299]Bereits zum dritten Mal war "Overclocked", das neue Spiel von House of Tales, auf der Games Convention vertreten. Da der Veröffentlichungstermin am 12. Oktober bereits kurz vor der Tür steht, wird es wohl auch das letzte Mal gewesen sein. Wir haben die Gelegenheit genutzt, das bereits sehr weit fortgeschrittene Spiel für einen Ersteindruck anzutesten. Können House of Tales und Martin Ganteföhr die hohe Erzählkunst, die sie bereits bei "The Moment of Silence" für sich beanspruchten, erneut erreichen?
The Moment of Overclocked
In den ersten Minuten erscheint "Overclocked" fast wie eine Fortsetzung von "The Moment of Silence", so sehr ähneln sich Atmosphäre und Eingangsstimmung, die Persönlichkeit des Hauptcharakters und generell das Spielgefühl. Wieder versetzt es den Spieler nach New York, das wohl einen besonderen Platz in Ganteföhrs Herz einnimmt, und wieder ist die Stimmung dunkel und unterschwellig bedrohlich. Zwar spielt die Handlung von "Overclocked" nicht in einer nahe gelegenen, aber durchaus plausiblen Zukunft wie "The Moment of Silence", trotzdem ist man manchmal versucht, Peter Wright an der nächsten Straßenecke oder am Eingang zum Central Park wiederzuerkennen.
McNamara, übernehmen Sie!
Das New York von "Overclocked" ist mal wieder kein sehr einladender Ort - seit Tagen tobt ein unerklärlicher Sturm über der Stadt, die niemals schläft, Regen prasselt scheinbar ohne Unterlass auf die Häupter der New Yorker. Fast könnte man meinen, der Weltuntergang stehe kurz bevor. Dafür hat Dave McNamara aber erst mal nichts übrig, er ist mit anderen Problemen beschäftigt. Der ehemalige Army-Psychiater hat eine persönliche Ehekrise zu überstehen und wird just zu diesem Zeitpunkt aus seiner Heimat Washington von der Regierung nach New York beordert, um fünf rätselhafte Fälle zu untersuchen, bei denen scheinbar völlig unbescholtene Jugendliche verstört, traumatisiert und mit einer Pistole bewaffnet auf der Straße aufgegriffen wurden, ohne sich auch nur an das Geringste erinnern zu können. Handelt es sich um Einzelfälle oder gibt es einen größeren Zusammenhang zwischen diesen Patienten? Und welche Rolle spielt der Psychiater selbst in dieser ganzen Geschichte? Overclocked fesselt von der ersten Sekunde an. Die rätselhaften Geschehnisse und die bedauernswerten jungen Gestalten, die wir untersuchen sollen, die beklemmende Enge einer heruntergekommenen psychiatrischen Anstalt, die eigenen Probleme und Unzulänglichkeiten der Hauptfigur - all das wurde sehr überzeugend in Szene gesetzt und zieht einen fast automatisch in den Bann, selbst bei dem dafür nicht gerade geeigneten Lärmpegel der Games Convention. Der Spannungsbogen wird gleich zu Beginn geschickt angezogen. Der gewagte, aber gut funktionierende Kniff, die Geschichte von fünf Einzelpersonen chronologisch rückwärts nachzuerzählen und nachzuspielen, funktioniert beeindruckend gut, zumindest in den Teilen, die wir antesten konnten. Es bleibt zu hoffen, dass sich dies durch das ganze Spiel zieht. Die erste Aufgabe, die völlig verstörten jungen Menschen zum Reden zu bringen, erweist sich jedenfalls schon als recht herausfordernd, und das mysteriöse Krankenhaus und der die Untersuchung leitende Polizeiinspektor scheinen auch nicht wirklich zu helfen...
Grafisch auf der Höhe der Zeit (?)
292]Technisch gesehen ist der neue Titel der deutschen Spieleschmiede eine konsequente Weiterentwicklung der "2,5D-Philosophie" von "The Moment of Silence". 3D-animierte Figuren bewegen sich vor vorgerenderten Hintergründen, die durch ein paar geschickte Spielereien aber nicht nur sehr schön animiert, sondern auch manchmal wirklich wie eine echte 3D-Welt wirken. Kamerafahrten, paralleles Scrolling und schöne Spiegel- und Schatteneffekte wissen zu überzeugen, alles sieht ein bisschen besser aus als beim "Vorgänger". Nur das trostlose, vom Rost zerfressene und abgewrackte Aussehen der meisten Orte könnte mit der Zeit etwas eintönig werden. Dafür werden Gespräche kinoreif mit Kamerafahrten, Perspektivwechseln oder geteilten Bildschirmen inszeniert. Die Sprachaufnahmen machten ebenfalls einen sehr professionellen Eindruck, was bei einer Spielstruktur, bei der nur sehr wenige Charaktere, diese dafür aber umso intensiver, vorkommen werden, besonders wichtig ist.
Überdreht oder gerade richtig?
Einen ersten Eindruck konnten wir uns auch von Steuerung und Rätseldesign machen. Bei allen Lorbeeren, die House of Tales mit seinem letzten Werk einheimsen konnte, war die Steuerung meistens ein Punkt der Kritik. Die Entwickler scheinen aber ihre Lehren gezogen zu haben, so entfallen die langen Laufstrecken dieses Mal fast komplett. Mit geschickten Wechseln der Perspektive verrennt man sich als Spieler nicht mehr so leicht und durch einen Doppelklick gelangt man sofort zur nächsten Szene. So lässt sich ein Ortswechsel von McNamaras Hotel zur psychiatrischen Anstalt auf Staten Island in wenigen Augenblicken vollziehen. Bei den Rätseln scheint ein Schwerpunkt auf den Dialogen zu liegen, aber auch klassische Rätsel galt es bereits am Anfang zu lösen. Da man im gesamten Spielverlauf sechs unterschiedliche Charaktere steuert, sollten wohl auch die entsprechenden Aufgaben recht unterschiedlich ausfallen, dazu kann aber erst der ausführliche Test befriedigend Auskunft geben. Leider haben sich auch ein paar kleine Fehler im Spieldesign eingeschlichen, die zwar nicht sonderlich stören, aber eben durch die Tatsache, dass sie eigentlich leicht hätten vermieden werden können, etwas irritieren. So will sich Dave am Ende des ersten Ermittlungstages noch nicht hinlegen, weil er noch ein paar Drinks zu sich nehmen möchte, um die sich überschlagenden Ereignisse des ersten Tages verarbeiten zu können. So weit, so gut. Zum Glück gibt es da diese Bar gleich neben dem Hotel, die wir auch ohne Umwege aufsuchen. An den gewünschten Whiskey kommt man aber nicht, indem man einfach auf die an der Bar befindlichen Whiskeygläser klickt. Auch ein Klick auf den Barkeeper eröffnet nicht das gewünschte Gespräch. Das beginnt erst, nachdem man - durch einiges Suchen oder die Hotspot-Anzeige - den Hotspot für den Barstuhl gefunden hat. Erst jetzt setzt sich Dave auf den Hocker und bestellt einen Drink. Leider ist er auch nach einigen Gläsern Whiskey nicht bereit, sich endlich aufs Ohr zu legen, was der vorherige Hinweis, sich nicht hinlegen zu wollen, ohne noch was zu trinken, eigentlich nahe gelegt hatte. Es bleibt abzuwarten, ob diese kleineren Unzulänglichkeiten die Ausnahme bleiben oder nicht. Eine andere Macke betrifft die Dialoge: Die lassen sich zwar als Ganzes abbrechen, einzelne Zeilen darf man aber nicht überspringen. So riskieren ungeduldige Escape-Drücker, wichtige Informationen zu verpassen.
Die Spannung steigt
Mit "Overclocked" will House of Tales noch mehr in die Tiefe gehen als mit "The Moment of Silence". Die Reise in die Persönlichkeit und Erinnerungen von gleich sechs Charakteren, die Frage nach der Gewalt und der Umgang mit ihr, die sich in unserer Gesellschaft jeder Tag für Tag aufs neue stellen muss, verspricht ein packendes Erlebnis zu werden, das zwar kürzer unterhalten soll als das sehr groß angelegte "The Moment of Silence", aber dafür umso intensiver. Wenn die Geschichte das ganze Spiel über so fesselnd bleibt und das grafisch hohe Niveau auch rätseltechnisch gehalten wird, haben House of Tales und Publisher dtp wieder ein ganz heißes Eisen im Feuer, auf das sich alle Fans erwachsener Adventures freuen können.
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