Zeitreise-Szenarien kommen nie aus der Mode. Von H.G. Wells „Die Zeitmaschine“ über bekannte Blockbuster-Filme mit Christopher Lloyd und Michael J. Fox bis hin zu wissenschaftlichen Essays über Wurmlöcher und Zeitparadoxa hat das Thema die Menschen schon seit langem fasziniert. Bei den Computerspielen ist die japanische Autorin Junko Kawano derzeit die Referenz für alles rund um Zeitsprünge und Zeitreisetheorien. Eine weltweite Fangemeinde erreichte sie mit ihrem 2001 erschienen Titel „Shadow of Memories“, der eine sehr komplexe Zeitreise-Struktur mit klassischem Adventure-Gameplay verband. Jetzt kehrt Kawano zurück zu ihren Wurzeln, indem sie mit „Time Hollow“ ein weiteres Zeitreise-Adventure ins Rennen schickt. Dabei sollen auch Ideen aus dem lange geplanten aber nie veröffentlichten zweiten Teil von „Shadow of Memories“ verarbeitet worden sein. Gelingt ihr der Anschluss an ihre selbst auferlegte Referenz?
Auf den ersten Blick ergeben sich zwischen „Shadow of Memories“ und „Time Hollow“ einige Änderungen: Das Spiel wandert von PC und Konsole auf den mobilen Nintendo DS, die Echtzeit-3D Grafik wird durch einen reinen 2D-Animationslook ersetzt und die für den Muttertitel so zentrale Echtzeit fällt ganz raus. Puristen dürfen sich also freuen: Gerätselt werden kann jetzt ohne Zeitdruck und übrigens auch komplett per Point and Click, nämlich mit Hilfe des DS-Touchpens.
Gleich geblieben ist dagegen die grundlegende Thematik: „Was wäre wenn?“ Der so genannte „Schmetterlingseffekt“ besagt, das bereits kleinste Änderungen in der Vergangenheit große Auswirkungen in der Zukunft haben können – und genau jener Effekt wird auch bei „Time Hollow“ wieder zentraler Bestandteil des Gameplays. Aufgaben werden im Gegensatz zu herkömmlicher Adventurekost weniger durch Kombinationsrätsel, Dialogsequenzen oder Logikpuzzles als vielmehr durch Manipulationen in der Vergangenheit gelöst. „Ich muss diese Hausfassade nach oben klettern? Kein Problem! Pflanze ich halt in der Vergangenheit davor einen Baum.“ Ein typisches Zeitreise-Rätsel, wie es sie bereits bei „Shadow of Memories“ mehrfach zu entdecken galt.
Ebenfalls gleich geblieben ist die Erzählweise und das Gameplay an sich: War der Vorgänger bereits gespickt mit zahlreichen Zwischensequenzen, so sind es auf dem Nintendo DS viele, sehr viele Dialogzeilen, die durch den begrenzten Speicherplatz wohlgemerkt auch nicht vorgelesen, aber immerhin mit zahlreichen Porträts der Protagonisten verschönert werden. Die einzelnen Änderungen, die man in der Vergangenheit anstellt, haben eine sofortige Auswirkung auf den derzeitigen Erzählstrang. Man muss sich schon ein paar Minuten Zeit nehmen, um die dann auftretenden zahlreichen Textseiten durchzulesen. Interaktive Fiktion also in Reinform: Viel Storytelling, wenig Gameplay – eine Spezialität der Japaner, die man aber auch mögen muss. Wem „Shadow of Memories“ schon zu wenig interaktiv war, der sollte um „Time Hollow“ einen großen Bogen machen.
Bei so viel Text ist eine gute deutsche Übersetzung natürlich das A und O. Das im Internet kursierende Gerücht, die deutsche Version des Spiels sei nicht komplett, können wir entkräften: Die im Handel erhältliche Version beinhaltet eine vollständige Lokalisierung. Texte, Menü und Gegenstandsbeschreibungen sind mit flotter Feder verfasst, so dass die jugendlichen Charaktere und die gesprochenen Dialoge einen stimmigen Gesamteindruck hinterlassen. Die verschiedenen Trickfilmsequenzen werden allerdings nur deutsch untertitelt, die enthaltene Sprachausgabe ist dann weiterhin in englisch. Versionen, die nur zum Teil deutsch übersetzt sind, sind auf Raubkopien zurückzuführen, die bereits einige Monate vor Release ins Internet gelangten. Ehrliche deutschsprachige Käufer erhalten demnach eine saubere Lokalisierung. Zudem ist die englische Version auf der europäischen Karte mitenthalten. Leider eklärt das Handbuch nicht, wie man im späteren Verlauf die Sprachen umstellt.
Inhaltlich bietet Time Hollow zunächst also keine wirklichen Änderungen: Der Jugendliche Ethan Kairos wacht eines Tages aus einem Alptraum auf und findet in seinem Zimmer plötzlich ein Zeitloch sowie einen magischen Stift vor. Neugierig wie er ist tritt er durch das summende und wabernde Halbrund und findet sich prompt in einem Paralleluniversum wieder. Entsetzt stellt er fest, dass seine Eltern dort vor 12 Jahren bei einem Unfall ums Leben kamen. Doch verleiht ihm der Stift, wie sollte es auch anders sein, nun selbst die Möglichkeit, Zeittore zu öffnen. Für Ethan steht schnell fest: Er muss die Vergangenheit ändern, um seine Eltern zu retten. Doch verschlimmert sich mit jedem Versuch seine Gegenwart viel mehr als dass sie sich verbessert. Schon bald ist Ethan mehr mit dem Aufräumen von Fehlern beschäftigt als mit der Rettung seiner Eltern. Bis er eines Tages feststellt, dass er nicht der einzige Stiftinhaber in der Stadt ist... Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, denn die Geschichte ist zweifelsohne das größte Kapital eines solchen Spiels.
Zeitreisen sind damit ohne Zweifel das perfekte Mittel für Autoren wie Junko Kawano, um sich dem Motiv multilinearer und alternativer Geschichten auch auf Gameplay-Seite zu nähern. Um den Vorgänger dann aber doch nicht allzu plakativ zu kopieren gibt es doch noch einige Modifikationen am Spielverlauf selbst.
So reist unser Darsteller diesmal nicht selbst durch die Zeit. Stattdessen nutzt er seinen magischen Stift, mit dem er an bestimmten Orten ein Zeittor öffnen kann, um damit in die Vergangenheit zu blicken. Die Aufgabe ist nun, die Szene so zu verändern, dass sie eine möglichst positive Auswirkung auf die aktuelle Zukunft hat, z.B. indem er einen Gegenstand in der Vergangenheit platziert. Im Gegensatz zu „Shadow of Memories“ laufen die beiden Zeiten dann nicht parallel sondern pausieren komplett. Erst wenn das Zeitloch wieder geschlossen ist, läuft die Zeit weiter und die Veränderungen treten in Kraft.
Tatsächlich läuft das Spiel also mit einer kleinen Ausnahme linear ab. Die Möglichkeit, sich selbst in der Vergangenheit beim Ausüben der eigenen Aktionen zu betrachten gibt es nicht mehr. Die Veränderungen in der Vergangenheit werden stattdessen in Form kleiner Flashbacks eingespielt, welche in kurzen Standbildern Schlüsselsituationen mit den jeweiligen Auswirkungen illustrieren. Im Prinzip kann das so verstanden werden wie eine „Aktualisierung“ von Ethans Erinnerungen: Er vergisst zwar nicht den eben verschwundenen Zeitabschnitt, bekommt aber sein Gehirn gleichzeitig auf das neue Paralleluniversum crashkursmäßig getrimmt.
Nachhelfen muss der Spieler dann aber trotzdem noch: Durch das Sammeln von weiteren Informationen aus Gesprächen, Bibliotheken und Notizen muss der Spieler diese Flashbacks mit Uhrzeit, Ort und exakten Abhängigkeitsdetails „verifizieren“. Hat er einen Flashback vollständig entschlüsselt kann er an diesem Ort bei Bedarf ein neues Zeitloch öffnen und diesen Flashback erneut modifizieren.
Dieses neue Prinzip macht die Verständlichkeit der Geschichte leider nicht einfacher sondern im Gegenteil deutlich komplizierter. Ist man früher noch selbst durch die Zeit gereist muss man nun die verschiedenen Szenen selbst gedanklich sortieren und analysieren, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dazu kommt etwas frustrierend, dass Ethan gegenüber den offensichtlichen Veränderungen ziemlich naiv und verwundert rüberkommt, während er bei der Analyse der Flashbacks dem Otto-Normalverbraucher gedanklich meist weit voraus ist. Dazu gesellen sich weitere, teilweise recht beliebige Regeln, die Kawano vermutlich nur deswegen einführt, da die Geschichte sonst durch Zeitparadoxa zu schwierig zu handhaben wäre. So altern zum Beispiel Personen, die komplett durch ein Zeittor wandern plötzlich nicht mehr, können bei stehen gebliebener Zeit trotzdem agieren und bekommen Flashbacks anderer Stiftinhaber mit.
Die Geschichte selbst ist damit schon relativ clever gestrickt, jedoch gelingt es Kawano diesmal nicht, diese verschiedenen Grundprinzipien im Laufe von Ethans Reise verständlich zu vermitteln. Relativ gezwungen werden stattdessen ziemlich spezifische Paradoxaprobleme erklärt, zum Beispiel warum ein bestimmter Gegenstand jetzt verschwinden würde oder eben warum nicht. Oder wenn eine Person X uns noch einmal deutlich erklärt, er habe Person Y jetzt über die eben stattgefundenen Veränderungen unterrichtet, weil diese Version von X ja ein Stiftinhaber sei und deswegen die Flashbacks auch bekommen habe, während diese Variante von Y noch nicht durch das Zeitloch gegangen wäre und er deswegen das jetzt verschwundene Alternativuniversum noch nicht kenne.
Na, nichts begriffen? Keine Sorge, es geht noch weiter, denn am Ende erscheint diese Theorie selbst paradox, wenn man bedenkt, dass dieser X jenem Y vor dem Flashback noch etwas ganz anderes erzählt hatte. Zumindest jenem jetzt ja nicht mehr existierenden Y. Damit entsteht eine logische Inhaltslücke zwischen den „Allwissenden“ Zeitzonen-Reisenden und dem linearen, festgelegten Eintreten eines Flashbacks. Vollkommen verständlich, oder? Willkommen in der vertrakten Welt von „Time Hollow“!
Man merkt, worauf diese Erläuterungen hinauswollen: Viele theoretische Details werden zwar gut abgehandelt, das große, halbwegs logische Gesamtbild bleibt jedoch bis zum Ende verschwommen. Die Geschichte bleibt in ihrer Struktur und Abfolge damit selbst ein großes Rätsel und lädt gewiss viele Fans erneut zum Ausprobieren, Raten und Strukturieren ein. Da Kawano wirklich eine Meisterin der Zeitparadoxa zu sein scheint, lässt sich vielleicht noch auf die ein oder andere Interpretation hoffen – zumal die Geschichte tief genug gestrickt ist, dass man erst beim zweiten oder dritten Durchspielen den entscheidenden Hinweis dafür versteht, warum eine bestimmte Sache nun dies oder jenes bewirkt. Man darf am Ende halt nicht die vollständige Aufklärung oder die große Wendung a la „Shadow of Memories“ erwarten.
Die Spielzeit ist mit rund 6-9 Stunden je nach Lesegeschwindigkeit dabei auch ziemlich kurz. Eine allzu große Herausforderung bietet das Gameplay aber auch nicht: Gesteuert wird per klassischem Point and Click mit Hilfe des Touchpens. Dabei besteht die Aufgabe in der Regel nur darin, den nächsten richtigen Ort auf einer Landkarte auszusuchen, um dort die notwendige Zwischensequenz auszulösen oder einen wichtigen Gesprächspartner zu finden. Ein Inventar gibt es zwar, angewandt werden können die Gegenstände aber nur während einer Zeitloch-Sequenz – ansonsten verwendet sie Ethan automatisch, falls vorhanden. Der Ablauf der Sequenzen erfolgt sehr streng linear – oftmals weigert sich Ethan, etwas bestimmtes zu tun oder zu untersuchen, wenn er vorher nicht einen triftigen Grund dafür erfahren hat – selbst wenn einem als Spieler das längst klar ist. Immerhin gibt Ethan selbst regelmäßig Tipps, was er als Nächstes tun sollte, so dass sich ein „Runaway-Syndrom“ eigentlich nicht einstellt. De facto ist „Time Hollow“ damit aber fast nicht mehr als ein interaktiver Comic. Während man bei Shadow of Memories noch multi-lineare Plots und abzweigende Erzählstränge finden konnte, verläuft „Time Hollow“ deutlich linearer und bietet auch deutlich weniger Alternativen an.
Am besten lässt sich „Time Hollow“ eigentlich als aufgebohrte „Visual Novel“ bezeichnen, einem in Japan äußerst populärem Genre des stark narrativem und wenig gameplay-orientiertem Adventure. Viel Wert liegt das Spiel damit auch auf die hübsch und sorgsam gezeichneten Hintergründe samt Parallaxscrolling, einer breiten Palette an unterschiedlichen Porträts in verschiedenen Posen, dauerhafte Bewegungen im Bild wie Augenzwinkern oder Zitter und dramaturgisch durchgestaltete Musik- und Soundeffekteinspieler. Dazu gesellen sich tolle handgezeichnete Animationssequenzen im Anime-Stil und ein wirklich fetziges und glasklar aufgenommenes Titellied, welches bereits eine Soundtrackauskopplung fand. Ohne Zweifel ist Time Hollow eines der schicksten Adventures auf dem Nintendo DS. Wer gerne Comics liest wird so durch die gelungene und ansprechende Präsentation immer wieder motiviert, das Spiel weiter zu spielen.
Wirklich ausgenutzt werden die DS-Fähigkeiten eigentlich nur während den Zeittor-Sequenzen. Hier muss der Spieler mit dem Stylus einen Kreis auf den Bildschirm malen. Sobald dieser geschlossen ist, sieht man dahinter die gleiche Szene aus der Vergangenheit. Nur hier ist dann die konkrete Anwendung von Verben wie „Schaue“ oder „Rede“ möglich. In der restlichen Spielewelt wird das passende Icon automatisch ausgewählt. Die Kreise sind sowohl in ihrer Gesamtanzahl als auch in ihrer Größe begrenzt. Wer keine Kreise mehr zeichnen kann, muss sich auf die Suche nach neuer „Energie“ für den Stift machen. Kenner des Vorbilds kommt das bestimmt bekannt vor. Gespeichert wird nach jedem abgelaufenem Kapitel sowie bei Bedarf über ein Menu am unteren Bildschirmrand. Dieses beinhaltet außerdem alle derzeit aktiven „Flashbacks“ sowie eine Charakterübersicht. Dialoge werden am oberen Bildschirmrand präsentiert, während der untere das Gesamtgeschehen grundsätzlich als Standbild einfängt. Fans können sich übrigens in Japan den „Original Hollow Pen“ bestellen, der per Batteriebetrieb passend zum Spiel leuchtet und einfach in den vorhandenen Stylus eingeschoben wird.
Eigentlich hat mir „Time Hollow“ viel Spaß gemacht. Ich mag Zeitreisen und die „Was wäre wenn“-Thematik beflügelt schnell meine Fantasie. Trotzdem: Richtig warm geworden bin ich mit den Charakteren rund um Ethan nicht so wirklich. Die Szenen wirken einen Tick zu konstruiert, die Reaktionen der Protagonisten zu wenig glaubwürdig als dass man ihnen die ohnehin schon wirre Geschichte abnehmen würde. Der obligatorische Twist während des Spielverlaufs kann da leider nur kurzzeitig für mehr Spannung sorgen, einen Vergleich mit Shadow of Memories hält er nicht stand. Sicher, „Time Hollow“ enthält alles, was eine gute Geschichte braucht. Gefühle, Spannung, Knobeleien und Action halten sich gut in Balance, davon könnten sich viele andere Spiele eine Scheibe abschneiden. Auch die deutsche Übersetzung ist durchaus gelungen. Für ein wirkliches Epos fehlt aber noch die entsprechende Tiefe, für eine „Visual Novel“ im Sinne eines „Phoenix Wright“ ist es nicht lang genug und für ein gutes Adventure fehlt es noch an dem Quäntchen anspruchsvollerem Gameplay. Letztendlich habe ich das Spiel wegen der schicken Präsentation und den tollen Zwischensequenzen gespielt. Ergo: Kein Meilenstein wie sein Vorgänger, aber ein solides DS-Adventure, das einige Zugfahrten als gelungener Manga-Ersatz unterhalten kann.
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