem Fall fragt Lea nach Privatsphäre, um ihre Kleidung zu wechseln. Respektierst du ihre Bitte wird sie dir eher glauben als wenn du sie beobachtest.

Trotz der Rätsel- und A.I.-Aspekte wird es auch eine starke erzählerische Komponente im Spiel geben. Deine eigene Identität ist zu Beginn sowohl dir als auch Lea unbekannt. Später wird dann durch gelegentliche Rückblenden deutlich, dass der Spielercharakter und Lea sich kennen. So kommen zwei Fragen auf: was haben die beiden miteinander zu tun und wieso hat der Spieler solche Big-Brother-Mächte über ihre Umgebung? Um diese Fragen zu klären ist das Intranet des Schiffes wichtig. Darin erhält man Zugriff auf geheime Akten, E-Mails, Videobotschaften und andere Dokumente, die bis zurück in die 70er reichen und Aufschluss darüber geben, was dich in die ungewöhnliche Situation gebracht hat. Als zusätzlichen Bonus bietet das Spiel durch diese Akten optionale Aufgaben an. Diese sind absolut freiwillig zu erledigen, bieten aber tiefere Einsicht in die Welt von Experience112.

Wie jedes besonders innovative Spiel wird der Erfolg eines so faszinierenden Konzeptes stark von der Qualität seiner Ausführung abhängen. Das Potenzial eines herausfordernden, komplexen Spiels kann schnell verpuffen, wenn es frustrierend kompliziert ist. Lexis Numérique ist aber kein Neuling auf dem Gebiet kniffliger Konzepte und ihre Erfahrung sollte ihnen bei der Entwicklung behilflich sein.

Experience112 wird im ersten Quartal 2007 von Micro Application in Frankreich veröffentlicht, mit amerikanischen Publishern wird gerade gesprochen. In der Zwischenzeit werden wir das Spiel als eines der vielversprechensten am Horizont feiern bis jemand den Vertrag für Nordamerika unterschreibt, selbst wenn es nur ist, um uns ruhigzustellen. Experience112 ist nicht die "Zukunft der Adventures" oder Ähnliches, nur eine mutige und brillante Idee, die uns an die Vielfalt erinnert, zu der das Genre fähig ist. Und die ist etwas, über das sich jeder Adventure-Fan freuen sollte.

Sieht gut aus