Heavy Rain ist anders. Es passt in keine Schublade, außer vielleicht in den Beutel, in dem Fahrenheit liegt, der an den Schrank gehängt wurde, in dessen Schubladen die interaktiven Filme verstauben. Lange ließe sich darüber diskutieren, ob Heavy Rain ein Adventure ist, und ob wir auf Adventure-Treff.de darüber schreiben sollten, doch wäre die Diskussion ergebnislos, Diskutanten fingen an, sich gegenseitig zu beleidigen, unpassende Vergleiche würden gezogen werden und etliche „so jemand wie du kann sich nicht Adventurefan nennen“s und „wer so was sagt, ist doof“s später müsste wohl irgendjemand den Thread schließen. Deswegen wollen wir an dieser Stelle gar nicht versuchen, den Playstation-3-exklusiven Quantic-Dream-Titel ins Adventuregeschirr zu zwängen, sondern einfach darüber berichten, was wir auf der gamescom gesehen haben. Und das war auf seine Weise beeindruckend.
Tragische Prämisse
Rund 45 Minuten haben David Cage und Guillaume de Fondamière, die beiden Chefs von Fahrenheit-Entwickler Quantic Dream, uns eine Szene aus Heavy Rain vorgespielt und kommentiert. Darin steuert man den vierten spielbaren Charakter, der der internationalen Presse präsentiert wurde: Ethan Mars. Zwei Jahre vor den Ereignissen in Heavy Rain: Ethan ist ein erfolgreicher Architekt und besucht mit seinen beiden Söhnen ein Einkaufszentrum. Einen der beiden verliert er aus den Augen und kurze Zeit später muss er mit ansehen, wie der verlorene Filius in einen Autounfall verwickelt wird und stirbt. Seit dem traumatischen Ereignis plagen Ethan Schuldgefühle, seine Emotionen sind zum Stillstand gekommen und die Beziehung zu seinem verbliebenen Sohn ist tief unterkühlt.
Solang du deine Füße...
Der Spieler schlüpft in die Rolle von Ethan nicht in einer besonderen Situation, nicht an einem spannenden, außergewöhnlichen Tag, sondern an einem ganz normalen Nachmittag. Sohnemann ist von der Schule nach Hause gekommen und sitzt nun im Esszimmer. Ethan darf man währenddessen durch das gesamte Haus steuern. An der Wand hängt eine Uhr, die sich genauso schnell bewegt wie die Uhr neben dem Fernseher. Die Szene läuft nämlich, wie einige andere im Spiel auch, in Echtzeit ab. Wartet man einfach nur ab, entfaltet der Sohn sein Eigenleben, geht auf Toilette, macht sich etwas zu essen, und legt sich, wenn man sehr lange wartet, irgendwann ins Bett. Nur bei Schlüsselereignissen macht die Zeit einen Sprung. Der Spieler kann sich nun in Ruhe umschauen und bekommt immer wieder die Wahl, etwas zu tun, oder es zu lassen. Der Sohn muss seine Hausaufgaben machen: Hilft Ethan ihm dabei, ermahnt er ihn zur Disziplin, oder ignoriert er ihn? Der Sohn hat Hunger: Macht Ethan ihm etwas zu essen oder wartet er so lange, bis der Nachwuchs sich selber in der Küche zu schaffen macht? Darf er fernsehen oder nicht? Ethan kann in den Garten gehen und ein paar Bälle im Basketballkorb versenken, müssen tut er das aber nicht. Genauso kann er eine Runde mit den bereitliegenden Bällen jonglieren, wenn der Spieler Lust dazu hat.
Ich will so spielen, wie ich bin
Auf diese Weise war die gesamte Szene voller Optionen. Alles kann, nichts muss. Die Konsequenzen des eigenen Handelns respektive Nichthandelns sind a priori unbekannt – genau wie im richtigen Leben. David Cage unterscheidet zwischen drei verschiedenen Typen von Folgen: Keine Konsequenzen, szenenrelevante Konsequenzen und globale Konsequenzen. Während szenenrelevante Konsequenzen nur einen Einfluss auf das aktuelle Kapitel haben, hat der letzte Typ Einfluss auf die alles überspannende Rahmenhandlung. Die Szene, die wir gespielt haben, kann auf verschiedene Arten ausgehen. Waren wir freundlich und hilfsbereit, entspannt sich das Verhältnis zwischen Ethan und seinem Sohn und letzterer hat ein paar versöhnliche Worte übrig, bevor er einschläft. Andernfalls kühlt das Verhältnis weiter ab. Auch wenn das erste Ende zunächst zufriedenstellender erscheinen mag, gibt es hier kein richtig oder falsch. Der Spieler agiert gleichzeitig als Hauptdarsteller und Regisseur, und wenn das Kapitel frostig endet, ist so eben die Geschichte, die der Spieler durch sein Handeln erzählt. Dasselbe gilt, wenn Hauptfiguren sterben. Insgesamt vier gibt es davon, und jede einzelne kann im Laufe des Spiels dahinscheiden. Doch selbst wenn alle vier den Weg alles Irdischen gehen, nennen die Entwickler dies nicht „Game Over“. Vielmehr hat man eine Geschichte erzählt, die auf diese Weise eben endet – beim nächsten Mal erzählt man vielleicht eine Geschichte, die anders endet.
Die Spaßfrage
Die Frage, die sich nun unmittelbar stellt: Macht es Spaß, durch's Haus zu laufen und seinem Sohn dabei zuzusehen, wie er sich etwas zu essen holt? Darauf möchte man zwei Antworten geben. Die eine lautet: Nein. Die gespielte Szene enthält praktisch kein Spiel. Sie ist zwar sehr interaktiv in dem Sinne, dass man stets entscheiden kann, was als Nächstes passiert und man sich frei bewegen kann. Geschicklichkeit, Intelligenz, strategisches Denken oder andere konkrete Fähigkeiten werden allerdings nicht benötigt. Nicht mal eine der aus Fahrenheit bekannten QT-Szenen, in denen schnell hintereinanderfolgend Tasten gedrückt werden müssen, taucht hier auf. Und trotzdem gibt es eine zweite Antwort auf die Frage. Denn auch wenn die Szene spielerisch sehr mager ist, weiß Heavy Rain trotz fehlender Dramatik zu faszinieren. Die erschütternde Vergangenheit des Ethan Mars, das stoische Verhalten gegenüber seinem Sohn, die Gebrochenheit des Charakters – kein anderes Spiel könnte all das so perfekt in Szene setzen wie Heavy Rain. Eine Großaufnahme des nahezu fotorealistischen Gesichtes beeindruckt schon als Standbild. In Bewegung können die 3D-Figuren durch extrem subtile Mimik, leichtes Zucken einer Wimper oder die minimale Kontraktion der Wangenmuskeln tiefschürfende Emotionen glaubhaft vermitteln.
Viel hilft viel
Hier macht sich auch das große Budget von Heavy Rain bemerkbar, das wohl dutzendfach teurer war als selbst die teuersten klassischen Adventures der letzten Jahre. Die Modelle sind so detailreich, dass selbst dann, wenn sich das halbe Gesicht eines Charakters in voller Breite über den HD-Monitor erstreckt, kaum Schwächen erkennbar sind. Uncanny Valley hin oder her, so hat man 3D-Figuren noch nicht agieren sehen – erst recht nicht als Adventurespieler. Um das zu erreichen, hat Quantic Dream enormen Aufwand betrieben. Mit dem hauseigenen Motion-Capturing-Studio wurden nicht nur, wie üblich, die Bewegungen von echten Darstellern auf 3D-Skelette übertragen. Hier wurden komplette Schauspieler digitalisiert, vom Aussehen über die Bewegungen bis hin zu den Stimmen und den feinsten Gesichtsbewegungen. Zum Beweis dieser Technik hatte Sony Pascal Langdale eingeflogen, den britischen Schauspieler, der Ethan Mars im Spiel verkörpert. Die Ähnlichkeit zwischen Vorbild und Heavy-Rain-Figur ist tatsächlich beeindruckend.
Ein Blick in die Zukunft?
Ein Punkt, der David Cage am Herzen lag, ist der, dass nicht jede Szene so sein wird wie die in Köln präsentierte. Verschiedene Szenen sollen einen sehr unterschiedlichen Spielfluss erzeugen, mal hochdramatisch und mal ruhig, mal nachdenklich und mal fröhlich. Reaktionsfordernde QT-Szenen soll es eher selten, im Vordergrund stehen die Geschichte und die Figuren. Rätsel kommen nicht vor, Guillaume de Fondamière hat es als „wir mögen keine Rätsel“ in unser (leider ausgeschaltetes) Mikro gesagt. David Cage mag sogar nicht mal von einem Videospiel reden – die seien Spielzeug für Kinder und Erwachsene, während Heavy Rain eher ein Entertainmentprodukt sei. Ein Wort für seine Kreation, die sich zwischen Spiel und Film bewegt, hat er auch nicht parat, deswegen will er vermitteln, was Heavy Rain ist, anstatt es mit Begriffen zu klassifizieren. Klare Sache, David Cage will anders sein. Und das scheint ihm zu gelingen. Wer ein Spiel haben will, oder gar ein Spiel mit Rätseln, kann Heavy Rain getrost von seinem Wunschzettel streichen. Wer sich aber an den Gedanken eines Films zum Mitspielen gewöhnen kann, darf mit Heavy Rain an einem Big-Budget-Experiment teilnehmen, das aufzeigen will, wie interaktive Unterhaltungsprodukte in Zukunft aussehen. So dünn das Gameplay auch sein wird, schon jetzt scheint festzustehen: Heavy Rain wird kein Titel, den man gleich wieder vergisst.
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