Lange war es still um Gray Matter. Nach der Pressekonferenz im vergangenen August, auf der Jane Jensen zusammen mit dem neuen Publisher dtp die ersten Konzepte ihres neuen Adventures vorgestellt hatte, gab es kaum etwas zu berichten. Der ungarische Entwickler Tonuzaba blieb eine große Unbekannte. Jetzt war Designerin Jane Jensen persönlich in Hamburg, um den ersten Pressevertretern eine frühe spielbare Version zu präsentieren.
Erste Schritte
Nach dem Intro übernimmt der Spieler die Rolle von Samantha "Sam" Everett, die mit ihrem Motorrad quer durch Europa gezogen ist, wobei sie als Straßenkünstlerin ihrer Passion, der Zauberei, nachging. Dass sie zu Spielbeginn zufällig im Herrenhaus des Neurobiologen Dr. David Styles landet, eine umgebaute Klinik in den Wäldern vor Oxford, kommt der rastlosen Bikerin ganz gelegen. Styles sucht nämlich gerade eine Assistentin und da der Job für ein paar Wochen eine warme Bleibe und ein Gehalt verspricht, gibt sich Sam als Oxforder Studentin aus und nimmt das Angebot an. Dass sie nicht weiß, was ihr neuer Chef, den sie bisher nicht einmal zu Gesicht bekommen hat, in den düsteren Kellerlabors treibt, stört sie angesichts der feudalen Unterkunft weniger. Jane Jensen will das Spiel einem möglichst breiten Publikum schmackhaft machen. Als Mitgründerin von Oberon Games, wo sie Casual Games für Gelegenheitsspieler entwickelt und vertrieben hat, konnte sie in diesem Bereich ausgiebig Erfahrung sammeln. Immerhin durfte Oberon Windows Vista mit Spielen ausstatten. Erstes sichtbares Zeichen für Jensens Vorhaben ist das Tutorial, das Adventure-Grünlinge sanft in die Point-&-Click-Bedienung einführt. Wer nicht Klick für Klick erklärt bekommen möchte, wie er das erste Rätsel zu lösen hat, kann das Tutorial natürlich auch abschalten. Schwierig ist die Bedienung jedenfalls nicht: Während die eine Maustaste stets für "Untersuchen" steht, führt die andere eine kontextabhängige Interaktion aus - also "Nehmen", "Drücken" oder "Reden".
Le Serpent Douce
Schon kurz nach dem Einführungsrätsel bekommt Sam von Dr. Styles ihren ersten Auftrag. Genauer gesagt hat Styles einen Zettel hinterlassen, der Sam dazu auffordert, in der Stadt sechs Studenten für sein nächstes Experiment zu rekrutieren. Die erste persönliche Begegnung mit dem geheimnisvollen Wissenschaftler muss also weiter auf sich warten lassen. Das Finden von Freiwilligen, die sich für 15 Pfund einem nicht näher spezifizierten wissenschaftlichen Experiment unterziehen, gestaltet sich dann schwieriger, als Sam sich das vorgestellt hat. Spätestens wenn der Name David Styles fällt verlieren die Befragten schlagartig das Interesse. Ein Glück, dass ganz in der Nähe ein Treffen von Erstsemesterstudenten stattfindet, die gerade erst in die Stadt gezogen sind... Doch das erste der insgesamt acht Kapitel hat mehr zu bieten als das Überzeugen von sechs Freshman mit adventuretypischen Methoden. In einem Zauberladen gerät Sam auf die Spur einer Schnitzeljagd quer durch Oxford, die ein Verein namens Daedalus Club veranstaltet. Und wenn man anfängt, kryptisch verfasste Textpassagen zu interpretieren, den verschiedenen Colleges ihre Wappen zuzuordnen und in real existierenden Schauplätzen auf die Jagd nach dem nächsten Hinweis zu gehen, dann ist es wieder da, das gute alte Gabriel-Knight-Gefühl. Man muss allerdings davon ausgehen, dass der Schwierigkeitsgrad erheblich unter Jane Jensens Vorzeige-Trilogie liegt. Die teils unanständig knackigen Sierra-Klassiker sind mit dem ins Auge gefassten breiten Publikum nicht kompatibel. Dementsprechend wird man auch Sterbeszenen und Geschicklichkeitseinlagen vergeblich suchen.
Simsalasam
Sam Everett ist nicht einfach nur so Magierin, ihr Hintergrund hat auch Auswirkungen auf das Gameplay. Neben Zauberutensilien trägt die 26-Jährige auch ein Zauberbuch bei sich, in dem sie diverse Tricks nachschlagen und auch durchführen kann. Dazu muss sie die Beschreibung aus dem Buch in einen "Algorithmus" übersetzen, den sie dann auf Kommando ausführt. Das funktioniert, indem der Spieler drei Spalten ausfüllt, eine für die Aktion, eine für das Objekt und eine für den Ort. Mit der richtigen Folge von Anweisungen Marke "Ziehe Kartenspiel aus linker Ärmel" oder "Verberge Kassette in rechter Hand" können andere Figuren dann ausgetrickst werden. Auch hier wird deutlich, was eine Autorin wie Jane Jensen Wert ist. Selbst bei solchen Nebenschauplätzen schreibt die Spieldesignerin nicht bloß ins Blaue, sondern lässt ihrer Arbeit ausgiebige Recherchen vorausgehen. Vom Vokabular im Zauberbuch über den Ablauf der Tricks bis hin zu dem Typ ihres Kartenspiels, ein rotes Bicycle-Deck, passt alles hervorragend in die reale Welt der Magierzunft.
And 12 points go to...
Mit den Gelegenheitsspielern im Kopf hat Jensen zudem ein Relikt der Vergangenheit reaktiviert, dem die deutschen Entwicklerkollegen noch vor wenigen Wochen eine Absage erteilten: Das Punktesystem. Statt wie zur guten alten Sierra-Zeit ein globales "5 von 3333 Punkten" einzublenden, gibt es kapitelweise Fortschrittsbalken zu zusammengehörigen Rätselgruppen. So kann man mit einem Klick jederzeit sehen, wie weit das Rekrutieren der Studenten oder die Schnitzeljagd abgeschlossen sind - fehlt einem Balken noch etwas zur vollständigen Füllung ist auch klar, in welchem Bereich noch etwas zu erledigen ist.
Watson, ich musiziere
Mit der Veröffentlichung der ersten Screenshots dürfte auch klar sein, dass Tonuzaba sein Handwerk versteht und für Gray Matter zumindest eine schicke Optik spendiert. Andere fertige Szenen aus der Präsentationsversion sahen ebenfalls sehr detailliert und stimmig aus, Sam Everett war dank dynamischer Beleuchtung, Antialiasing und einem bereits jetzt gelungenen Schattenwurf gut in die Hintergründe integriert. Während im Dread Hill House, dem Anwesen von Dr. Styles, noch ein bisschen mehr Bewegung in die Bilder darf, gab es außen schon fliegende Vögel, über den Himmel ziehende Wolkendecken und einen sich im Wind wiegenden Baum zu sehen. Musikalisch wird Gray Matter mit einer Wahrscheinlichkeit von "fast 100%" von Jane Jensens Ehemann Robert Holmes untermalt, der schon für sämtliche Gabriel-Knight-Teile komponierte. Ein Vertrag ist offenbar noch nicht unterschrieben, bei derartigen Äußerungen ist aber davon auszugehen, dass das nicht mehr lange dauert. Selbst das Platzhalter-Stück von Holmes, das in die aktuelle Version eingesetzt wurde, kann schon jede Menge Atmosphäre erzeugen.
Hohes Potenzial
Jane Jensen ist zurück. Zwei charismatische Hauptfiguren fernab flacher Klischees, eine tiefgehende Story zwischen Wissenschaft und Spiritualität samt philosophischer Anklänge, geheimnisvolle Rätsel aus alten Zeiten in reale wie fiktive Schauplätze rund um das historische Oxford eingebettet. Wer da nicht an Gabriel Knight denkt, der hat die Spiele wohl nicht gespielt. Trotzdem wirkt Gray Matter nicht wie ein Abklatsch von Jensens früherer Arbeit, zu viele neue Ideen und Einflüsse, zu unterschiedliche Charaktere bringt ihr neuestes Werk mit. Jane Jensen ist aber noch nicht am Ziel. Vom großen Potenzial ihres aktuellen Titels konnte sie uns überzeugen, doch ist es noch ein weiter Weg bis zur fertigen Version. Selbst im ersten Kapitel bestanden viele Locations noch aus großen grauen Dummy-Blöcken, Charakter-Animationen kannte bisher nur Sam und in die fertigen Hintergründe, gerade im Dread Hill House, darf auch gerne mehr Bewegung. Deswegen, liebe Verantwortliche bei dtp, erzwingt nicht den geplanten Release im 1. Quartal 2008. Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht, und macht dieses Spiel so gut, wie es sein kann. Macht eine anständige Übersetzung, testet es gründlich, feilt es rund. Jane Jensen hat das verdient und wir, die Spieler, haben das auch verdient.
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