Mit "Mord im Orient Express" ist jetzt nach dem eher mäßigen "Und dann gabs keines mehr" das zweite Adventure (wenn man The Scoop von 1988 einmal weglässt) basierend auf einem Agatha-Christie-Roman (vielleicht sogar dem beliebtesten) erschienen. Für die Umsetzung der Romanvorlage von 1934 zu einem für ein Adventurespiel geeignetem Drehbuch zeigte sich erneut Lee Sheldon verantwortlich. Alteingesessenen Adventurefans dürfte dieser schon von Spielen wie "The Riddle of Master Lu" bekannt sein. Alle Abweichungen vom Roman und das versprochene alternative Ende stammen also aus seiner Feder. Wie diese Umsetzung gelungen ist und ob die Designschnitzer vom Vorgänger ausgemerzt werden konnten, lest ihr in unserem Test.
Für Antoinette Marceau beginnt ein ganz normaler Arbeitstag als Angestellte der Eisenbahngesellschaft im Jahr 1934. Im Auftrag von Monsieur Bouc soll sie dem reisenden belgischen Meisterdetektiv Hercule Poirot seinen Aufenthalt im berühmten Orient-Express so angenehm wie möglich gestalten. Nach einigen widrigen Umständen befinden sich die beiden dann auch in Abteilen des Zuges wieder und gewinnen erste Eindrücke von ihren Mitreisenden. Doch die Idylle trügt: Nachdem der Zug aufgrund einer Schneelawine notbremsen musste, wird Mr. Ratchett, ebenfalls Passagier, kaltblütig ermordet. Doch auch wenn der Personenkreis, der für den Mord in Frage käme sehr klein ist, gestaltet es sich schwierig, einen Verdächtigen zu finden. Zu allem Überfluss hat sich Monsieur Poirot, der sich schon in der Vergangenheit durch die Lösung aufsehenerregender Kriminalfälle einen Namen gemacht hat, den Fuß verstaucht. Und so kommt es, dass Antoinette Marceau die eigentliche Ermittlungsarbeit übernimmt. Doch kann sie diesen Fall lösen?
Da Kriminalistik das geheime Hobby der Bürogehilfin der Eisenbahngesellschaft ist, fällt es ihr nicht schwer, mit den Ermittlungen zu beginnen. Sie erstellt Passagierlisten, sammelt Reisepässe ein und befragt natürlich alle Reisenden genau nach ihren Beobachtungen. Schnell wird klar, dass nicht alle Mitreisenden kooperationsbereit sind. Doch macht sie das verdächtig? Aufgrund für Detektivarbeit mangelhafter Ausrüstung muss der Spieler kreativ sein, um Indizien wie Fingerabdrücke aufnehmen zu können. Doch dass sich viele Hinweise, Indizien und außerdem die Aussagen der Passagiere widersprechen, macht die Sache nicht einfacher.
Um den Verlauf der Geschichte adventuretauglich zu machen, hat Lee Sheldon einige Anpassungen vorgenommen. So wurden zusätzliche Charaktere eingeführt und auch das Ende unterscheidet sich von der Buchvorlage. Auch Protagonistin Antoinette Marceau kommt nicht im Buch vor. Die Idee, einen Charakter dem Detektiv Poirot zuarbeiten zu lassen, überzeugt aber. Und so beginnen die beiden schon vor dem eigentlichen Fall mit einer Observation der anderen Passagiere, um sich die Zeit zu vertreiben. Später, beim Lösen des Mordfalls dient Poirot dann als Tippgeber und Unterstützung. Hier fällt negativ auf, dass dieser Dinge weiß, die er eigentlich nicht wissen kann. Lieber hätte man noch ein transparentes Hilfesystem anbieten sollen, als eine übermenschliche Figur, die vom Krankenbett aus hellsieht.
Die Grafik von Mord im Orient Express ist mittelmäßig bis gut. Die wenigen Außenareale (das Geschehen spielt hauptsächlich im Zug) sind schön ausgearbeitet, besonders der Bahnhof Sirkeci überzeugt durch seinen Detailreichtum. Auch der Orient-Express selbst lässt viele Elemente seines realen Vorbildes wiedererkennen. Doch trotzdem ist die optische Gestaltung des Spiels nicht ganz auf der Höhe der Zeit, die Hintergrundbilder wirken manchmal zu sehr wie aus dem 3D-Baukasten. Und natürlich bieten identische Abteile nicht gerade viel Abwechslung, auch wenn gerade diese sehr aufwändig gestaltet sind. Insgesamt ergibt sich aber ein ausgeglichenes Gesamtbild, abgerundet durch gut platzierte Animationen und charismatisch gestaltete Charaktere (deren Gesichtsanimationen aber recht steif wirken). Diese sind im Übrigen als 3D-Modelle in die Umwelt eingebettet, werden farbig beleuchtet und werfen korrekte Schatten. Leider gibt es beim Schauplatzwechsel oft Ladebildschirme. Die Videosequenzen sind fast kinoreif geschnitten und gerade die Kamerafahrten über den fahrenden Zug könnten atemberaubend sein, wären sie nicht von so schlechter Qualität (wahrscheinlich aufgrund hoher Kompression). Außerdem fehlen manchmal kleine Details. Beispielsweise unterhalten sich Charaktere über ihr Essen, ihre Teller sind aber leer.
Auch die Soundeffekte sind gut in die Spielwelt integriert und passen zur jeweiligen Situation. Sowohl Geräusche wie das Stampfen der Lokomotive oder der Wind, der über die schneebedeckte Landschaft hinwegfegt, wirken authentisch. Mit Musikuntermalung geht das Spiel aber recht sparsam um. Die Zwischensequenzen sind teilweise mit immer dem gleichen Thema unterlegt, der Rest des Spiels ist nicht musikalisch untermalt.
Bei den Rätseln haben die Entwickler ganze Arbeit geleistet und ein großes Spektrum an unterschiedlichen Rätseltypen eingesetzt. So müssen typische Aufgaben wie das Befragen von Verdächtigen und das Durchsuchen der verschiedenen Abteile gemeistert werden. Vor dem Einsteigen in den Zug wirken die Rätsel allerdings etwas künstlich. Aufgabe ist es, in den Bahnhof zu gelangen, doch immer wieder verstellen Passanten den Weg. Statt diese einfach zu umgehen, muss man bestimmte Gefälligkeiten erweisen.
Dies ändert sich aber mit dem Einsteigen in den Zug. Ab dort vergrößert sich das Inventar schnell auf bis zu 80 Gegenstände, die dann zur Lösung anderer Rätsel zerlegt oder kombiniert werden können. Aufgrund der großen Anzahl gestaltet sich das jedoch gar nicht so einfach. Trotzdem bleiben die Rätsel immer logisch und sind mit ein bisschen Denkarbeit schnell zu lösen. Viel Zeit verbringt der Spieler auch mit Konversationen mit den Reisenden, die nicht zuletzt deshalb so interessant sind, weil die Befragten aus völlig verschiedenen Kulturkreisen stammen. Da gibt es den griechischen Arzt, der grundsätzlich den jugoslawischen Behörden misstraut oder die amerikanische Touristin, die mit ihren typisch amerikanischen Ansätzen hier und da aneckt (ihr erster Gedanke, nachdem der Zug von der Schneelawine gestoppt wurde ist, ihren Anwalt deswegen zu kontaktieren).
Interessant ist auch die Möglichkeit, Fingerabdrücke von Personen zu nehmen und diese dann mit Abdrücken von bestimmten Gegenständen zu vergleichen. Die Umsetzung dieser Option ist aber weniger gelungen. Verglichen wird, indem man zwei Abdrücke gegenüberstellt und einen Button drückt. Das wird mit zunehmender Anzahl an Abdrücken beschwerlich. Hier wäre es schöner gewesen, die Anzahl an Abdrücken zu begrenzen und die Möglichkeit zu schaffen, Abdrücke selbst zu vergleichen. Zu guter letzt muss der Spieler auch einige Logikrätsel lösen (Zusammensetzen eines zerrissenen Briefes, Bau einer Batterie aus Komponenten wie Orangensaft und Armband).
Das Spiel bietet im anfänglichen Spielverlauf zwei Möglichkeiten, wie der restliche Spielverlauf gestaltet werden soll. Entweder man möchte sich von Hercule Poirot unterstützen lassen oder die Rätsel alleine lösen, um sich mit ihm zu messen. Am Spielverlauf selbst ändert dies jedoch nicht viel, der Alleingang-Modus ist interessanter. Wenn man sich von Poirot helfen lässt, gibt er das ganze Spiel über Tipps, die schon vorher offensichtlich waren. Wenn man aber wirklich feststeckt, steht man trotzdem alleine da. Im anderen Modus informiert Poirot einen von Zeit zu Zeit, was er anders gemacht hätte, was um einiges interessanter als nutzlose Hinweise ist.
Die Steuerung erfolgt genretypisch über die Maus. Das Inventar öffnet sich durch einen Rechtsklick und bietet neben den eingesammelten Gegenständen auch den Zugang zu Dokumenten und Fingerabdrücken. Die Steuerung der Protagonistin ist ebenso einfach: Mit einem Linksklick wird navigiert, mit einem Rechtsklick über Symbole interagiert. Laufwege können durch einen Doppelklick abgekürzt werden. Außerdem kann man innerhalb des Zuges über eine Leiste am oberen Bildschirmrand, die nur bei Bedarf eingeblendet wird, mit einem Klick zum gewünscht Waggon wechseln. Speichern kann man außer bei Dialogen und Zwischensequenzen immer und in unbegrenzter Anzahl.
Die Übersetzung und Synchronisation sind sehr gut ausgefallen. Der Humor wurde gut ins Deutsche übertragen und die Synchronstimmen überzeugen. Gerade die sympathische Stimme von Antoinette Marceau und die etwas hochnäsige von Hercule Poirot, die den Spieler das ganze Adventure über begleiten, sind sehr gut gewählt. Aber auch die restlichen Charaktere, vom türkischen Lokomotivführer bis zum italienischen Autoverkäufer gefallen. Die gute Synchronisation rundet die ohnehin schon gelungene atmosphärische Gestaltung ab.
Mord im Orient Express ist ein spannendes Detektivspiel, dessen Ende bis zum Schluss nicht absehbar ist. Die sympathische Antoinette Marceau wird sehr gut in die Geschichte integriert, auch wenn sie im Roman nicht vorkommt. Enttäuschend ist die unrealistische Integration von Hercule Poirot, der anscheinend übermenschliche Fähigkeiten besitzt. Trotzdem macht es Spaß, die Verdächtigen zu vernehmen, Fingerabdrücke zu vergleichen und Hinweise zu sammeln. Die unerwartete Wendung, die die Geschichte am Ende einschlägt, dürfte nicht nur Kenner des Romans von Agatha Christie überraschen. Die technische Gestaltung des Spiels ist in Ordnung, die Synchronisation durchaus gelungen.
Auch wenn ich kein Fan von Agatha Christie bin, hat mir das Spiel zum Buch Mord im Orient-Express sehr viel Spaß bereitet. Die Geschichte ist mysteriös und bis zuletzt spannend, die technische Umsetzung gelungen. Die Zwischensequenzen hätten qualitativ etwas besser ausfallen können, dafür entschädigt aber die überwiegend gute Gestaltung der Hintergründe. Einziges Manko: Es sind zu wenige. Ich hätte mir noch ein paar mehr Aufenthalte an Bahnhöfen gewünscht, das Geschehen spielt aber zu 90% innerhalb des Zuges. Außerdem wirken die Charakteranimationen etwas zu steif und von Lippensynchronität beim Sprechen kann gar keine Rede sein. Doch auch wenn man immer wieder die gleichen Räumlichkeiten durchstreift und die gleichen Charaktere befragt, wird einem nicht langweilig.
Alles in allem ist Mord im Orient Express ein gutes Spiel, das eine deutliche Steigerung zum Vorgänger (Und dann gabs keines mehr) darstellt. Die Rätsel sind anspruchsvoll und logisch aufgebaut, die Spielzeit dürfte bei etwas mehr als zehn Stunden liegen. Einige wenige Elemente wie das Vergleichen der Finger- oder Fußabdrücke ziehen diese aber künstlich in die Länge. Adventurespieler können beruhigt zugreifen, Fans der Agatha-Christie-Romane sowieso.
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