Was ist eigentlich ein „Gnaborretni“? Nun ja, ein „Interrobang“ ist ein Satzzeichen, das 1962 von Martin Speckter als Ersatz für die manchmal informell benutzte Kombination „?!“ erdacht wurde. Es sah aus, als würde man ein Ausrufezeichen und ein Fragezeichen an dieselbe Stelle schreiben. Das obskure Symbol hat es sogar auf einige Schreibmaschinen geschafft. Nun gibt es aber zum Beispiel im Spanischen nicht nur am Ende von Fragen Fragezeichen, sondern auch am Anfang – um 180° gedreht. Logische Konsequenz ist also ein auf den Kopf gestelltes Interrobang: Das Gnaborretni.
Aber was hat das Ganze mit „Golden Life - Unterwegs nach Brasilien“ zu tun? Gar nichts! Und doch lässt sich das Machwerk der russischen Schmiede RootFix Entertainment kaum besser nacherzählen, denn Sinn sucht man in der wirren Story vergebens.
Natürlich könnte man das zu Grunde liegende Buch „Das Goldene Kalb“ aufschlagen (Kalb? Leben? Egal.), oder wenigstens die entsprechende Wikipedia-Seite, und sich über die Handlung informieren. Dann lernte man beispielsweise, dass die Literaturvorlage ein satirischer Roman von 1931 ist, der die Geschichte von „Zwölf Stühle“ fortsetzt. Man erführe, dass es darin um den Betrüger Ostap Bender geht, der sich hier und da Geld erschwindelt, obwohl er im politischen System der Sowjetunion nicht wirklich etwas damit anfangen kann.
Da muss natürlich die Frage erlaubt sein, ob es überhaupt Spaß macht, einen Betrüger zu spielen? Wie wird damit im Spiel umgegangen, dass man eigentlich unsympathische Dinge tut? Das Konzept kann funktionieren, schließlich sind Piraten auch böse, und doch kann man dem naiv-trotteligen „Ich will ein Pirat werden“-Möchtegernfreibeuter Guybrush Threepwood in seiner romantisierten Karibikwelt nichts übel nehmen.
Anders Golden Life. Das Spiel versagt kläglich, wenn es versucht, Spieler und Hauptfigur irgendwie aneinander zu gewöhnen. Anfangs mag man dem Protagonisten seine Schwindeleien noch verzeihen. Wenn Ostap im späteren Spielverlauf alte Frauen, die Lebensmittel verteilen, durch das Freilassen einer Ratte in die Flucht schlägt und Millionenbeträge aus einem korrupten Genossen presst - ja, richtig gelesen - fragt man sich schon, ob man nicht auch einem Betrüger spielenswertere Aufgaben hätte stellen können.
Aber vielleicht ist das alles ja witzig gemeint. Vielleicht ist Golden Life raffinierte Systemkritik voll subtilem Humor. Schließlich basiert alles auf einem satirischen Roman. Wenn es so war, ist in der deutschen Version dieser Zug jedenfalls nicht erkennbar. Zu nebulös reihen sich abstruse Dialoge und beliebige Spielsituationen aneinander, die kein erkennbarer roter Faden verbindet.
Daran ändern auch die Texttafeln nichts, die bei einer aufwändigeren Produktion wohl Zwischensequenzen geworden wären. Ein aufgeschlagenes Buch präsentiert Texte nebst zugehörigen Buntstiftzeichnungen, die immerhin noch hörspielartig vertont sind („Ein seltsamer Mann ging durch die Stadt. Er war überaus fett!“). Erklärungen liefern die Passagen aber auch nicht wirklich. Oft wirkt es, als hätte Genosse Babelfish die Texte über die Sprachbarriere verschleppt.
Immerhin ist System im dadaistisch-nihilistischen Konzept. Nicht nur die Geschichte, auch die Rätsel halten sich daran. Ein Beispiel vom Anfang. Nachdem der Spieler ohne Einführung - es gibt nicht nur kein Intro, sondern nicht mal eine einführende Texttafel - in ein unbekanntes Sowjetdorf geschmissen wird, wird sein Alter Ego schon bald beim „Distrikt-Exekutivkomitee“ vorstellig. Die Spielerfigur stellt sich als Sohn des Leutnant Schmidt vor, ohne dass der Spieler weiß, wovon er redet. Nun fragt der Vorsitzende verschiedene Fragen zu Leutnant Schmidt, von denen eine gewisse Zahl richtig beantwortet werden muss. Einzige Möglichkeit das Rätsel zu lösen: Trial & Error.
Nach einem schwachen Spielbeginn nimmt die Rätselqualität kontinuierlich ab. Zwar gibt es einige Inventarpuzzles, die durchaus Sinn ergeben, meistens darf man sich jedoch verwundert die Stirn reiben. Einmal kommt man in ein Filmstudio, dem man eine Filmidee mit dem Titel „Hals“ verkaufen möchte. Vor dem Eingang steht ein Pförtner, der jedoch nicht auf Klicks reagiert. Anschließend muss Ostap alle 24 Studiotüren ablaufen, das Script anbieten, und 24-mal eine von drei Standardabsagen erhalten. Erst dann verrät der Pförtner, der plötzlich als Hotspot fungiert, hinter welcher der 24 Türen es weitergeht. Spieldesign at its worst.
Der entsprechende Dialog beginnt seitens des Pförtners übrigens nicht mit „Hallo, ich bin der neue Hotspot“ oder „Willkommen im Tchernomorsker Filmstudio“, sondern mit der offenbar traditionellen russischen Begrüßungsformel „Ich zum Beispiel!“. Es folgt ein längerer Monolog über seinen Bart. Da darf es schon mal schwerfallen, sich zwischen lachen und weinen zu entscheiden, sofern man noch wach ist.
Aber man muss fair bleiben, denn auch Golden Life hat seine Schokoladenseite: Es sieht erfreulich gut aus. Die Hintergründe sind in einem so freundlichen Comicstil umgesetzt, dass man in gameplayfreien Momenten schnell vergisst, dem Machwerk böse zu sein. In kräftigen Farben haben die Entwickler eine idyllische wie detailreiche Welt auf die Leinwand gezaubert, die man stundenlang ansehen könnte, wenn es denn einen Grund dazu gäbe.
Sogar die Charaktere, oft Stil brechende Bildbeschmutzer, sind in Golden Life absolut gelungen. Dank Toonshader fügen sich die Figuren vorbildlich in die Szenen ein - da kann manch ein Spieleentwickler noch etwas lernen. Mag sein, dass sie umfangreich animierten Personen ein wenig steif durch die Sowjetidylle staksen, gegen den dürftigen Rest der Software ist ihre Gestalt aber ein echtes Highlight.
Weniger gelungen (im Sinne von „missraten“) ist da die musikalische Untermalung. Pro Kapitel kennt Golden Life genau ein Musikstück. Das wird in der Regel nicht von Anfang bis Ende abgespielt, sondern fängt mit jedem einzelnen Bildwechsel von vorne an. Da kommt es als Erlösung, dass in den Optionen Sprach- und Musiklautstärke getrennt voneinander eingestellt werden können. Die deutschen Sprecher sind nämlich gar nicht so schlecht und schaffen es immer wieder, aus völlig sinnfreien Texten milde sinnfreie Texte zu machen, indem sie nicht die vorgegebenen Zeilen lesen, sondern diese dem Einfluss ihres Gehirns unterwerfen. So werden aus „leisen Filmen“ in den Untertiteln auch mal „Stummfilme“ in der Audiospur. Glaubwürdige Betonung zu verlangen wäre dann in der Regel aber doch ein wenig zu viel.
Golden Life ist groteskes Babelfish-Dada, das böse Sowjetsatire in eine zuckersüße Comicwelt pressen möchte, am Ende aber nur unspielbare Gameplay-Hölle auf den Bildschirm bringt - ernst nehmen kann man das nicht. Wer vorhat, Golden Life als bizarren Trash zu verkosten, darf gerne den Grabbeltisch plündern. Angesichts der vielen Hotspots im letzten Spieldrittel, die nicht mal mehr mit einem Kommentar gewürdigt wurden, sind aber wohl selbst die Entwickler nicht davon ausgegangen, dass jemand bis zum Ende durchhält. Dabei sorgt die letzte Texttafel im Spiel noch mal für ein unerwartet treffendes Schlusswort: „Keinen Beifall bitte!“
Für mich darf es auch mal Trash sein. Trotzdem: Das schlimme Rätseldesign von Golden Life hat mir schon nach kurzer Spielzeit jede Lust am Weiterzocken verdorben. Die wirklich gelungene Comicgrafik kann da auch nichts mehr retten. Immerhin konnte ich immer wieder über extrem zusammenhanglose Dialoge und merkwürdige Formulierungen lachen. Und über die Tatsache, dass man in einem Spiel, das „Unterwegs nach Brasilien“ heißt, nie aus der Sowjetunion herauskommt.
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