Test

von  Jan "DasJan" Schneider
24.07.2002
Syberia
Getestet auf Windows, Sprache Deutsch

Ein klassisches Adventure? Mit 2D-Hintergründen und ohne Action-Sequenzen? Wer dachte, dieses Genre sei ausgestorben, hat seine Rechnung ganz offensichtlich ohne Microïds und Benoît Sokal gemacht, die auch in der heutigen Zeit noch den Mut besitzen, ein Adventure der klassischsten Sorte zu produzieren. Ob Syberia das Genre retten, oder es zumindest bereichern kann, soll dieser Test zeigen.

Die Story

Der Spieler schlüpft in die Rolle von Kate Walker, einer New Yorker Anwältin, die im Auftrag ihres Büros in das kleine und abgelegene Alpendorf Valadilène reist, um dort den Verkauf einer kleinen, traditionsreichen Fabrik für mechanische Apparate an einen amerikanischen Großkonzern zu regeln. Unglücklicherweise ist die Besitzerin der Manufaktur, Anna Voralberg, kurz vor Kate Walkers Ankunft verstorben. Die Hoffnungen, den Verkauf jetzt problemlos mit dem zuständigen Notar durchführen zu können, zerschlagen sich, als plötzlich die Existenz eines Erben bekannt wird, Anna Voralbergs seit über 50 Jahren tot geglaubter Bruder Hans.

Es stellt sich heraus, dass Hans Voralberg, ein Genie, was die Entwicklung mechanischer Automaten angeht, in seiner Jugend nicht gestorben ist, wie allgemein vermutet wurde, sondern nur die Stadt verlassen hat und heute wahrscheinlich immer noch lebt, irgendwo in Sibirien. Kate Walker muss sich nun auf die Suche nach diesem einzigartigen Mann machen, die Stationen seines Lebens nachvollziehen und seine Geschichte ergründen.

Auf der abenteuerlichen Reise in den Osten spricht der Spieler mit den exzentrischsten Personen und lernt die entlegensten Orte kennen, in denen auch Hans Voralberg große Teile seines Lebens verbracht hat und deren Erscheinen er auch mit seinen immer brillanter werdenden mechanischen Erfindungen entscheidend geprägt hat.

Syberia ist ein erwachsenes Spiel ohne LucasArts'schen Slapstickhumor. Das Spiel ist aber nicht völlig ernst, der Humor erschließt sich eher subtil in Gesprächen oder grotesken Situationen. Syberia ist auch kein monumentales Epos voller Wendungen und Überraschungen, es findet seinen Reiz eher in der Möglichkeit, immer tiefer in die Spielwelt einzutauchen, immer mehr über die Geschichte Hans Voralbergs und seiner Maschinen in Erfahrung zu bringen und eine unbekannte Welt zu entdecken.

Erfreulich ist, dass Kate Walker keine farblose Figur bleibt, sondern einen Charakter besitzt, der unter anderem immer wieder genauer umrissen wird, wenn sie über das stets griffbereite Handy mit Freunden und Verwandten in New York telefoniert, zum Beispiel mit ihrer Mutter oder ihrem Freund. Auch schafft sie es, während des Spiels eine überzeugende, nicht unmotivierte oder kitschige Charakterwandlung zu durchlaufen.

Atmosphäre

Benoît Sokal hat schon mit seinem ersten Adventure – Amerzone – gezeigt, dass er in vielen Jahren als Comic-Zeichner und -Autor seinen ganz eigenen Stil erschaffen hat. Auch in Syberia kreiert er eine Atmosphäre, die sich jeglicher Einordnung in eine bereits vorhandene Schublade widersetzt. Charakteristisch ist der stets verschwimmende, aber immer präsente Grat zwischen Fiktion und Realität.

Auf der einen Seite enthält Syberia unzählige Anlehnungen an die Realität des 20. Jahrhunderts. Darunter befinden sich direkte Referenzen wie der verfallene Industriekomplex Komkolzgrad, einstige Vorzeigefabrik eines kommunistischen Regimes, heute nur noch Symbol für dessen Versagen, oder weniger explizite Andeutungen wie eine Portion Fortschrittskritik, wenn es um den Verkauf der Traditionsmanufaktur der Voralbergs geht, oder das leise Beklagen der Umweltverschmutzung durch unverantwortlichen Umgang mit der Natur.

Auf der anderen Seite braucht man nicht befürchten, mit Syberia ein meinungsbildendes Machwerk eines politischen Aktivisten in der Hand zu halten. Im Gegenteil: Benoît Sokal ist stets darum bemüht, seine Welt mit einem ständig spürbaren Hauch an Surrealismus zu verfremden, und das gelingt ihm ausgezeichnet: Praktisch alle Charaktere im Spiel haben etwas Groteskes an sich, leben in ihrer eigenen kleinen Welt, abgeschlossen von zivilisatorischen Einflüssen, reden in seltsamen Dialekten oder Fantasiesprachen, haben die seltsamsten Namen wie Borodine, Malatesta oder Voralberg oder sind gar menschenähnliche mechanische Konstruktionen Hans Voralbergs. Kate Walker bildet zu all dem einen gelungenen Kontrast, der allein schon das Spiel interessant macht.

Auch die Ortsnamen sind nicht real und sogar ganze Völker, Tierarten und Pflanzengattungen werden erfunden, das aber so unauffällig, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion immer erfrischend unklar bleibt. Das Zusammentreffen von Elementen aller möglichen verschiedenen Zeitepochen sorgt für eine weitere Verfremdung der historischen Spielelemente. Dieser Kontrast schafft gerade in Zusammenarbeit mit der schönen audiovisuellen Gestaltung des Spiels eine sehr starke und einzigartige Atmosphäre, die die Adventurewelt in dieser Form noch nicht gesehen hat.

Getrübt wird die hervorragende Stimmung nur durch ein kleines Manko im Spieldesign: Anklickbar sind nur Objekte, die auch für Rätsel relevant sind. Damit werden nicht nur die Rätsel einfacher, die Spielwelt verliert auch etwas von ihrer Lebendigkeit, da sich viele interessante, wenn auch unwichtige Gegenstände nicht untersuchen lassen.

Rätsel

Das handwerkliche Genie Hans Voralberg hat auf seinem Lebensweg eine beachtliche Menge an mechanischen Apparaten hinterlassen. Man kann also vermuten, dass in Syberia viele komplizierte Maschinenrätsel im Stil von Myst zu lösen sind. Das ist jedoch nicht der Fall. Die vielen erstaunlichen Apparate beschränken sich im Rätseldesign leider zumeist auf das einfache Betätigen eines Schalters oder das Finden eines Schlüssels. Auch Konsolen mit mehreren Schaltern und Knöpfen sind meist schnell zu durchschauen und stellen keine wirkliche Herausforderung dar.

Auch die meisten anderen Rätsel sind nicht sehr raffiniert, häufig weiß man schon, was man mit einem Gegenstand machen soll, wenn man ihn bekommt. Da das Spiel relativ linear ist, wird das Inventar auch nie größer als fünf bis sechs Gegenstände. Inventargegenstände lassen sich zudem nicht miteinander kombinieren. Da Syberia aus sehr vielen Bildschirmhintergründen besteht, passiert es gelegentlich, dass man länger nach einem Rätsel sucht, als man für dessen Lösung braucht. Dazu kommt, dass die Rätseldichte nicht sehr hoch ist.

Das Rätseldesign ist aber nicht so spielschädigend, wie sich das in den letzten zwei Absätzen angehört haben mag. Zum einen gibt es durchaus gute Ideen, zum anderen wird das Spiel hauptsächlich durch die Story, nicht durch die Rätsel getragen. Letztere sind viel mehr ein Mittel zum Zweck, die Motivation für Kate Walker, die Welt zu erkunden und in die spannende Geschichte einzutauchen.

Grafik

Die Grafik ist eine der großen Stärken des Spiels. Die Hintergründe sind vorgerenderte 2D-Bilder, auf denen sich 3D-Polygon-Charaktere bewegen, eine Technik, die sich schon bei Grim Fandango und The Longest Journey bewährt hat.

Die Hintergründe sind nicht nur in erstaunlicher Qualität gerendert und sehen äußerst realistisch aus, sie sind zudem äußerst zahlreich im Spiel vorhanden. Die Grafikabteilung war so fleißig, dass mehr als doppelt so viele Hintergründe im Spiel zu sehen sind, wie für die Unterbringung der eigentlichen Rätsel nötig gewesen wären. Das führt zwar zu teilweise etwas längeren Laufwegen, aber der optische Zugewinn ist dieses kleine Opfer durchaus wert. Außerdem wird der Spieler so dazu angeregt, ganz im Sinne von Adventures den Trial-and-Error-Modus beiseitezulegen und nachzudenken, bevor er einen möglicherweise unnötigen Weg antritt.

Die Polygon-Charaktere fügen sich hervorragend in die Hintergründe ein. Dank geschickter Farbgebung, guter Beleuchtung und Antialiasing fällt kaum auf, dass sie technisch gesehen nicht dazugehören. Auch sind die Figuren ausgezeichnet animiert, was ihnen eine Menge Leben einhaucht. Nur das ausdruckslose Geradeaus-Starren der Protagonistin fällt da manchmal aus dem Bild, was wir ihr angesichts ihrer sonst sehr gelungenen Bewegungsabläufe (Treppen steigen, Leitern klettern, Bücken) aber nicht übel nehmen wollen.

Noch gelungener ist das Zusammenspiel zwischen Polygon-Figuren und Hintergründen, was sich in anderen Spielen aufgrund der unterschiedlichen Technik als sehr problematisch erwiesen hat. Microïds hat hier aber wahre Wunder vollbracht: Clippingfehler sind praktisch nicht vorhanden, selbst äußerst komplizierte Verflechtungen von Vorder- und Hintergrund wie z.B. das Beklettern einer Leiter funktioniert grafisch tadellos. Auch beim Treppensteigen trifft Kate Walker stets die Stufen und hinter Bäumen verschwinden ihre Umrisse butterweich.

Die Engine von Syberia ist in der Lage, großflächige vorgerenderte Animationen anzuzeigen, ohne dass Komprimierungsartefakte, Rechteckeffekte oder Ähnliches das positive Bild stören. Auch wenn Polygonfiguren vor oder hinter den Animationen herlaufen, kommt die Engine nicht ins Stottern. Glücklicherweise macht Syberia ausgiebig von dieser Technik gebrauch: Riesige drehende Zahnräder, Vogelschwärme und andere bewegliche Dinge bevölkern die Spielwelt und tragen so zu ihrer Lebendigkeit bei.

Zwischensequenzen gibt es relativ häufig. Diese ebenfalls gerenderten Fullscreen-Videos sind wie der Rest des Spiels von ausgezeichneter grafischer Qualität. Die Sequenzen sehen aber nicht nur sehr gut aus, sondern sind auch hervorragend zusammengeschnitten und arrangiert, was auf einen sehr professionellen „Regisseur“ schließen lässt. Die stimmige Musik sorgt dann für den Rest und macht die Zwischensequenzen zu einem wahren Hochgenuss.

Musik & Sound

Syberia ist kein Spiel wie zum Beispiel Monkey Island, das von der Musik mitgetragen wird. Es gibt keine Melodie, die man nach dem Spielen nachpfeifen könnte. Das alles ändert aber nichts daran, dass die Musik absolut professionell komponiert ist. Jede der vier Spielwelten hat ihr eigenes Thema, dass zwar nicht sehr oft gespielt wird, aber doch zu wesentlichen Teilen der Atmosphäre zuträglich ist. Die Musik lässt sich am ehesten als klassische Musik beschreiben, doch auch erklärte Gegner dieser Richtung dürften nicht abstreiten können, dass sie die Atmosphäre der einzelnen Schauplätze zielgenau unterstreicht.

Dazu kommt die Musik in den Zwischensequenzen, die musikalisch alle individuell gestaltet sind, je nach der Stimmung, die gerade mit der Sequenz vermittelt wird. In einem Fall darf man sogar einer Opernsängerin bei ihrer beeindruckenden Darbietung zuhören.

Besonderes Lob haben auch die Soundeffekte verdient. Bei den vielen mechanischen Automaten war das Sounddesign von Syberia sicher keine leichte Aufgabe, die Microïds aber mit Bravour gelöst hat. Ob ratternde Maschinen, sich drehende Zahnräder oder die Abfahrt einer mechanischen Lokomotive: Die Effekte sind alle glaubwürdig und präzise dosiert.

Steuerung

Microïds hat sich bei dem Interface für eine simple Steuerung entschieden. Bewegt man den Mauszeiger über den Bildschirm, dann verändert er sich je nach dem, über was er gerade steht. Bei einem Hebel verwandelt er sich in eine Hand, bei einer Konsole in eine Lupe und bei einer Person in eine Sprechblase. Leider sehen alle Mauszeiger recht ähnlich aus, sodass man beim schnellen Absuchen des Bildschirms nicht unbedingt gleich jeden Hotspot findet.

Mit der rechten Maustaste öffnet man das Inventar, das sich in die zwei Teile „Gegenstände“ und „Dokumente“ (Tagebücher, Skizzen, Fahrkarten…) aufteilt. Letztere Abteilung wird im Laufe des Spiels deutlich voller. Die Dokumente kann man jeweils lesen oder mit seiner Umwelt benutzen, also beispielsweise jemandem geben.

Manchmal ist es schwierig, zwei Ausgänge aus einem Hintergrund voneinander zu unterscheiden, da der Mauszeiger für beide Hotspots gleich aussieht. Das führt dazu, dass man manche Stellen nicht auf Anhieb findet und stattdessen die Umgebung erneut nach etwas absucht, was man übersehen haben könnte. Insgesamt tauchen solche Missverständnisse aber eher selten auf.

Das Dialogsystem ist nicht besonders komplex, funktioniert aber gut. Kate Walker führt einen Notizblock mit sich, in dem stets für Gespräche relevante Themen stehen. Erledigte Themen werden einfach aus der Liste gestrichen. Auch wenn diese Schlagworte für alle Gesprächspartner gleich sind, so führen sie nicht immer zu denselben Gesprächen. Das immer präsente Wort „Hilfe“ fragt das Gegenüber zum Beispiel automatisch nach Hilfe. Dabei entscheidet Kate Walker selbst, welche Art von Hilfe sie gerade benötigt. Mit diesem System entstehen zwar keine komplexen, voll kontrollierbaren Dialogsituationen, doch bleibt so die Spannung auf das erhalten, was Kate Walker als Nächstes sagen wird.

Lokalisation

Die Übersetzung von Syberia hinterlässt einen gemischten Eindruck. Die Texte selbst sind gut in die deutsche Sprache übertragen, auch fachsprachliche Texte der Anwaltskanzlei o.Ä. scheinen kompetent übersetzt worden zu sein. Nur gelegentliche Rechtschreibfehler und falsche Interpunktion oder Satzbau trüben das Bild, tauchen aber nicht so häufig auf, dass der Spielspaß dadurch gemindert würde. Diese Fehler sind wohl durch den Zeitdruck entstanden, der bei der Fertigstellung der deutschen Version herrschte.

Auch die deutsche Sprachausgabe ist nicht uneingeschränkt positiv zu sehen. Zum Glück hat Kate Walker eine angenehme Stimme, an die man sich schnell gewöhnt, auch verschiedene andere Figuren sind gut vertont. Es mischen sich aber immer wieder Stimmen ein, die nicht zu den Charakteren passen wollen bzw. nicht überzeugend oder unprofessionell klingen. Natürlich irritieren diese Stimmen etwas, aber keine davon ist so schlecht, dass man nur noch mit Untertiteln spielen möchte.

Fazit

Syberia ist kein Epos, es sollte in 15-20 Stunden durchgespielt sein, Profis kommen vielleicht noch schneller zum Ziel. Das Spiel zeigt auch kleine Schwächen in der Steuerung und im Rätseldesign und ist durchaus nicht perfekt. Aber dennoch gibt es drei Punkte, die eindeutig für Syberia sprechen: Erstens halten wir seit Langem wieder ein klassisches 2D-Point-and-Click-Adventure von hoher Qualität in der Hand, was leider sehr selten geworden ist. Microïds hat eindeutig gezeigt, dass das Genre noch nicht tot ist und auch heute noch sehr gute Vertreter dieser Gattung das Licht der Welt erblicken. Ein Retter des Genres ist Syberia nicht, aber eine wahre Bereicherung.

Zweitens ist das Spiel einfach gut. Die kleinen Schwächen können nur kaum von der originellen und gut erzählten Story, der wunderschönen Grafik, der atmosphärischen Musik und der ebenso sympathischen wie glaubwürdigen Hauptdarstellerin ablenken. Wenn man sich von der fantastischen Geschichte über die Reise in den Osten, und damit auch in die Vergangenheit, gefangen nehmen lässt, dann wird man auch nach dem würdigen Ende nicht so schnell aufhören können, an Kate Walker, Hans Voralberg und die Welt von Syberia zu denken.

Drittens: Syberia macht einfach Spaß.

Kommentar des Verfassers

Kommentare

detail

Syberia ist ein kleines, ungeheuer sympathisches Adventure, das mit seiner frischen Story und der dichten Atmosphäre schnell die ein oder andere Schwäche vergessen lässt.

Redaktions-Wertung

Grafik
Musik
Steuerung
Atmosphäre
Rätsel

Gesamt

Pro
Contra
  • Originelle, unverbrauchte, gut erzählte Story
  • Sehr dichte und einzigartige Atmosphäre
  • Glaubhafte und sympathische Charaktere
  • Schöne Grafik
  • Stimmige Musik
  • Rätseldesign
  • Steuerung
  • Zu kurz