Seit Beginn seiner Schaffensperiode widmete sich Sylvain Seccia der Entwicklung eigener Software sowie unzähliger Minispiele unterschiedlicher Genres. Adventure-Freunde ließ er um 2012 aufhorchen, als er mit der Adventure Game Engine (AGE) eine neue, kostenlose Entwicklungsumgebung präsentierte. Wer diese Anwendung nutzte, musste keine komplexe Skriptsprache erlernen und durfte sein Endprodukt sogar kommerziell vertreiben. Der Andrang hielt sich dennoch seither in Grenzen, was womöglich auch der großen Konkurrenz zuzuschreiben ist. Das hinderte Seccia aber keinesfalls daran, unter Zuhilfenahme dieser Engine und mit wenigen Mitarbeitern sein erstes Adventure zu realisieren, das die Geschichte des jungen Désiré erzählt. Wir haben uns den französischen Titel, der als poetisch und brisant angepriesen wurde, näher angesehen.
Ein kleiner Junge sitzt, von tiefer Traurigkeit gezeichnet, in einem Klassenzimmer und weigert sich, eine simple Aufgabe zu erfüllen – ganz zum Missfallen seiner Lehrerin. Diese kann nämlich nicht begreifen, warum er es seinen Mitschülern nicht gleichtun und eine Sonne malen kann. Doch der bekümmerte Knabe zögert nicht, die bestürzende Wahrheit zu enthüllen. Er habe die Sonne niemals erhaschen können, denn in seinem Kopf herrsche ewige Nacht. Mit dieser Erkenntnis verblassen die Farben auf dem Monitor und der Spieler beginnt allmählich zu verstehen. Fortan betrachtet dieser die Welt mit den Augen von Désiré, der unter einer angeborenen Achromatopsie leidet und seine Umgebung lediglich in Graustufen wahrnehmen kann. Die wahre Schönheit der Dinge, die für andere so selbstverständlich scheint, bleibt unserem Protagonisten also verborgen. Jene bedrückende Last verursacht eine große Leere in Désirés Seele, doch dieser gibt die Hoffnung nicht auf. So bestreitet er sein Dasein, obwohl sich eine Niederlage an die nächste reiht, als Suchender. Er spürt, dass irgendwo ein Geheimnis auf ihn warten muss, welches seinem Leben Farbe verleihen wird. Dem Spieler wird dabei nicht entgehen, dass Désiré, wenngleich kein typischer Antiheld, auf seinem Leidensweg stets zu zweifelhaften Entscheidungen neigt, mit denen er etwa gutgläubigen Mitmenschen Probleme und sich selbst zugleich Schuldgefühle bereitet.
Im Laufe einer etwa 6-8 Stunden umfassenden Spielzeit verfolgt man Désirés Leben quasi im Schnelldurchgang, da sich das Abenteuer auf vier Etappen erstreckt. 1992 erhält der Spieler einen Einblick in Désirés Kindheit und im nächsten Moment – im Jahr 2003 – ist bereits ein junger Mann aus ihm geworden, der beruflich Computerspiele programmiert. Zwei weitere Episoden ereignen sich 2011 sowie 2020. Während der Wiedereinstieg nach dem ersten Zeitsprung noch leichte Verwirrung verursacht, entpuppt sich diese Erzählweise bald als gelungener Geniestreich. So wird der Spieler Zeuge der Entwicklung und Nicht-Entwicklung der Hauptfigur, die in jedem Kapitel neue Erkenntnisse gewinnt. Diese äußern sich meist im Dialog mit imaginären Charakteren, da Désiré schon seit Kindertagen zu derartigen Einbildungen neigt. Ebenso treiben reale Personen die Handlung voran, zumal diese sehr tiefgründig ausgearbeitet wurden. Im Rahmen ausgiebiger Konversationen lernt man seine Zeitgenossen als Individuen kennen, die häufig spezielle Randgruppen verkörpern. So werden die Ausmaße einer profitorientierten Gesellschaft neben sozialen Missständen wie Obdachlosigkeit, Sexismus oder Homophobie thematisiert. Dabei wird ebenso wenig beschönigt wie schwarz-weiß gezeichnet, womit ein herrlicher Widerspruch zur Optik des Adventures geschaffen wäre. Trotz der ernsten Hintergrundgeschichte und der geradezu depressiven Grundstimmung ist Désiré stets mit einem feinen schwarzen Humor gesegnet. Dass der Autor ein Mindestalter von 16 Jahren empfiehlt, ist durchaus gerechtfertigt. Obgleich das Spiel nicht auf Erotik ausgerichtet ist, wird man gelegentlich mit obszönen Situationen konfrontiert – hierzu zählt unter anderem ein äußerst skurriler, abstoßender Traum. So vulgär das Spiel manchmal sein mag, wirken solche Darstellungen doch niemals plump. Vielmehr fügen sie sich effektiv in ein Spielgeschehen ein, welches durch die Kritik an der modernen Gesellschaft angetrieben wird.
Dass die Produzenten eher zum Nachdenken bewegen möchten, anstatt ein heiteres, leicht verdauliches Adventure zu präsentieren, lässt sich in keiner Minute bezweifeln. Die charmanten, ursprünglich handgezeichneten Szenenbilder verharren in einer düsteren Farblosigkeit und lassen den Spieler den Kummer der Hauptfigur schonungslos nachempfinden. Während der kurze Prolog noch einen nahezu kindlich naiven Eindruck vermittelt, wird der Spieler anschließend ganz unverhofft in eine kalte, bittere Welt entlassen, die stilistisch von Graphic Novel-Bänden, also Comic-Romanen für Erwachsene, beeinflusst scheint. Wie viel Liebe in diese Schauplätze gesteckt wurde, zeigt sich nicht zuletzt im hohen Detailreichtum, der ihnen zu eigen ist. Diese Beobachtungen lassen sich auch auf die Charaktere übertragen, deren Mimik und Gestik sehr authentisch wirkt und das Spiel mit Leben füllt. Meist scheint es, als könnte man das Gemüt eines Menschen an seinem Gesicht oder der Haltung ablesen – allen voran Désiré, dessen trübsinniger, unentschlossener Blick trotz deutlich vernehmbarem Alterungsprozess niemals schwindet. Außerdem wird jede erfolgreich ausgeführte Aktion mit einer entsprechenden Charakteranimation belohnt. Die Umgebung selbst wurde in zurückhaltendem Maße animiert, was in Anbetracht des allgegenwärtigen Schwermuts angemessen scheint. Überdies wird unser Abenteuer immerzu von wundervollen, gefühlsbetonten Klavierkompositionen begleitet, die häufig Désirés Traurigkeit unterstreichen, aber den Spieler auch in eine unbehagliche, unheilvolle Stimmung versetzen. Zudem gelangen wir in den Genuss des großartigen, von Lorena Masikini gesungenen Titelliedes Young Boy, welches das melancholische Wesen des Spiels ideal einfängt. Wer hingegen andere akustische Laute erwartet, wird enttäuscht werden. Gewöhnliche Geräusche, und sei es nur beim Öffnen von Türen, wurden nicht integriert. Dasselbe trifft auf die Sprachausgabe zu, obgleich für Intro und Outro einige Passagen eingesprochen wurden – übrigens in unterschiedlichen Sprachen. Nachdem sich Désiré mit seiner Lehrerin auf Französisch unterhalten hat, meldet sich ein englischsprachiger Erzähler zu Wort - natürlich jeweils mit übersetzenden Untertiteln. In der Regel ist allerdings die Lektüre der Bildschirmtexte notwendig, die bislang nicht in deutscher, unter anderem aber in englischer Sprache vorliegen.
Sylvain Seccias eigene Engine hat eine simple, komfortable Steuerung ermöglicht. Sämtliche Aktionen werden durch einen Linksklick ausgelöst, wohingegen die rechte Maustaste das Inventar am unteren Bildschirmende erscheinen lässt. Auf konventionelle Weise lassen sich somit zuvor eingesammelte Gegenstände untereinander sowie mit Hotspots und Personen im Szenenbild kombinieren. Der Mauscursor scheint etwas inkonsequent, da er in roter Farbe aufleuchtet – ein unvermeidlicher Vorgang jedoch, da dieser sich von der kontrastarmen Kulisse abheben sollte. Meist gilt es, einen übergeordneten Plan zu befolgen, der nur im jeweiligen Kapitel von Bedeutung ist. So beschließt Désiré anfangs, Rache an einem ihn mobbenden Mitschüler zu üben. Da dieser eine Leidenschaft für leicht oder gar nicht bekleidete Damen hegt und gerne mit entsprechendem Anschauungsmaterial in der Schultoilette verschwindet, ist der Schwachpunkt des Feindes rasch gefunden. In späteren Jahren ist Désiré bestrebt, das Herz einer jungen Frau zu erobern, indem er ihr ein einzigartiges Geburtstagsgeschenk bereitet und zugleich ihre Gesangskarriere fördert. Der Plan erfordert es also, ein romantisches Lokal und ein Klavier zu mieten, damit sich die Angebetete vor zahlreichen Menschen beweisen kann. Die Rätsel zeugen von Kreativität, wobei die Lösung in vielen Fällen recht naheliegend scheint. An manchen Stellen knobelt man hingegen schon eine Weile, sodass die klassische Adventure-Kost keineswegs zu kurz kommt. Inventarrätsel sind übrigens nicht alles, was das Spiel zu bieten hat. So muss man etwa eine Tic Tac Toe-Partie gegen einen geschulten Gegner bestehen oder ein Phantom aus Désirés Vergangenheit nach alter Indiana Jones-Manier im Faustkampf besiegen. Da Multiple Choice-Dialoge letztlich gefühlte 60-70 Prozent des Gameplays ausmachen, wurden diese ganz souverän ins Rätseldesign eingeflochten. Zuweilen müssen also die richtigen Zeilen ausgesprochen werden, um eine Person in unser Vertrauen zu ziehen. Und das ist gar nicht so einfach.
So blass dieses Adventure zunächst einmal anmuten mag, entfacht es umso mehr Farbe im Herzen des Spielers. Hinter den geistreichen Zwiegesprächen verbirgt sich nämlich eine ganze Menge. Der Umgang mit heiklen Themen, die uns alle beschäftigen dürften, geschieht auf sensible wie humorvolle Weise – vor allem jedoch unverblümt. So ist Désirés Suche nach dem großen Hoffnungsschimmer kaum als erzählerische Ausarbeitung einer Studie über Farbenblindheit zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um ein modernes Märchen für Erwachsene, eher schmerzlich als erbaulich, aber voller Wahrheit und Poesie.
So schön, so bitter, so ergreifend… Désiré zog mich mit seinem unvergleichlichen, französischen Charme rasch in seinen Bann – und kurz vor dem Zeitsprung ins Jahr 2011 war die Spannung kaum auszuhalten. Dabei verfolgte ich keinen Krimi oder Mysterythriller, sondern nur das Leben eines vom Leid geplagten Mannes. Und wer The Cat Lady gespielt hat, wird vielleicht wissen, welche Magie solche interaktiven Charakterstudien versprühen können - nicht zuletzt durch unverhohlene Darstellung des Hässlichen. Sylvain Seccia hat seine Sache wirklich gut gemacht. Ich hoffe doch sehr, dass dies nicht sein letzter Ausflug ins Adventure-Genre war.
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