Dass eine Sherlock Holmes Lizenz alleine nicht ausreicht, um ein spannendes Adventure zu entwickeln, mussten Frogwares letztes Jahr mit ihrem Debüt "Sherlock Holmes - Das Geheimnis der Mumie" erfahren. Trotz der guten Voraussetzungen - Sherlock Holmes ist ja prädestiniert für ein spannendes Adventure - litt der Spielspaß unter vielen Schwächen, Spannung wollte nicht aufkommen.
Wie bei "House of Tales" gesehen, deren Erstlingswerk auch Schwächen aufwies, die sie dann mit The Moment of Silence grandios ausglichen, versucht nun auch Frogwares in einem neuen Anlauf alles besser zu machen und dem Meisterdetektiv aus der Feder von Sir Arthur Conan Doyle einen Fall vorzulegen, der seiner würdig ist. Wir prüfen, inwiefern ihnen das gelungen ist.
London, 1897. Knisterndes Kaminfeuer. Klassische Musik. Geschmackvoll eingerichtetes englisches Zimmer. Es könnte fast so etwas wie Sehnsucht nach der gemütlichen, alten Zeit "damals" aufkommen. Aber es wäre nicht Sherlock Holmes, wenn das lange so bleiben würde. Er und sein Assistent Dr. Watson wurden eingeladen, an einem festlichen Empfang des Großindustriellen Sir Melvyn Bromsby teilzunehmen, den er zu Ehren seiner aus der Schweiz zurückgekehrten Tochter Lavina Bromsby gibt. Zusätzlich will er an diesem Abend noch eine große Neuigkeit bezüglich seiner Firma bekannt geben.
Doch erstens kommt es anders, zweitens als man denkt: Nach einer bestechenden Einschätzung von Sherlock Holmes zu den Ambitionen und Freunden des Gastgebers, ergreift Sir Bromsby das Wort, um Sekunden später von einer Kugel tödlich getrofen zu werden. Die Kamera schwenkt in die Richtung, aus der die Kugel abgefeuert wurde, und die Gäste erblicken eine geschockte Miss Bromsby, die an diesem Abend ihren 18. Geburtstag feiern sollte. Aber der Fall wäre Sherlock Holmes nicht würdig, ließe er sich so einfach lösen. Auch wenn alle Indizien scheinbar auf die junge Schönheit hinweisen, Motive, den Mord zu begehen, hatten auch viele andere. Allerdings auch ein scheinbar hieb- und stichfestes Alibi. Die Ermittlungen führen Holmes und Watson schließlich an verschiedenste Schauplätze in und um London, von Zementfabriken zu alten Klöstern und verlassenen Bahnhöfen. Wie das ganze zusammenhängt, erfährt man in einer extra-langen Endsequenz, in der Sherlock Holmes alle noch so kleinen Beweise und Hinweise stichhaltig miteinander verbindet und seine unwiderstehlichen Schlussfolgerungen zieht.
Das soll es von der Geschichte nun aber gewesen sein, denn sie stellt ganz deutlich die herausragende Eigenschaft dieses Adventures dar, jeder Spieler sollte sich selber auf die Suche nach dem Mörder begeben. An dieser Stelle sei angemerkt, dass es mir bei weitem nicht möglich war, die Schlussfolgerungen von Sherlock Holmes vorwegzunehmen, ich tappte am Ende noch immer ziemlich im Dunkeln über die Motive und Hintergründe der Tat. Das Ende mag zwar für Könner schnell erreicht sein, aber wer sich wirklich mit dem Fall auseinandersetzen und ihn auch nachvollziehen möchte, sollte schon etwas genauer zuhören und hinschauen. Ein verschachtelteres und vielschichtigeres Komplott hat es bisher wohl noch in keinem Computerspiel gegeben!
Die Ermittlungen und somit das Spiel verteilen sich über 5 Tage im Oktober des Jahres 1897. Am Ende eines jeden Kapitels und Tages lassen Dr. Holmes und sein Assistent die Ereignisse der letzten 24 Stunden noch mal Revue passieren und tragen die gesammelten Beweisstücke zusammen. Dies läuft über ein Quiz ab, bei dem der Spieler Fragen von Sherlock Holmes mit Ja oder Nein beantworten muss. Die Antworten müssen zusätzlich mit den gesammelten Beweisen und Indizien begründet werden. Erst wenn alles richtig beantwortet wurde, dürfen sich die Herren ausruhen.
Eine nette Idee, aber leider nur unzulänglich umgesetzt. Es klingt spannender, als es letzten Endes ist. Die Fragen sind recht einfach und auch die anspruchsvolleren Aufgaben sind nach dem Durchlesen der Notizen schnell gelöst. Trotzdem, eine willkomene Abwechslung, hier hätte Frogwares aber mehr rausholen können.
Wenn es die Ermittlungen verlangen, kann Holmes auch einige Fund- und Beweisstücke an seinem Labortisch in der Bakers Street 221b untersuchen. Das Gefühl, wirlich einer Ermittlung beizuwohnen, ist hier besonders groß. Leider beschränkt sich das Mitwirken des Spielers aber wie beim vorher angesprochenen Quiz meistens auf ein paar Aktionen, die Sherlock Holmes zuvor angibt.
Die Grafik von "Das Geheimnis des silbernen Ohrrings" ist, wie so vieles, seinem Vorgänger "Das Geheimnis der Mumie" um Meilen voraus. Die Hintergründe sind schön gerendert und vermitteln vor allem die Zeit des englischen Viktorianismus ansprechend, sogar bis in die Menüs hinein. Auch die Personen wissen zu gefallen. Aber es gibt auch Abstriche: Die Hintergründe wirken oftmals viel zu steril und zeitweise sehr leer. Auch den Charakteren hätten die eine oder andere Animation nicht geschadet, auch bewegen sich die Lippen nicht immer synchron, ebenso die Gestik. Das Spiel bezieht seinen Reiz aber nicht aus der Grafik, die kleinen Mängel sind daher zu verzeihen, da es nach wie vor nett anzusehen ist.
An der Musik könnten sich womöglich die Geister scheiden. Mir persönlich hat sie außergewöhnlich gut gefallen, dass muss aber nicht für jeden gelten. Hatte The Moment of Silence noch vollends auf Ambiente gesetzt, schlägt "Das Geheimnis des silbernen Ohrrings" ins Gegenteil aus: "Nicht kleckern sondern klotzen", dachte man sich wohl in der Ukraine, und fertigte die Musikuntermalung komplett mit berühmten Komponisten klassischer Musik aus dem 19. Jahrhundert an: Dvorak, Grieg, Schumann, Tchaikovsky, Mendelssohn und Paganini... Und es passt ja auch hervorragend in das London des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Qualität selber ist über jeden Zweifel erhaben, wurden die Stücke doch extra vom Ukrainischen Symphonieorchester eingespielt. Einziger Wermutstropfen: Die Lieder wiederholen sich recht oft. Möglich, dass dies auch bei anderen Spielen so ist, bei einem Violinesolo fällt so was aber sehr viel mehr auf als bei irgendeinem Supermarktgedudel.
Die Soundeffekte sind durch die Bank hochklassig und abwechslungsreich, ob Sherlock Holmes nun übers Parkett schreitet oder über asphaltierte Straßen (gemächlich) sprintet oder im Gras nach Beweisen stöbert: Zu jeder Lage gibt es die entsprechenden Töne.
In gewohnt hervorragender Manier liefert dtp eine tadellose Übersetzung ab, die Sprecher wurden mit Bedacht gewählt, und sie haben ihre Arbeit alle ausnahmslos gut gemacht. Viel mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen.
"Das Geheimnis des silbernen Ohrrings" ist ein klassisches Point & Click Adventure, sämtliche Interaktionen können mit der Maus ausgeführt werden. Gespräche mit Verdächtigen und Zeugen laufen im gewohnten Verfahren ab, ebenso das Einsammeln von Beweisen und Gegenständen. Lediglich das Inventar ist etwas umständlich zu bedienen. Jeder daraus entwendete Gegenstand muss erst umständlich wieder zurückgelegt werden, bevor man sich anderen Dingen zuwenden kann. Dieser Fehler wurde auch schon bei "Das Geheimnis der Mumie" gemacht, vielleicht schaffen es Frogwares ja beim nächsten Mal.
Die Wegfindung funktioniert im Vergleich zu anderen Spielen fast fehlerlos, nur hin und wieder lässt sich Holmes von unsichtbaren Wänden von seinem Tun abhalten. Misslungen ist im Gegensatz dazu der Wechsel von einem Raum in einen anderen oder auch der Szenenwechsel innerhalb eines Zimmers. Da die "Ausgänge" zu anderen Szenen nicht immer gut gekennzeichnet sind, kann es passieren, dass bestimmte Ort einfach übersehen werden, wenn man nicht ganz genau hinsieht und hinzielt.
Der Fall "Der Silberne Ohrring" lässt sich nur durch nachvollziehbare Ermittlerarbeit lösen, was das Spiel etwas von seinen Genrekollegen unterscheidet. Klassische Rätsel im Sinne von "Benutze X mit Y um Z zu verändern" finden sich nur sehr spärlich, stattdessen gilt es, jeden möglichen Zeugen auszufragen (die Art und Weise ist leider eng vorgegeben) und immer - immer! - die Augen offenzuhalten, nach jedem noch so winzigen und unscheinbaren Beweisstück. Mit seiner Lupe, einem Maßband und einem Reagenzglas ausgestattet, entgeht Sherlock so schnell kein Hinweis. Leider aber manchmal dem Spieler. Es mag ja zu einer glaubwürdigen Detektivgeschichte dazugehören, dass man aufmerksam die Umgebung erkundet, aber phasenweise wird das bei "Das Geheimnis des silbernen Ohrrings" recht mühsam, wenn einzelne Haare der Entdeckung fröhnen. Da Sherlock Holmes nie einen Tatort verlässt, an dem er auch nicht alles Interessante gefunden hat, führt das dazu, dass man Zimmer um Zimmer nach ein paar übersehenen Zigarettenstummeln absuchen darf.
Konnte man in "Das Geheimnis der Mumie" noch sterben, ist dies in "Das Geheimnis des silbernen Ohrrings" nicht mehr möglich. Aber die Ermittlungen können scheitern, wenn Sherlock Holmes bei seinen Nachforschungen erwischt wird oder er wichtige Beweise nicht rechtzeitig sichert. Im ganzen Spiel gibt es aber lediglich zwei solcher Action-Einlagen, die mit etwas Geschick schnell gemeistert sind und willkommene Abwechslung boten.
In einem solch komplizierten Fall, wie es "Der silberne Ohrring" ist, kommt es natürlich auch auf die richtige "Buchführung" an. Dr. Watson (der zeitweise ebenfalls gesteuert werden kann) und Sherlock Holmes notieren sich in ihrem Notizbuch gewissenhaft jede Unterhaltung, jeden Gegenstand, jeden Brief und jedes Photo, dass nicht schnell genug vor ihnen in Sicherheit gebracht wurde. So sammelt sich im Laufe des Spiels eine hübsche Ansammlung von Indizien an, in denen man immer wieder mal gerne schmökert, wenn man sich seine eigenen Gedanken zum Tathergang machen möchte. "Das Geheimnis des silbernen Ohrrings" spielt sich wie eine große Ermittlung, die sogar Spaß macht.
Um die unvergleichliche Atmosphäre von London am Ende des 19. Jahrhhunderts einzufangen, haben Frogwares weder Kosten noch Mühen gescheut. Tausende Photos wurden vor Ort in London geschossen und sämtliche Sherlock Holmes Bücher und Fälle noch einmal durchgegangen, um auch wirklich ein authentisches Bild vermitteln zu können (siehe auch unser Interview mit Waël Amr). Die Mühen haben sich gelohnt, durch die Musik, die Hintergründe, das etwas antiquitiert anmutende Gehabe der Menschen, deren Kleidung und nicht zuletzt dank der schön gerenderten Zwischensequenzen fühlt man sich sofort per Zeitmaschine 110 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Neben der gelungenen Hintergrundgeschichte ist das der zweite große und uneingeschränkte Pluspunkt des Spiels.
Frogwares haben sich die Kritik an "Das Geheimnis der Mumie" wirklich zu Herzen genommen und dieses Mal die Stärken der Sherlock Holmes Lizenz konsequent ausgenutzt und eine wirklich unterhaltsame und aufregende Geschichte in einem glaubwürdigen Szenario abgeliefert. Dennoch ist nicht alles Gold, was glänzt. Und wenn wir wie der Meisterdetektiv streng und genau beobachten, leidet auch "Das Geheimnis des silbernen Ohrrings" an gewissen Schwächen. Die Grafik ist zwar auf den ersten Blick sehr ansehlich, aber viel zu steril. Die Personen sind sehr detailliert, wirken aber beizeiten zu steif. Die Steuerung geht relativ leicht von der Hand, wird aber vor allem im Inventar eher umständlich. Das Quiz ist eine sehr nette Idee, die aber unzureichend ausgearbeitet wurde, das gleiche gilt für den Labortisch, der nicht mehr bietet als ein paar Anzeichen für das, was hätte sein können. Das Suchen und Forschen ein integraler Bestandteil eines jeden Detektivlebens ist, leuchtet ein, dennoch ist die Pixeljagd manchmal frustrierend.
Über jeden Zweifel erhaben ist aber die spannende Hintergrundgeschichte, in der sich die ganze Genialität von Sherlock Holmes widerspiegelt. Unvorhergesehene Wendungen, weitere Morde, neue Verdächtige, unscheinbare Hinweise... das Gefühl, als Detektiv an dem Fall beteiligt zu sein, wurde glaubwürdig auf die Festplatte gebracht.
Sherlock Holmes: Das Geheimnis des Silbernen Ohrrings ist wie ein gutes Buch. Spannend erzählt, ungemein fesselnd und anregend zugleich. Da es aber auch ein Computerspiel ist, muss die Technik und Darstellung stimmen. Zu einem großen Teil tut sie das auch, aber in den Details offenbaren sich Schwächen, die dem Spielspaß nicht dienlich sind. Trotzdem: Weiter so, Frogwares! Der Sprung von der Mumie zum Ohrring ist beachtlich, und wenn die Entwicklung so weiter geht, fiebere ich schon den nächsten Abenteuern von Sherlock Holmes bei Frogwares entgegen!
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