Bei Adventures aus Skandinavien denkt man unweigerlich an das epische The Longest Journey, das Funcom einen Namen in der Adventure-Szene verschaffte. Jetzt kommt neue Ware aus dem Norden, genau genommen von dem schwedischen Entwickler Moloto AB. Das Spiel heißt "Zelenhgorm" und ist zum Glück von The Longest Journey hinreichend verschieden, um nicht den Vergleich damit antreten zu müssen.
"Zelenhgorm - The Great Ship" ist nur der Anfang, die erste Episode der umfangreich geplanten Zelenhgorm-Saga. Das seltsame Wort bedeutet "Land des blauen Mondes" und ist der Name eines großen Kontinents auf einer außerirdischen Welt, die viel mit unserer Erde gemein hat, technologisch aber weit hinter ihr zurück liegt. Die Welt Zelenhgorm ist verbunden mit einer komplexen Hintergrundgeschichte, die aber für das Spiel selbst nur wenig von Bedeutung ist und über die einzelnen Spiele verteilt erzählt wird.
Der Spieler schlüpft in die Rolle von Arrikk Vaheirr, der als Linkshänder in der Fantasy-Welt ohnehin schon als "Befleckter" gilt. Als eines Morgens plötzlich ein riesiges Schiff im Meer vor Arrikks Haus ankert - ohne Besatzung und von unbekannter Herkunft - ist das Fass kurz vorm Überlaufen. Schon bei dem kleinsten Delikt, teilweise schon bei Unhöflichkeiten rufen die anderen Bewohner des Dorfes Wachen, die Arrikk dann verhaften und für eine Nacht an den Pranger fesseln. Ihm bleibt trotzdem nichts anderes übrig, als sich dem Geheimnis des großen Schiffes vor seinem Haus zu widmen und lernt dabei viel über Zelenhgorm, Linkshänder, sich selbst, seine Familie und die Vergangenheit seiner Welt.
Man bekommt beim Erforschen dieser Welt einen guten Eindruck davon, dass hinter dem Spiel eine komplexe Hintergrundgeschichte liegt und sich die Autoren viele Gedanken darüber gemacht haben, doch leidet Zelenhgorm darunter, dass es nur die erste - für ein ganzes Spiel sehr kurze - Episode eines großen Epos ist. So kommt Arrikk noch nicht mal dazu, sein Inseldorf mit dem großen Schiff zu verlassen, weil schon geraume Zeit vorher mit den Worten "To be continued..." der Abspann eingeleitet wird.
Die Atmosphäre des Spiels ist schwer zu beschreiben. Geprägt wird sie natürlich von der Tatsache, dass viele Realfilm-Elemente das Spiel bereichern. Am besten lässt sie sich vielleicht mit alten europäischen Folkssagen vergleichen: Ein kleines, abgelegenes Dorf auf einer Inselgruppe, Bewohner mit traditionellen Trachten, fast mittelalterlich anmutende Holzhütten und eine ständig spürbare, tiefe Mythologie. Die Intensität dieser Atmosphäre hängt natürlich stark von den Faktoren Grafik und Musik ab. Erstere ist ihr eher zuträglich, während letztere nur wenig dazu beitragen kann, mehr dazu in den späteren Abschnitten.
Gerade in einem Spiel mit Realfilm-Elementen hängt die Stimmung aber auch massiv von der Glaubwürdigkeit der Darsteller ab. Zunächst ist die pure Anzahl von Charakteren sehr beeindruckend. Während allein die Markthalle von knapp zwei Dutzend Schauspielern bevölkert wird sollen es im ganzen Spiel nicht weniger als 148 sein, die nicht nur in die Hintergründe einkopierte Fotos sind, sondern sich tatsächlich bewegen - sogar wenn sie nur herumstehen! Und Tatsächlich wirkt die Welt von Zelenhgorm äußerst belebt, fast immer sind andere Bewohner in Sichtweite. Auch wenn man natürlich nur mit den wenigsten Gespräche führen kann, ist die Spielwelt alles andere als tot.
Die Schauspieler selbst hinterlassen gemischte Gefühle: Die meist aus Skandinavien stammenden Mimen bemühen sich teilweise mit ihrem Englisch so sehr, dass das Ergebnis nicht unbedingt immer glaubwürdig ist. Der Hauch von B-Film-Charme, den einige Szenen nicht kaschieren können, schadet dem Spiel aber nicht wirklich. Und einige Schauspieler geben tatsächlich richtig gute Leistungen ab. So macht es beispielsweise wahre Freude, mit dem - leicht irren - Taschenspieler in der Markthalle zu spielen, der offenbar Missverständnisse mit seinem Zahnarzt hatte, dafür aber erstaunlich viel über verschiedene Dinge weiß. Und gar Tränen treibt es einem in die Augen, wenn man sich klar macht, dass die Telefonnummer der sympathischen Fischverkäuferin wohl unerreichbar fern ist.
Für spätere Episoden der Saga ist übrigens schon die halbe Besetzung der alten Star Wars-Filme engagiert. David Prowse (Darth Vader), Jeremy Bulloch (Boba Fett) und Kenny Baker (R2D2) haben alle schon unterschrieben.
Viele Adventures mit großem Realfilm-Anteil neigen dazu, eher interaktive Filme zu sein, bei dem sich Rätsel entweder nur auf Entscheidungen der Art "Knall ich ihr eine oder nicht?" beschränken oder lediglich aus mageren Standardrätseln zusammengesetzt sind. In diese Kategorie fällt Zelenhgorm nicht. Auch wenn die Gesamtzahl der Rätsel auf Grund der geringen Spiellänge, nicht sehr groß ausfällt, so ist die Rätseldichte doch relativ hoch. Und der Schwierigkeitsgrad ist an manchen Stellen schon fast auf Profis ausgelegt, was damit zusammenhängt, dass in Zelenhgorm viel mit Bildern gesagt wird: Der weissagende Taschenspieler spricht in Rätseln, Träume und Visionen sind mit Metaphern durchsetzt und da es in dem Spiel keine (leserliche) Schrift gibt, ist auch sonst alles nur durch Bilder zu erfahren.
Erfreulich ist ein gewisser Mangel an Linearität. Die Reihenfolge vieler Rätsel lässt sich frei bestimmen und für einige Probleme gibt es mehrere Lösungen. Wenn Arrikk etwas falsch macht, sinkt sein ohnehin angeschlagenes Ansehen in der Bevölkerung und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass er bei der nächsten Festnahme nicht nur am Pranger landet. Es gibt Nebenaufgaben, die nicht unbedingt gelöst werden müssen, aber unter Umständen Perlen (die Währung des Dorfes) einbringen. Spielerisch Sinn machen die Perlen allerdings nur wenig, da bei einem Tauchgang, der beliebig oft wiederholt werden kann, immer ein paar davon zu finden sind.
Auch eher überflüssig ist der Kampfmodus. Verscherzt man es sich mit einer Wache, so schaltet das Spiel in den Kampfmodus um, in dem Arrikk mit seinem Stock es dann mit dem Ordnungshüter und seiner Hellebarde aufnimmt. Dabei kann man außer Angriff (links, Mitte, rechts) und Verteidigung (auch links, Mitte, rechts) nichts machen. Entweder tötet Arrikk dann die Wache, wofür er exekutiert wird, oder er lässt sich KO schlagen, was eine Nacht am Pranger zur Folge hat. Glücklicherweise ist es zur Lösung des Spiels nicht erforderlich, mit Wachen zu kämpfen.
Zelenhgorm versucht, 3D-Rendergrafik und Realfilm unter einen Hut zu bringen, und schafft das relativ gut. Die vorgerenderte 3D-Welt hat nicht die Qualität von Myst 3 und erst recht nicht die Größe, wirkt aber an erfreulich wenigen Stellen so steril, wie Rendergrafiken es manchmal tun. Diese Rundum-Standbilder werden von realen Schauspielern bevölkert. Diese sind sehr gut eingefügt: Weder starke Kontraste noch Kompressionsvierecke sind zu sehen. Manchmal ist sogar kaum zu erkennen, ob zum Beispiel ein Tisch noch zum abgefilmten Teil gehört oder schon gerendert ist. So gut die Symbiose beider Techniken jedoch funktioniert, wirkt das Gesamtbild häufig unscharf und stark komprimiert.
Neben diesen Spielszenen gibt es noch Vollbild-Videos, die nicht nur im Falle von Realfilm-Schnipseln (Intro, Outro, ...) auftreten, sondern auch ständig beim Wechsel von zwei Standpunkten. Egal, wo man in Zelenhgorm steht und in welche Richtung man geht, immer (!) wird die Bewegung mit einer vorgerenderten Kamerafahrt gezeigt. Bei all diesen Videos wird die Datenmenge natürlich so groß, dass der Kompressionsteufel teilweise recht rabiat um sich geschlagen hat. Besonders die längeren Hauptzwischensequenzen weisen deutliche Artefakte auf, die auch von den weniger kritischen Gemütern bemerkt werden dürften. Aber auch die kurzen "Gehe von A nach B"-Sequenzen zeigen einen deutlichen Schärfeverlust im Vergleich zu den Spielszenen.
Musik gibt es leider nur sehr wenig in Zelenhgorm. Im Spiel selbst finden sich allenfalls nur kurze 15-Sekunden-Jingels, wenn man einen wichtigen Ort erreicht. Die eigentliche Musik gibt es nur in den wenigen wichtigen Zwischensequenzen, ist dann aber sehr gut gemacht und unterstreicht die Atmosphäre gekonnt. Soundeffekte sind auch gut gemacht und es besteht kein Anlass zur Kritik.
Ähnlich wie in Myst 3 wandert man in Zelenhgorm von Punkt zu Punkt durch feste 360°-Rundum-Hintergründe. Der Mauszeiger ist dabei in der Mitte des Bildschirms fixiert und wird nur dann sichtbar, wenn man in die entsprechende Richtung gehen, dort etwas näher betrachten, nehmen oder benutzen kann. Mit einem Rechtsklick erscheint am unteren Bildschirmrand das Inventar, das im Laufe des Spiels ziemlich groß wird und seitwärts scrollt. Ein Klick auf einen Gegenstand ruft dessen Vollbild-Ansicht auf. Jetzt kann man einen anderen Gegenstand darauf ziehen, um diese miteinander zu benutzen oder aber durch einen weiteren Klick auf die Vollbild-Ansicht den Gegenstand mit der Umgebung benutzen. Die Dialoge funktionieren nach bekanntem Multiple-Choice-Muster.
Das System funktioniert - einmal verstanden - recht gut, hat aber ein Problem: Der Mauszeiger erscheint nicht, wenn ein Objekt im Sichtfeld ist, auf das sich ein Inventargegenstand verwenden lässt. So wird gelegentlich nicht klar, dass ein kleines Detail in der Umgebung eine wichtige Bedeutung zur Lösung eines Rätsels hat.
Zelenhgorm hat eindeutig gute und schlechte Seiten, von denen keine so recht die Überhand gewinnen will. Klar ist nur, dass einige Ärgernisse wohl hätten vermieden werden können: Die Installationsroutine kopiert zum Beispiel nur eine der drei CDs auf die Festplatte. Da das Spiel aber nicht entsprechend in drei Kapitel unterteilt ist, sondern nur aus einem einzigen zusammenhängenden Gebiet besteht, ist ständiges Wechseln der CD unerlässlich. Eine Vollinstallation ist zwar möglich, aber unverständlicherweise nur versteckt in einer Textdatei dokumentiert. Auch die teils sehr starke Kompression in Bild und Videos will angesichts der sehr kurzen Spielzeit und immerhin 1,7 Gigabyte Daten (davon über 1,4 Gig für Grafik) nicht so recht einleuchten. Musik sollte Moloto AB für die nächsten Spiele auch größere Aufmerksamkeit schenken.
Für Freunde des (sehr) interaktiven Films, die gerne in eine Fantasywelt voller Geheimnisse und Mythen, voller Metaphern und philosophischen Gedanken ist Zelenhgorm ein gelungener Anfang einer komplexen Saga, die viel Potenzial in sich birgt. Leider ist es aber auch nur der Anfang, der wohl bei kaum jemandem für mehr als 10 Stunden Spielspaß sorgt.
Eine angenehme Überraschung aus dem hohen Norden, völlig anders als das Meiste andere auf dem Markt. Zwar hat Zelenhgorm auch Schwächen, aber es war trotzdem schade, dass das Spiel so schnell zu Ende war.
Adventure-Treff-Verein
IBAN: DE38 8306 5408 0004 7212 25
BIC: GENODEF1SLR