Vor zwei Jahren schaffte es der belgische Comic-Zeichner Benoît Sokal mit einem Entwickler-Team von Microïds die Adventurewelt um ihr bestes Spiel seit Langem zu bereichern. Syberia fand seitdem mit seiner symbolschwangeren Spielwelt, den leicht überzeichneten Charakteren und wunderschönen Bildern viele Fans. Die Reise, die der Spieler mit Kate Walker miterlebt, war so groß, dass das Spiel in zwei Teile zerlegt werden musste. Jetzt ist mit Syberia II endlich die zweite Hälfte erschienen, die das Ende einer Geschichte erzählt, die viele Spieler so schnell sicher nicht wieder vergessen werden...
Die junge New Yorker Anwältin Kate Walker wird von ihrer Kanzlei in das kleine mitteleuropäische Dorf Valadilene geschickt, um dort den Verkauf der örtlichen Spielzeugmanufaktur an einen großen Konzern abzuwickeln. Kurz vor Eintreffen der Anwältin stirbt jedoch die Inhaberin der Fabrik und unerwartet taucht ein Erbe auf, den Kate jetzt finden muss. Hans Voralberg, letztes lebendes Mitglied der Familie und ein wahres mechanisches Genie, soll sich jedoch irgendwo in Sibirien befinden. Kate vollendet Hans‘ letztes Werk „Oscar“, einen humanoiden Roboter, der die Bezeichnung „Automat“ vorzieht, und als einziger den mechanischen Zug bedienen kann, der in einem Bahnhof neben der Manufaktur auf seinen Fahrer wartet.
Nach einer beschwerlichen Reise, die sie an der Universität Barockstadt mit ihrem üppig bewachsenen Volierenbahnhof, dem beinahe verlassenen Industriekomplex Komkolzgrad und vielen skurillen Gestalten vorbeiführt, findet Kate schließlich in dem einstigen Vorzeige-Kurort Aralbad den greisen Hans Voralberg, der die Papiere zum Verkauf des Familienbesitzes gleichgültig unterschreibt – für ihn zählt inzwischen nur noch sein großes Lebensziel, nämlich die mystische Insel Syberia zu finden, einen Ort, an dem heute noch Mammuts leben sollen. Statt nach New York zurückzukehren ergibt sich Kate Walker dem Zauber der Vision Hans Voralbergs und reist mit ihm weiter gen Osten in eine fremde Welt auf der Suche nach dem Kindheitstraum eines alten Mannes.
Mit dieser dramatischen Entscheidung gegen ihr bisheriges Leben und für ein winterliches Abenteuer am Ende der Welt endet der erste und beginnt der zweite Teil des Spiels. Erste Station in Syberia II ist das verschneite Dorf Romansbourg, in dem der Zug mit Kohle beladen werden muss, um im eisigen Sibirien ausreichend heizen zu können. Doch ist dies nicht das einzige Problem, das die Weiterreise in Romansbourg behindert. So verschlechtert sich der Gesundheitszustand des von der anstrengenden Reise geschwächten Hans Voralberg weiter und er beginnt zu halluzinieren. Einziger Heilgelehrter in der Umgebung und scheinbar letzte Rettung für den sterbenden Greis ist der strenggläubige Patriarch des nahe gelegenen Klosters – und in dem sind Frauen streng verboten...
Als weiteres Problem stellen sich die zwei örtlichen Kriminellen Igor und Ivan heraus, die von den Plänen der zwei Protagonisten erfahren und in dem Elfenbein der Mammuts ein lukratives Geschäft wittern. Die beiden tauchen öfters da auf, wo sie am wenigsten gebraucht werden können, und erschweren die Reise erheblich. Und auch aus der Heimat droht Gefahr: Kates Arbeitgeber Edouard Mason hat nämlich wenig Verständnis für ihren Sinneswandel und engagiert einen Detektiv, der Kate finden und sie mitsamt der von Hans unterzeichneten Papiere nach New York schaffen soll. Trotz aller Schwierigkeiten bahnen sich Kate und Hans nach dem spektakulären Abschied vom Kloster ihren Weg durch die sibirische Prärie in das Dorf der Youkols, einem zurückgezogenen Eingeborenenstamm, dessen Legenden die mystische Geschichte der Insel Syberia entstammt. Wie und wo die Reise endet, soll hier natürlich nicht verraten werden...
Die Geschichte von Syberia II entwickelt sich weniger streng kapitelorientiert wie im ersten Teil und hängt stärker als Einheit zusammen. Auch sorgen mehr unerwartete Momente für Spannung und überraschende Wendungen im Spielverlauf. Lose Enden, auch aus dem ersten Teil, werden fast alle konsequent zu Ende geführt und stets fragt man sich als Spieler, was einen wohl als nächstes erwarten wird. Einziger Wermutstropfen ist mal wieder die recht kurze Spielzeit: Schon nach 10 Stunden sind erfahrene Spieler am Ziel ihrer Reise angelangt. Bei guten Spielen ist es aber immer einfach, sich mehr zu wünschen.
Auf ihrem Weg trifft Kate Walker wie auch im ersten Teil wieder auf viele skurrile Gestalten, sei es der pensionierte Kolonel Gupatchev, der Kate mit offenen Armen und Holzbein in Romansbourg empfängt, der fundamentalistische Patriarch, dessen unbarmherziges Dogma Vorrang vor der Rettung von Menschenleben besitzt, das ungleiche Verbrecherpaar Ivan und Igor oder die isoliert lebenden Youkols, die trotz aller sprachlichen und kulturellen Differenzen Kate und Hans in ihren Eishöhlen willkommen heißen. Neben dem Automaten Oscar, der in der Geschichte für einen erfrischenden Überraschungseffekt sorgt, treffen die zwei auch andere alte Bekannte wieder.
Nicht zuletzt in den stark gezeichneten Charakteren spiegelt sich der unverwechselbare Stil Benoît Sokals wieder, der mit den Nebenrollen zugleich glaubhaften Akteure und überzeichnete Karikaturen schafft. Sokal bedient hier bekannte Klischees, ohne dass die Figuren abgegriffen oder plump wirken. In den beiden Hauptdarstellern Kate Walker und Hans Voralberg tritt der karikative Aspekt in den Hintergrund: Beide sind durch und durch glaubhafte und differenzierte Charaktere. Während Kate als starke Frau überzeugt, die sich selbstbewusst für die abenteuerliche Reise ins Ungewisse entschieden hat und trotz aller Zweifel den großen Traum ihres Reisegefährten zu verwirklichen versucht, wirkt auch der altersschwache und geniale, geistig aber Kind gebliebene Hans Voralberg äußerst echt und in keiner Sekunde lächerlich.
Wie in jedem Spiel sind Grafik und Sound die beiden großen Bereiche, die die Atmosphäre eines Spiels transportieren. Hier galt bereits der erste Teil als Referenz der jüngeren Zeit und Syberia II schafft es nicht nur, die unverwechselbare Atmosphäre, für die der Vorgänger so viel Lob geerntet hat, ungebrochen auf ein weiteres Spiel zu übertragen, viele Einzelaspekte konnten die Entwickler sogar noch verbessern.
Kurz gesagt: Die Spielgrafik von Syberia ist großartig. Die meisten Hintergründe sind so detailliert, so gut beleuchtet und so geschickt in Szene gesetzt, dass man den Eindruck gewinnt, sich durch eine Reihe von Kunstwerken zu bewegen. Oft meint man, mehr durch bewegte Gemälde als durch computergenerierte Grafiken zu wandern, so lebendig und echt wirken die Hintergründe. Wer gesehen hat, wie das knorrige Geäst der toten Bäume in den Eishöhlen der Youkols halb in den Wänden eingefroren ist und wer durch die eisig-majestätische Erhabenheit des unheilvollen Klosters bei Romansbourg geschlendert ist, der weiß, welche Adventure-Schmiede zur Zeit die besten Grafiker beschäftigt.
Am Vorgänger wurde häufig die Starrheit der Grafiken kritisiert, ein Punkt, den Microïds definitiv ausgebessert hat. Dafür sorgt unter anderem der Kunstgriff, dass es fast in allen Außenarealen schneit, was nicht nur das Spiel um einen hübschen Grafikeffekt, sondern auch die Hintergründe um ein gehöriges Maß an Dynamik bereichert. Aber auch an echten Animationen wurde nicht gespart: Vögel fliegen durch die Wälder, Fackeln hüllen ihre Umgebung in ein flackerndes Licht, im Hintergrund gehen die Umrisse eines Youkols vorbei und kleine Schneelawinen brechen gelegentlich von Vordächern oder Bäumen.
Großflächige, ruckel- und artefaktfreie Animationen sind dabei kein Problem für die aktualisierte Spielengine. Lediglich an den Wasseranimation scheint gelegentlich gespart worden zu sein. Neben vorgerenderten Animationen sorgen auch Echtzeit-Effekte wie aufsteigender Rauch für Bewegung im Bild.
Die Akteure werden wie inzwischen üblich durch eine Echtzeit-3D-Engine dargestellt. Dank genügend vielen Polygonen und Antialiasing wirken diese dabei sehr gut in die Umgebung integriert und trotz unterschiedlicher Technik nicht fehl am Platz. Dass die Charaktere gekonnt mit vorgerenderten Hintergründen kombiniert wurden, zeigen auch viele Kleinigkeiten: Es treten so gut wie keine Clipping-Fehler auf, 3D-Figuren hinterlassen in einigen Bildern Fußspuren im Schnee, Türen werden (anders als noch im ersten Teil) auch grafisch geöffnet und in Pfützen, in denen sich die Charaktere spiegeln, riffeln sich die Wellen beim Durchwaten.
Auch die cineastischen Zwischensequenzen haben die Bestnote verdient. Diese brauchen sich qualitativ nicht vor Animationsfilmen aus Hollywood zu verstecken und erzählen manchmal dramatisch, manchmal verträumt die Geschichte weiter. Die wichtigsten Szenen kann man jederzeit über das Spielmenü erneut ansehen.
Auch musikalisch hat sich Syberia etwas entwickelt. Die Themen, die im ersten Teil dominierten, weichen jetzt einer größeren, öfter situationsangepassten Musikvielfalt, die hervorragend komponiert ist. Wenn die Musik einsetzt, passt sie praktisch immer zur jeweiligen Stimmung im Spiel und auch die Zwischensequenzen sind sehr gekonnt vertont. Leider ist der Soundtrack im Spiel nur an recht wenigen Stellen zu hören, sodass man oft, von den Umgebungsgeräuschen und Soundeffekten abgesehen, durch einsame Stille läuft. Dies ist angesichts der hohen Musikqualität sehr schade.
Die Frage bleibt, wie Syberia II als Spiel funktioniert. Gelang es den Machern, aus dieser unglaublich atmosphärischen Welt auch ein spielbares Erlebnis zu machen oder bleibt diese lediglich eine Galerie aus faszinierenden Bildern und Tönen?
Hier hält sich Syberia II im Wesentlichen an seinen Vorgänger. Die Rätsel scheinen etwas schwerer geworden zu sein, weisen aber - von einigen Ausnahmen abgesehen - immer noch nicht die Komplexität vieler Mitbewerber auf. Wie auch im ersten Teil wird der Schwerpunkt auf das Erleben der faszinierenden Geschichte gesetzt, anstatt diese durch zu viele Hindernisse auszubremsen. Syberia II will kein Knobelspiel sein, sondern ein Kunstwerk.
Auf den ersten Blick wirkt Syberia II wie der erste Teil der Reihe. Stilistisch, optisch, am Interface und am bewährten Point & Click System scheint sich nicht viel verändert zu haben. So wirken beide Teile wie aus einem Guss und bilden eine Einheit. Trotzdem haben sich die Entwickler die Kritik zu Herzen genommen und erfreulich viele Details verbessert. Verschiedene Ausgänge aus einem Bild werden jetzt durch entsprechende Pfeile am Mauscursor unterschiedlich gekennzeichnet und Tastaturspieler können durch die optionale Tastatursteuerung auch ganz auf die Maus verzichten.
Auch an den Dialogen hat Microïds geschraubt. Nachdem ein Thema erschöpfend behandelt wurde, werden unwichtige Dialogoptionen jetzt nicht mehr auf dem Notizblock angezeigt. So spart man sich viel von dem aus Teil 1 hinreichend bekannten Mehrfachanhören von Dialogteilen. Auch Kameraschnitte werden jetzt bei verschiedenen Gesprächen dazu verwendet, Abwechslung in das Bild zu bringen. So beobachtet man schon ganz zu Beginn Ausschnitte der Unterhaltung mit Hans aus dem Nebenraum. Die Schnitte sorgen für noch mehr Filmgefühl im Spielverlauf.
Der wohl am häufigsten kritisierte Punkt von Syberia waren die langen und langwierigen Laufwege. Um keinen harten Bruch im Gameplay zu erzeugen, wurde dieser Aspekt eher subtil verbessert, aber verbessert wurde auch hier. Zwar sieht man Kate Walker immer noch Treppenabsätze hinaufgehen und Leitern heruntersteigen und Übersichtskarten mit Beamfunktion gibt es genauso wenig wie den direkten Szenenwechsel per Doppelklick, trotzdem wirkt das Spiel überwiegend etwas flüssiger als sein Vorgänger. So wurde die Zahl der Treppen reduziert und die Locations bestehen selten aus so vielen Hintergründen wie beispielsweise noch der Volierenbahnhof von Barockstadt. Trotz der leichten Beschleunigung steht der ruhige Spielverlauf von Syberia II weiterhin im Kontrast zum hektischen Alltag vieler Spieler – für kurzweiligen Spaß in der Mittagspause ist es eher nicht geeignet.
Ein Spiel wie Syberia II hat die bestmögliche Lokalisation verdient. Zwar wurde hier großteils gute Arbeit geleistet und im Gegensatz zum Auftakt der Reihe scheint das Spiel insgesamt etwas besser ins Deutsche übertragen worden zu sein, es wäre aber mehr möglich gewesen. In letzter Zeit wurden deutsche Adventure-Spieler gerade durch die exzellenten Lokalisationen von Toneworx verwöhnt und leider kann Microïds mit seinem Produkt dieses hohe Niveau nicht erreichen. So werden manche Wörter inkonsistent oder unglücklich übersetzt oder im Kontext unpassend betont. Immerhin wurden bekannte Akteure mit denselben Sprechern wie im ersten Teil besetzt.
Microïds hat seine Aufgabe exzellent gemeistert. Syberia ist weiter Syberia und fühlt sich auch so an, trotzdem gelang es dem Team um Benoît Sokal etliche Detailverbesserungen vorzunehmen, die nichts am Spielgefühl, wohl aber etwas an der Spielbarkeit ändern. Das ist genau das Kunststück, was nötig war, um die Syberia-Fangemeinde nicht zu enttäuschen und die Reihe gleichzeitig zu einem großen Ganzen zusammenzufügen, das jeder Adventure-Fan ausprobieren sollte.
Syberia ist ein Spiel für Genießer, eine gleichsam spannende wie bildgewaltige Reise in eine verfremdete Welt, symbolreich, ohne durch aufdringliche Sozialkritik zu nerven. Es ist schwer, dem Charme von Kate Walker und Hans Voralberg zu widerstehen und nur wenige von denen, die melancholisch auf den Abspann blicken und die vielen Stationen der Reise Revue passieren lassen, werden es bereuen, sich mit der überzeugenden Heldin der Reihe auf ein wahrhaft großes Abenteuer begeben zu haben. Lange ist es her, da die ungewöhnlichen Friedhofs-Automaten, ein Trauerlied für die verstorbene Anna Voralberg trommelnd, den Spieler in die skurille, jedoch seltsam realistische Spielwelt Benoît Sokals eingeführt haben und lange wird es dauern, bis dieses erstaunliche Werk in Vergessenheit gerät.
Respekt, Microïds! Ich hatte nicht erwartet, dass ihr das schwierige Kunststück vollbringt, die unverwechselbare Syberia-Atmosphäre aufrecht zu erhalten und trotzdem so viele Detailverbesserungen in das Spielprinzip einbringt. Hier hat jemand wirklich über sein Produkt nachgedacht und auch wenn mir ein Story-Aspekt am Schluss etwas zu sehr in der Luft hängt und eine noch bessere Lokalisierung dem Spiel angemessen wäre, bilden Syberia I & II eine wirklich beeindruckende Einheit, die einen festen Platz in meinem Adventure-Regal bekommen wird. Nur einen Wunschtraum habe ich noch: Die ultimative Syberia-Deluxe-Edition, in der beide Teile als geschlossenes Spiel vorliegen und in die die Detailverbesserungen von Syberia II auch in die erste Hälfte eingebaut werden.
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