Test

von  Jan "DasJan" Schneider
01.04.2008
eXperience112
Getestet auf Windows, Sprache Deutsch

Lexis Numérique ist kein gewöhnlicher Entwickler. Zuletzt hatten die Franzosen mit In Memoriam 2 ein Rätselspiel auf den Markt gebracht, das zwar exzellent gemacht war, aber ein so spezielles Konzept verfolgte, dass nur wenige Spieler daran Gefallen gefunden haben. Was künstlerisch wertvoll ist, ist oft eben kein Kassenschlager.

Auch eXperience112 könnte dieses Schicksal erleiden. Der aktuelle Titel von Lexis Numérique verfolgt zwar ein anderes Konzept, bleibt aber der Kernphilosophie treu: Dem Spieler nicht eine Geschichte vorzuspielen, die er passiv verfolgt, sondern ihn aktiv einzubinden, ihn zum Teil der Geschichte zu machen und ihm das Gefühl zu geben, er sei unmittelbar am Geschehen beteiligt. Herausgekommen ist etwas, das zweifellos außergewöhnlich ist. Aber macht es auch Spaß?

Willkommen an Bord

Nach dem Spielstart blickt man auf eine Art fiktives Betriebssystem. Fenster öffnen sich, die Eingabemasken, Knöpfe und andere Bedienelemente enthalten, welche von Windows bereits bekannt sind. Eines der Fenster zeigt das Bild einer Überwachungskamera: ein ungastliches Zimmer mit einem Bett, in dem eine Frau liegt. Die Frau wacht auf, bemerkt, dass die Kameras aktiv sind, und beginnt, mit dem Spieler, der offenbar eine Überwachungszentrale bedient, zu reden. Eine Möglichkeit, direkt mit der Frau zu kommunizieren, gibt es aber nicht.

Die Frau, das ist, wie sich bald herausstellt, die Wissenschaftlerin Lea Nichols, die sich an Bord eines Schiffes befindet, das als Forschungsstation benutzt wird. Schnell wird klar, dass etwas Verheerendes passiert sein muss, außer Lea scheinen nämlich alle Besatzungsmitglieder tot zu sein. Was auf dem Schiff erforscht wurde, bleibt zunächst unklar. Die Wissenschaftlerin weiß zwar Bescheid, sie hat aber keine Ahnung, wer sie über das Überwachungssystem verfolgt, und da geht man mit streng vertraulichen Infos natürlich vorsichtig um.

Doch hat auch der Spieler Informationen, die Lea wiederum nicht hat. Denn mit all dem Überwachungsequipment ist es ein Leichtes, beispielsweise Kameras in Räumen zu aktivieren, zu denen sie keinen Zutritt hat. Schon ganz am Anfang führt das zu einer spannenden Situation: Nachdem Lea eine Tür nicht öffnen kann, schaltet man einfach auf eine Kamera auf der anderen Seite der Tür. Dort ist es zwar sehr dunkel, im Schatten erkennt man aber eine Gestalt, die die Tür von der anderen Seite zuhält. Kurz darauf flüchtet die Gestalt, mitteilen kann man das Gesehene der Protagonistin aber nicht. Außerdem: Wer war der mysteriöse Fremde?

Und ob ihr wirklich richtig steht, ...

Da man keinen direkten Einfluss auf Lea Nichols hat, gestaltet sich die Steuerung etwas umständlich. Es wird verabredet, dass sie immer dorthin geht, wo der Spieler das Licht anschaltet. Dazu befinden sich überall auf dem Schiff Lampen, über die man genauso wie bei den Kameras und Türen über eine digitale Übersichtskarte die Kontrolle erhält. Das ist natürlich umständlicher, als wenn man direkt die Kontrolle über die Spielfigur hätte.

Mit fortschreitendem Spielverlauf wird nicht nur immer klarer, was für Forschungen auf dem Schiff durchgeführt wurden, auch die Möglichkeiten des Spielers werden zahlreicher. Kann man Kameras anfangs nur schwenken, werden nach und nach Updates installiert, die es beispielsweise erlauben, zu zoomen, die Schärfe einzustellen und Wärmestrahlung sichtbar zu machen. Eine Komfortfunktion erlaubt es außerdem, Kameras so einzustellen, dass sie automatisch Personen im Blickfeld behalten, indem sie selbstständig mitschwenken.

Das Überwachungsinterface ermöglicht es außerdem, auf die privaten Dateien der Forscher zuzugreifen. Zunächst verrät nur Lea Nichols ihr Passwort, schnell macht man aber weitere Passwörter ausfindig. Die finden sich in den Dokumenten oder E-Mails von befreundeten Besatzungsmitgliedern, aber auch direkt in der Spielwelt. Die so freigespielten Dateien geben jede Menge Hintergrundinfos zur Spielwelt preis, sukzessive werden Details über Kollegen, die namensgebende Nummer 112 und andere Dinge bekannt. Auch konkrete Hinweise auf die Lösung von Rätseln lassen sich so ermitteln.

Selbst wer sonst davon genervt ist, in Adventures Dokumente zu lesen, wird sich der Faszination der privaten Dateien nicht entziehen können. Immer mehr versteht man, was auf dem Schiff vorgegangen ist, immer tiefer wird man in die Welt von eXperience112 hereingezogen. Das Entblättern des Geheimnisses lässt das Herz jedes Mystery-Fans höher schlagen. Die sorgsam ausgearbeitete und mit reichlich Hintergrund versehene Spielwelt ist die größte Stärke des Titels, auch wenn man sich darüber im Klaren sein sollte, dass es klar Richtung Science-Fiction geht.

Ich weiß, wem du letzten Sommer gemailt hast

Bei so einem ungewöhnlichen Konzept sind die Rätsel natürlich nicht vom üblichen Typ. “Benutze A mit B” und “Gib C an D” sind keine Interaktionen, wie sie in eXperience112 vorkommen. Lea Nichols ist schließlich nicht blöd. Wenn sie zu einem Ort geführt wurde, wo sie etwas Wichtiges erledigen kann, tut sie das selbstständig.

Ein Großteil der Arbeit für den Spieler besteht darin, Lea mithilfe der Lampen zu dem Ort zu führen, wo sie gerade hinmöchte. Dazu wendet sie sich immer wieder an den Spieler und sagt, was als Nächstes zu tun ist. Dank Audioprotokoll gehen solche Informationen auch nicht verloren. Weiß man dann immer noch nicht, wo man Lea hinführen soll, kann man über einen Hilfe-Button weitere Tipps erfragen.

Oft besteht die Aufgabe für den Spieler auch darin, in den persönlichen Dateien der Crew nach Passwörtern zu suchen, mit denen sich Gerätschaften aktivieren oder Türen öffnen lassen. Direkte Kontrolle über Maschinen in der Spielwelt erhält man eher selten. Ganz am Anfang darf man zum Beispiel einen Roboter mit mobiler Kamera durch ein verseuchtes Labor steuern. Später wird auch Lea Nichols mit einer Schulterkamera ausgerüstet, was einen etwas direkter den Weg der taffen Hauptdarstellerin verfolgen lässt.

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Wer den Eindruck hat, dass sich die Beschreibung der spielerischen Vorgänge nicht besonders spannend anhört, hat nicht ganz Unrecht. Die Idee, den Spieler nicht direkt in die Spielwelt zu versetzen und ihn neben das Geschehen zu stellen, führt leider auch dazu, dass sein direkter Einfluss beschränkt ist.

Dazu kommt, dass eXperience112 extrem langsam ist. Der Spieler soll ja höchstpersönlich an der Geschichte beteiligt sein, sodass es keine Möglichkeit gibt, das Spielgeschehen zu beschleunigen. Das wäre schließlich unrealistisch. Dementsprechend läuft das gesamte Spiel in virtueller Echtzeit ab, auch dann, wenn Lea Leitern hochklettert, Computerkonsolen bedient oder im gemächlichen Schlenderschritt über das gesamte Deck wandert. Lässt man Lea irrtümlich ins Unterdeck spazieren, obwohl sie eigentlich in den Medizintrakt muss, kostet das gerne mal ein paar Minuten. Da ist man ab und zu schon fast geneigt, nebenher ein Buch zu lesen.

Das quälend langsame Spielgeschehen hat aber auch Vorteile. Es erhält für den Spieler die Illusion, selbst Teil der Geschichte zu sein. Wie schon bei In Memoriam schlüpft man nicht in die Rolle einer sichtbaren Spielfigur, sondern ist selbst Bestandteil der Handlung. Man fragt sich, welche Rolle man wohl spielt, und wird förmlich in die Spielwelt eingesogen. Nur manchmal wird dieser vorgespielte Realismus durchbrochen. So macht es nicht wirklich Sinn, dass stimmungsvolle Musik aus den Lautsprechern kommt. Und wieso sind Leas Monologe untertitelt?

Schickes Schiff

Technisch hat Lexis Numérique gute Arbeit geleistet. Die Bilder von den Überwachungskameras werden in Echtzeit-3D dargestellt und zeigen eine düstere, verlassene Forschungsstation voller Umgebungsdetails. Selbst beim Zoomen mit den Kameras bleiben die meisten Texturen scharf. Pflanzen haben Teile der Station erobert und die rostigen Decks verwildert. Dank bewegter Elemente in den Umgebungen und schwenkender Kameras wirkt die Station trotz ihrer Verlassenheit greifbar und lebendig. Auch grafische Spezialeffekte wie umherschwirrende Partikel oder die Wärmekamera nutzen moderne Grafiktechnologien und sehen entsprechend fortschrittlich aus.

Die Hardwareanforderungen sind allerdings nicht gerade gering. Auf nicht mehr ganz aktuellen PCs fängt leider schon bei zwei bis drei parallel geöffneten Kameras das Ruckeln an. Da hilft es auch nicht, wenn ein Kamerabild von einem anderen teilweise oder ganz verdeckt ist. Immerhin darf man die Größe solcher Bilder variieren, sodass man sich bei älteren Grafikkarten mit kleineren Fenstern zufriedengeben kann.

Kleiner Wermutstropfen: Lea Nichols selbst sieht zwar fesch aus, geht aber ein wenig steif durch die Gegend. Immerhin steckt sie Gegenstände nicht in einen unsichtbaren Riesenbeutel, sondern trägt diese sichtbar vor sich her (oder zieht sie hinter sich her). Das ist möglich, weil sie nie mehr als eine Sache bei sich trägt.

Sag's noch einmal, Kate

Akustisch weiß eXperience112 auch zu überzeugen. Neben allerlei Geräuschen aus der Umgebung von Lea ertönt immer wieder stimmungsvolle Musik. Die reicht von amelodischen Klängen, die auch von entfernten Maschinen stammen könnten, bis hin zu wirkungsvoller Musik, die ungemein zur beklemmenden Mystery-Atmosphäre beiträgt.

Die Sprachausgabe, die der Spieler zu hören bekommt, stammt zum allergrößten Teil von Lea Nichols, die von Ranja Bonalana gesprochen wird. Die dürfte vielen als Stimme von Kate ist “Lost” bekannt sein oder als Thara in den ersten beiden Ankh-Spielen. Die Synchronisation ist gewohnt professionell und auch die deutschen Texte wirken meistens stimmig - gar nicht so selbstverständlich bei der Vielzahl an technischen Ausdrücken.

Kunst vs. Spielspaß

eXperience112 ist wieder einmal ein Titel, der sehr gemischt ankommen wird. Technisch ist Lexis Numérique wieder eine gute Umsetzung gelungen, sei es bei der detaillierten 3D-Landschaft oder beim enorm atmosphärischen Sound.

Die US-Version heißt “The Experiment”, ein Titel, der die Natur des Spiels wohl sehr gut beschreibt. eXperience112 ist ein spielerisches Experiment, ein Versuchsballon, ein kreatives Multimediawerk, das den Spieler auf eine neue Art und Weise direkt am Geschehen beteiligt und so eine fesselnde Geschichte erzählt. So passiv es den Spieler an ihr teilhaben lässt, so aktiv zieht es ihn in sie hinein.

Bewertet man dieses Werk als Spiel, kann man eigentlich keine guten Noten vergeben. Extrem träge Abläufe und kaum echte Rätsel sind eigentlich echte Spaßkiller. Wer sich mit dem Titel anfreunden will, braucht einen unvoreingenommeneren Blick auf die Dinge, darf kein Spiel erwarten, sondern ein Erlebnis, eine intensiv ausgeklügelte Mysterywelt, die er auf neuartige Art und Weise erkunden darf. Wer das tut, wird von eXperience112 nicht enttäuscht.

Kommentar des Verfassers

Kommentare

detail

„Faszinierend“. Das ist der Begriff, der mir zu eXperience112 einfällt. Und „langsam“. Die spannende Spielwelt hat mich immer weiter motiviert, ich wollte mehr über sie wissen. Und so bin ich gerne am Ball geblieben, obwohl das zähe Gameplay mich über weite Teile zum bloßen Zuschauer abgestempelt hat. Die Illusion, selbst Teil der Spielwelt zu sein, hat in meinen Augen bei In Memoriam 2 besser funktioniert, daher zieht eXperience112 nicht an meinem Lieblings-Lexis-Spiel vorbei. Aber auch wenn es sein Potenzial nicht ganz ausschöpft, das Abenteuer von Lea Nichols gehört nicht zu denen, die man so schnell vergisst.

Redaktions-Wertung

Grafik
Musik
Steuerung
Atmosphäre
Rätsel

Gesamt

Pro
Contra
  • Überzeugende Grafik
  • Atmoshphärischer Sound
  • Gute Synchronsprecherin
  • Faszinierende Spielwelt
  • Laaaaangsam...
  • Wenig interessante Rätsel
  • Steuerung anstrengend