Vorschau

von  Jan "DasJan" Schneider
13.05.2010
Gray Matter
/images/layout/video.jpgViele Publisher und Entwickler nutzen die alljährliche Spielmesse in Deutschland, ob sie nun Games Convention oder gamescom heißt, um ihre neuen Adventures einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Hin und wieder fahren wir auch quer durch die Republik, um uns Neuheiten direkt beim Hersteller anzusehen, doch was dtp für Gray Matter organisiert hat, war schon ungewöhnlich. Zusammen mit über 10 weiteren Journalisten waren wir zu einem PR-Event in Oxford eingeladen, bei dem nicht nur eine spielbare Version des Jane-Jensen-Titels gezeigt wurde, sondern auch eine Stadtführung, ein Barbesuch und die Übernachtung in einem stilvollen Manor auf dem Plan standen. Was in publikumswirksameren Genres gang und gäbe ist, ist in der von niedrigen Budgets geschlagenen Adventurewelt eine Seltenheit und zeigt, dass der Hamburger Publisher hier nicht mit möglichst wenig Aufwand ein Produkt in die Regale stellen will, wie man zuletzt bei 15 Days und Ghost Pirates of Vooju Island den Eindruck haben musste, sondern dass man dort von Gray Matter überzeugt ist und alles tut, um aus dem Spiel einen Erfolg zu machen.
Was wir in der britischen Universitätsstadt alles erlebt haben, war bereits in unserem leicht abseitigen Kisscast (auch bei iTunes) zu hören, deswegen soll es an dieser Stelle primär um das eigentliche Objekt der Begierde gehen: Gray Matter.

Von schlechten Landkarten und moralisch einwandfreien Nebenjobs

Sehen konnten wir bei der Präsentation hauptsächlich das erste Kapitel, aber auch einige Szenen aus Kapitel 2. Das Spiel beginnt damit, dass Studentin und Straßenzauberin Samantha „Sam“ Everett, die als Mix aus nonkonformistischem Goth-Mädel und einer unaufdringlicheren Version von David Blaine in einer regnerischen Nacht vom Weg abkommt und irgendwo im Nirgendwo vor einem luxuriösen Herrenhaus strandet. Dort quartiert sie sich mit Zustimmung der freundlichen Haushälterin zunächst für die Nacht ein, um angesichts ihrer Geldnot anschließend beim Hausherren anzuheuern – ohne ihn auch nur einmal persönlich getroffen zu haben.
Wie sich herausstellt, befindet sich Sam in der Nähe von Oxford und der Hausherr ist Neurobiologe Dr. David Styles, der sich mit der Funktionsweise des menschlichen Gehirns auseinandersetzt. Sams Einstiegsaufgabe ist es, unter den in Oxford zahlreich herumlaufenden Studenten sechs Versuchskaninchen zu finden, die sich bereiterklären, an Styles' Experimenten teilzunehmen. Mit verschiedenen Mitteln müssen nun also diverse Figuren davon überzeugt werden, sich in das leicht gruselige Dread Hill House zu begeben, um sich dort an wissenschaftlich anmutende Gerätschaften anschließen zu lassen.





Gewisse Ähnlichkeiten zwischen unserem Domizil und dem Dread Hill House
sind nicht von der Hand zu weisen.

Doch Sam erlebt schon im ersten Kapitel weit mehr. So wird sie in der Innenstadt auf einen Zauberladen aufmerksam, der natürlich ihr Interesse weckt. Ist der Ladenbesitzer erst mal von Sams magischem Talent überzeugt und eine ungewöhnliche Slotmaschine zur Mitarbeit bewegt, findet unsere Heroine einen Zettel mit rätselhaften Versen. Dies ist der Anfang einer Schnitzeljagd, bei der Sam an einigen Stationen in der geschichtsträchtigen Stadt Objekte und Hinweise findet, die jeweils den Weg zur nächsten Station weisen. Was es mit der Schnitzeljagd genau auf sich hat, ist noch nicht klar, wer aber schon Indiana Jones gerne beim Ausknobeln von Hinweisen zugesehen hat oder Spaß daran hatte, wie Nicholas Cage quer durch Washington D.C. jagt, der wird an dem Gemenge aus historischen Häppchen und munterer Rätselkette ebenfalls Freude finden.

Keine halben Sachen

584]Überhaupt treten schon in Kapitel 1 deutlich die Qualitäten zutage, mit denen Jane Jensen auch ihre Gabriel-Knight-Reihe zu ewigen Genreklassikern gemacht hat. Von Anfang an wirkt alles, was in Gray Matter thematisiert wird, außergewöhnlich gut recherchiert. Wo andere den Wikipedia-Artikel zu Oxford überflogen und ein paar Rätsel dazugedichtet hätten, überzeugt dieser Titel auch in den Details. Das beginnt schon bei den Zauberaccessoires: Statt irgendeinem Kartenspiel führt Sam ein Bicycle-Spiel mit, wie unter Zauberern üblich, und die Anleitungen in ihrer Magierfibel sind nicht einfach so dahingeschrieben, sondern benutzen präzise den Sprachstil und das Vokabular, wie man es in Anleitungen für echte Zauberkünstler finden würde. Auch die komplexe Hirnforschungs-Thematik wirkt, als hätte sich die Autorin hier gründlich eingelesen und die Stadt Oxford kennt sie laut dtp aus vielen privaten Europareisen – was nach unseren ersten Gehversuchen in der Welt von Gray Matter glaubwürdig scheint.
Auch bei der Geschichte, die Gray Matter erzählt, machen wir uns keine Sorgen. Zwar implizieren namhafte Autoren nicht unbedingt eine bemerkenswerte Story und die Ausschnitte, die wir in der Presseversion gesehen haben, ergeben noch kein umfassendes Bild, doch gibt es keinen Grund zu glauben, dass dtp auch diesen Titel mataharit. Die Prämisse ist spannend, die gezeigten Storysequenzen überzeugend und Jane Jensen zu sehr in die PR-Maßnahmen involviert, als dass sie grundsätzliche Zweifel an ihrem Werk haben könnte. Wir bleiben trotzdem gespannt, wie sich die Spannung zwischen wissenschaftlicher Thematik und übernatürlichen Elementen entlädt bzw. wohin sich die Geschichte in späteren Kapiteln entwickelt.

Infokasten

Gray Matter auf der Xbox 360

Es war ein offenes Geheimnis, dass Gray Matter auch für die Xbox 360 entwickelt wird, in Oxford folgte schließlich die offizielle Bekanntmachung. Sogleich wurden auch Spielszenen aus der Konsolenversion gezeigt: Darin steuert man sein Alter Ego direkt per Analogstick, mit dem anderen Stick wählt man einen der nahe gelegenen Hotspots aus. Die Bedienung schien flüssig möglich zu sein, allerdings wirkten die Bilder der PC-Version schärfer. Letzteres muss aber nicht am Spiel liegen, hier kann das Präsentations-Equipment genauso schuld sein. Die direkte Steuerung auf der Xbox hat übrigens keine Auswirkungen auf die PC-Version: Die kommt mit klassischem Point-and-Click-Interface. (Screenshots der Xbox-Version)

Streitfall Zwischensequenzen

Als wesentlicher Diskussionspunkt unter den Journalisten vor Ort entpuppten sich die Zwischensequenzen, die erstmals



Der Carfax Tower spielt sowohl in Gray Matter als auch in der
Stadt Oxford wichtige Rollen.

Simsalabim!

Ein herausstechender Aspekt des Gameplays soll allerdings nicht unerwähnt bleiben. Als Zauberin hat Sam auch diverse Magie-Hilfsmittel bei sich und in gewissen Situationen muss sie diese auch einsetzen. Dazu gibt es ein spezielles Interface, in dem der Spieler die diversen Tricks präparieren kann. Auf der linken Seite sieht man dann das Zauberbuch, in dem Anleitungen stehen wie „Man stecke das Kartenspiel in den rechten Ärmel, dann ziehe man mit der linken Hand den Hasen aus dem Hut.“ Auf der rechten Seite wird Sam als vitruvianischer Mensch mitsamt Slots für beide Hände, Ärmel, Taschen und andere Stellen gezeigt. Jetzt kann man anhand der Anleitung den Trick choreografieren, indem man alle Schritte der Reihe nach vorgibt, die Sam in der aktuellen Situation durchführen soll.
Ob sich das frische Element gut spielbar einfügt, ist allerdings noch schwer zu sagen. Geht es hier nur darum, die Anweisungen aus dem Buch 1:1 umzusetzen, fehlt die Herausforderung. Hier muss es Jane Jensen und ihre Rätseldesign-Kollegen gelingen, die Tricks kreativ in die Story einzubauen. Wenn man an dieser Stelle ein wenig um die Ecke denken muss, um die Methodik der Tricks originell auf die jeweilige Situation anzupassen, kann das Element das Gameplay durchaus bereichern. Hier müssen wir mit einer Bewertung abwarten, bis wir einige dieser Szenen selbst spielen konnten.



Ein erster Blick aufs Magie-Interface: Links das Zauberbuch,
rechts die interaktive Sam, mit deren Hilfe ein Trick einstudiert
werden kann. (Xbox-360-Version)



Statt sierra-typischem Punktestand gibt es gleich eine ganze
Reihe von Fortschrittsbalken. (Xbox-360-Version)

Ein Element, das schon aus der Sierra-Frühzeit bekannt ist, wird auch in Gray Matter implementiert: Das Punktesystem. Allerdings wird es nicht nur eine Punktzahl geben, die den Gesamterfolg des Spielers bewertet, sondern eine ganze Reihe kleiner Fortschrittsbalken, die sich auf jeweils eine Aufgabe beziehen. Ein Balken zeigt an, wie viele Studenten bereits rekrutiert sind, ein weiterer, wie der Fortschritt bei der Schnitzeljagd aussieht und so weiter. Dabei gibt es auch immer wieder optionale Quests, die nicht für das eigentliche Abschließen der Handlung notwendig sind, allerdings verschiedene Boni freischalten. In der Xbox-Version sind diese dann als Achievements umgesetzt.

Erzähl mir was

Gray Matter ist auf dem Weg, eine technisch anständige und inhaltlich hervorragende Geschichte mit interessanten Charakteren zu werden, die spielerisch anspruchsvoll ist, ohne die teils bockeschweren Gabriel Knights nachzuahmen. Das ist zumindest das, was man erwarten kann und sollte.
Ob das Spiel nun im 3. oder im 4. Quartal erscheint, da sind sich die Presseflyer von dtp selbst nicht einig, dass es aber vor Weihnachten in diesem Jahr noch erscheint, wird immer wahrscheinlicher. Die gezeigten Szenen aus einer Version „zwischen Alpha und Beta“ wirkten weitgehend fertig, die englischen Sprachaufnahmen sind im Kasten. Nach einer ungewöhnlich langen Entwicklungszeit mit vielen Höhen und Tiefen nähert sich das neue Adventure von Jane Jensen also der Fertigstellung – und wir warten gespannt auf das Endergebnis.



Eindrücke von unserem Ausflug nach Oxford...

Homepage zum Spiel Bericht von den Sprachaufnahmen Videointerview
Sieht gut aus