Es gibt Firmen, die teilen die Adventuregemeinde in zwei Lager: Entweder man vergöttert sie, oder man hasst sie bis aufs Blut. Kaum eine Firma hatte diesen Status so inne wie die inzwischen in Konkurs gegangene "Cryo".
Das französische Entwicklerteam brachte mehrere erfolgreiche, fantasievolle Produktionen auf den Markt, darunter auch die bekannte "Atlantis"-Reihe.
Nun bringt eine neue Firma mit dem Namen "Atlantis Interactive Entertainment" über den Publisher "The Adventure Company" ein neues Spiel heraus: Atlantis Evolution.
Der Fotograf Curtis Hewitt, so der Name des Charakters, den der geneigte Spieler in den nächsten sechs bis acht Stunden verkörpern wird, liegt auf Deck der "Lemoria" und blickt in die Sterne als ein Sturm aufzieht. Ein zugegebenermaßen etwas seltsam nach "Grim Fandango" aussehender Seemann bittet ihn, umgehend in seine Kabine zurückzukehren, da es wohl ein wenig heftiger zugehen könnte. Aber Curtis Hewitt hält es nicht lange in der Kabine aus und will wieder zurück an Deck. Kaum hat er den Griff der Kabinentür in der Hand, wird diese schon aufgerissen und in heller Aufregung schreit ihn der Seemann an, das Schiff würde kentern und er müsse schnellstmöglich in ein Rettungsboot. Ausgelaugt überlebt er das Unwetter nur um festzustellen, dass er sich etwas zu nah an einem Strudel befindet. Ein paar halsbrecherische Umdrehungen später befindet sich Curtis plötzlich wieder auf ruhiger See und glaubt sich schon endgültig gerettet. Doch als ein zweiköpfiger Geier auf ihn zugeflogen kommt und ihn plötzlich ein großes Raumschiff aus dem Wasser "beamt", ahnt er, dass dies nicht mehr die ihm vertraute Welt ist.
Die Geschichte, die sich kurz nach diesem fulminanten Intro entwickelt, liest sich wie die vorherigen Atlantisfolgen "auf Speed": Kurz vor dem Untergang von Atlantis, rettet eine Handvoll Einwohner die anderen Atlanter, nur um sich zu Göttern und sie in der neuen Welt zu Sklaven zu machen, ohne freien Willen und in schweißtreibender Schufterei.
Curtis, der eigentlich nur seine Fotos von Patagonien suchen und schleunigst wieder nach New York verschwinden will, wird in einen Strudel aus Göttern, Eingeborenen und übertriebener Religion gezogen und letztlich liegt das ganze Schicksal des neuen Atlantis in seinen Händen.
Das Spiel kommt daher wie die anderen Atlantis-Spiele. Von der Oberfläche hat sich nicht viel getan. Wieder sehen wir ein sehr eigenwilliges Hauptmenü vor uns, durch das wir uns erst durch aufgeblendete Tooltip-Texte durcharbeiten müssen. (Obwohl das schon vor Jahren von den Fans bemängelt wurde)
Die Grafik wird wieder in einer fast-360-Grad-Rundumsicht gezeigt. "Fast" deshalb, weil man sich nicht ganz nach oben strecken und nicht ganz nach unten drehen kann. Curtis ist in derlei Hinsicht etwas faul.
Durch einen Klick auf die rechte Maustaste befindet man sich im "Inventory-Modus", in dem sich Sachen kombinieren, ansehen (rechte Maustaste) und für die spätere Benutzung im Spiel auswählen lassen (linke Maustaste).
Wege und Hotspots werden durch geeignete Mauscursorveränderungen angezeigt, ansonsten steht der Cursor starr im Mittelpunkt. Auch das von den ersten Spielen bekannte Fadenkreuz lässt sich auf Wunsch hinzuschalten.
Negativ zu bemerken wäre hier, dass der Abstand zwischen zwei Rundumsichten teilweise recht groß ist, was eine Neuorientierung erfordert und häufig zur Desorientierung des Spielers führt. Auch ist der Zeitbedarf der erzwungenen Vollinstallation zum Bildwechsel recht hoch und stoppt den Spielfluss. Zudem tragen die vielen Tode, die man in Atlantis Evolution sterben kann, nicht zur Freude des Spielers bei. Positiv wäre hier zu erwähnen, dass es immer eine Wiederbelebung vor dem verheerenden Fehler gibt.
Ein großer Pluspunkt bei bisher allen Atlantisspielen (und auch anderen Cryo-Spielen) war die liebevoll und umfangreich gestaltete Grafik. Starre Hintergründe wie in den ersten Myst-Teilen findet man hier nie. Immer flattert etwas, wiegt sich etwas im Wind, Figuren blicken umher oder Wasser fließt. Als großer Kritikpunkt seien nur die in 360-Grad häufig auftretenen verwischten Grafiken. Alles ist etwas unscharf und grobpixelig. Selbst bei den - wirklich hervorragenden - Cutscenes findet man Unschärfe und auch mal das ein oder andere Kompressionsartefakt. Somit ist der Inhalt der Grafiken hervorragend, die Technik der Grafiken aber leider nicht auf der technischen Höhe im Zeitalter der DVD-Spiele.
Weiterhin sei das ebenfalls von Cryo bekannte hervorragnde Ausarbeiten der Figurengrafiken bemerkt. Hier wehen Haare, wölben sich lange Kleider, werden Gesten gezeigt. Alle Figuren haben ein gewisses übertriebenes Comic-artiges Aussehen, was ihnen allerdings nicht schadet, sondern ihren Anblick sehr interessant gestaltet.
Was allerdings die Stimmung trübt ist das Fehlen von Lippensynchronität bei der Sprachausgabe. Dies ist nun wirklich Stand der Technik und komischerweise auch in den früheren Spielen nie ein Problem gewesen.
Was letztlich nochmals hervorzuheben ist sind die wirklich astreinen - wenn auch verschwommenen - Cutscenes. Die Anfangssequenz und auch kleinere Zwischensequenzen sind hollywoodreif. Dort wurde ganze Arbeit geleistet.
Auch in Sachen Sound gibt es nicht viel zu meckern. Die Musik ist sehr angenehm, läuft von bombastisch bis elektronisch-funky und passt zu den Umgebungen. Natürlich wünscht man sich immer mehr Musik, aber trotzdem kann man mit der Länge und der Anzahl verschiedener Tracks zufrieden sein. Dies gilt auch für die enthaltenen Soundeffekte.
Auch die Sprachausgabe ist recht professionell gehalten. Manchmal schleicht sich zwar ein Sprecher darunter, der noch nicht so oft vor dem Mikrofon stand, aber auch das hält sich in Grenzen. Allgemein kann man also sagen, dass das was man hört das was man sieht hervorragend ergänzt.
Wie vorher schon angesprochen lässt sich Atlantis Evolution ungefähr in sechs bis acht Stunden durchspielen.
Wenn man dazu noch die Information gibt, dass der Umfang der Story und der Welt recht groß ist, wird klar, dass die Rätsel nicht allzu schwer sein können.
Die Art der Rätsel gehen vom typischen Myst-Explorer-Stil bis hin zum Kombinieren von Inventory-Gegenständen, alles ist recht simpel und nicht zu komplex gehalten.
Das Problem bei den Rätseln ist nur die Tatsache, dass man oft gar nicht weiss, dass es Rätsel sind. An vielen - nicht allen - Stellen im Spiel läuft man recht ziellos und ohne Motivation durch die Gegend und weiss nicht so recht, was man sucht und ob man überhaupt etwas sucht.
Auch will sich keine rechte Beziehung zwischen dem Spieler und seiner Figur aufbauen, Curtis Hewitt wirkt zweidimensional, gibt vollkommen unpassende, vermeintlich komische Zwischenkommentare und gibt seine Motivation im neuen Atlantis nicht wirklich Preis. Auch bei anderen Charakteren kann man die fehlende Charakterisierung und Tiefe kritisieren. Keine enthaltene Figur wirkt wirklich plastisch. Und so vergeht einem nach einer Zeit ein wenig die Lust, nur die hervorragende Grafik und die ja doch etwas interessante Story geben einem den Mut, zu Ende zu spielen.
Was ein großer Kritikpunkt ist, sind die enthaltenen Minispielchen. Dies ist ja in letzter Zeit richtig in Mode gekommen: Wenn man nicht weiter weiss, einfach mal ein Minispielchen. Und hier hat Cryo, verzeihung, "Atlantis Interactive Entertainment" wirklich das große Los gezogen.
Ich weiss nicht, ob sie sich QBasic, einen C64-Emulator und eine Atari-Videospielkonsole besorgt haben, denn Atlantis Evolution feiert das 80er-Jahre Revival in puncto Minispiele. Alles ist dabei: Gorillas, Labyrinth, Shoot-em-up, Sokoban, Frogger, Tron, Hanoi und letztlich Pong.
Alle Minispiele lassen sich zwar binnen zwanzig Sekunden erledigen - auch für lahme Adventurehände - und machen auch ein Fünkchen Spaß aber sie passen leider so wenig ins Spielgeschehen, dass es fast schon komisch wirkt.
Wobei vielleicht genau das die Absicht der Atlantis-Macher war. Wie vorher gesagt, versucht auch Curtis komisch zu sein und es gibt auch zwei oder drei vermeintlich komische Cutscenes. Dieses Konzept will mit der philosophischen, ernsten Story überhaupt nicht in Einklang zu bringen sein, da teilweise auch die Texte der Charaktere ein hohes intellektuelles Level erreichen.
Nun. Was kann man zusammenfassend also sagen?
Sicherlich hat sich Atlantis Interactive Entertainment mit diesem Spiel Mühe gegeben. Die hervorragend gestalteten Grafik und die stimmungsvolle Musik sind ein Beispiel hierfür.
Trotzdem hätte man sich ein bisschen mehr Tiefgang in Sachen Story und Figuren gewünscht und etwas knackigere, logischere Rätsel, die besser in die Geschichte eingearbeitet sind, statt 80er-Erfolge im Minispielformat. Alles in allem also ein mittelmässiger Erfolg. Es lohnt sich, auf die Lowcost-Variante zu warten.
Atlantis Interactive Entertainment zeigt nur mäßiges Können in Sachen Storyentwicklung und Rätseldesign. Trotzdem hat mir das Spiel Spaß gemacht, nicht zuletzt wegen der hervorragenden Grafik und der Musik.
..und - neben Salammbo - ein Spiel von TAC, welches ich gut finde!
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