Wir kennen ihn als Analytiker, als Denker, als detailverliebten Spurenleser: Sherlock Holmes. Die von Arthur Conan Doyle erschaffene Romanfigur kann durchaus als Urvater aller Privatdetektive angesehen werden. Dieser ließ ihn von der berühmten Baker Street aus zahlreiche Kriminalfälle im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufklären.
Wir kennen ihn als Psychopathen, als Mörder, als Wahnsinnigen: Jack the Ripper. Der unter diesem Pseudonym auftretende Serienmörder machte durch brutale Morde von sich reden – ebenfalls in London zum Ende des 19. Jahrhunderts.
Was lag näher, als diese beiden Individuen in einem Adventure aufeinander treffen zu lassen? Genau dies tut Entwickler Frogwares in Sherlock Holmes jagt Jack the Ripper und setzt damit die 2002 begonnene Reihe mit dem nunmehr fünften Teil fort.
So gemütlich, betucht und elegant es in Holmes´ Räumlichkeiten ist, so hässlich und grau ist es in Whitechapel, einem Armutsviertel Londons. Genau dieses Viertel ist Schauplatz eines grausamen Verbrechens: Ein Unbekannter überfällt zur späten Stunde eine Prostituierte und lässt erst von ihr ab, nachdem er sie erwürgt, aufgeschlitzt und ausgeweidet hat.
Als diese Tat an die Ohren des Teams Holmes/Watson dringt, setzen sie alles daran, mehr über die Hintergründe zu erfahren und diesen Kriminalfall aufzuklären. Noch während das Duo die ersten Ermittlungen anstellt und mit forensischem Scharfsinn zu analysieren versucht, ist der Schlitzer von London bereits auf dem Wege, sein nächstes Opfer auszusuchen…
Die grafische Präsentation des Kriminal-Abenteuers hinterlässt einen sehr soliden, wenn auch gelegentlich zwiespältigen Eindruck. Grundsätzlich wirken Texturen und Oberflächen ordentlich, auf den zweiten Blick jedoch offenbaren sich einige klobige Elemente und leicht matschige Hintergründe. Die überwiegend grau-braune Oberfläche der Häuserwände und Straßen begünstigt zwar den atmosphärischen Gehalt bei der Darstellung des tristen und düsteren London, mittelfristig wirken die Straßenzüge manchmal etwas zu gleich. Dies fördert an einigen Stellen das Verlaufen innerhalb des Viertels.
Die Mimik und Gestik der Charaktere ist ansprechend, wenngleich die allgemeine Bewegung ein wenig hölzern herüberkommt. Ebenso wiederholen sich viele Animationen, was vor allem bei längeren Dialogen sehr auffällt: Der Polizeimeister hebt mehr als fünfmal mahnend den Finger, während Dr. Watson bei jedem zweiten Satz erklärend die Hände ausstreckt.
Die Videosequenzen sind sehr ansehnlich: Zumeist blickt man durch die Augen des Verbrechers, der schwer atmend und mit vernebeltem Blick durch die Straßen wankt. Ein guter Nervenkitzel, wenn man vor der nächsten Tat unmittelbar dabei ist. Eine interessante grafische Option ist der 3D-Modus, der eine Steuerung aus der Ego-Perspektive ermöglicht. Zu jedem Zeitpunkt im Spiel lässt sich zwischen der klassischen und der Ego-Kamera umschalten. Hier wurde auf das eher gemischte Feedback des Vorgängers in Bezug auf Kameraführung und Wegfindung reagiert. Der Spieler entscheidet selbst, welche Perspektive er haben möchte; dies hat jedoch - wie wir später noch sehen werden – große Unterschiede in Sachen Handling zur Folge.
Frogwares hat bei den Einstellungsmöglichkeiten moderne Ansprüche einfließen lassen; Verbesserungen wie Breitbild-Auflösung, Antialiasing und Anisitropes Filtern lassen sich im Grafikmenü einstellen.
Die klangliche Untermalung ist dezent, aber stimmig eingesetzt. Entsprechende Spannungspunkte oder Sequenzen werden mit bedrohlichen Tönen eingeleitet; grundsätzlich erschallen Klavierklänge, die mal fröhlicher, mal düsterer wirken. Im Gesamtbild harmoniert die Akustik sehr gut mit der Umgebung.
Die Sprachausgabe ist sehr ansprechend, da sich die Charaktere und ihre Stimmung passend in der jeweiligen Stimme wiederfinden. Dies bezieht sich ebenso auf die Betonung und den Sprechrhythmus. Gerade Holmes´ Stimme wirkt sehr gut ausgewählt, spiegelt sie doch eine gute Mischung aus logischer Kühle, Selbstironie und Arroganz wider.
Hintergrundgeräusche hört man hingegen kaum; die Stadt ist düster und sehr leise. Hört man manchmal etwas Stimmengewirr, so sind viele Ecken gänzlich ohne die Geräusche einer Stadt ausgerüstet - kein Schuhgeklapper, kein Türenschlagen.
Nachdem beim Vorgänger eine mitunter hakelige 3D-Steuerung vorherrschte, hat man beim vorliegenden Abenteuer versucht, durch die bereits erwähnten zwei Darstellungsarten grafische und vor allem steuerungstechnische Sackgassen zu vermeiden. Während die Point-and-Click-Steuerung den Ansprüchen von Puristen gerecht wird, bietet die Ego-Perspektive eine interessante, stimmungstechnisch förderliche Alternative. Hier ist es möglich, sich "direkter" im Geschehen zu fühlen und die Tristesse der Umgebung stärker aufzunehmen. Dem vierten Sherlock-Holmes-Abenteuer hat man übrigens in einer Remastered Version ebenfalls den 3D-Modus spendiert.
So ganz ohne kleine Mängel sind jedoch beide Ansichten nicht: Während die 3D-Ansicht etwas darunter leidet, dass nahezu alle Häuserfronten gleich grau-braun, nass und dreckig sind, so offenbart die Point-and-Click-Ansicht die etwas zu kühle und sterile Grafik. Dies wird besonders durch die spärlich gesäten Animationen verstärkt; ebenso deutlich werden die oftmals hölzernen Bewegungen der Figuren. Für Fans der Point-and-Click-Optik wird jedoch der Ego-Modus an den Stellen reizvoll werden, wo sich die Kamera einfach zu oft dreht und Sherlock nur mit etwas Mühe und weiteren Klicks in eine Richtung bewegt werden kann. An der ein oder anderen Stelle greift die Wegfindung nicht optimal, so dass Holmes oder Watson auch schon Mal steckenbleiben können. Etwas abgemildert wird dieser Umstand aber dadurch, dass man sich nach und nach wichtige Orte als Navigationspunkt auf der Stadtkarte freischaltet und somit später "springen" kann. Diese Funktion erweist sich im späteren Verlauf als sehr nützlich und verkürzt die Laufwege.
Ein wenig Klickarbeit erwartet jeden, der die Zeitungsberichte, Dokumente und sonstige Schriftstücke im Inventar sichten will: Hier muss man mit rechter und linker Maustaste viel arbeiten, um Artikel zu öffnen, weiterzublättern oder zu Gegenständen zu wechseln.
Wer Sherlock Holmes kennt, weiß: Er ist ein Mann des Denkens, nicht des Handwerks. Daher sind viele Rätselteile keine Inventargegenstände, sondern Informationen. Es ist selten, dass man im Inventarmenu mehr als 5 Gegenstände gleichzeitig mit sich führt. Zwar gibt es auch Inventar- und Manipulationsrätsel, der Fokus liegt aber auf den Dingen, die zwischen den Zeilen zu finden sind. Dominierend sind die Zeitungsartikel, Dialogmitschriften und Berichte, die das investigative Duo sammelt und auswertet. Neben dem ein oder anderen Manipulationsrätsel, wie dem Zusammenpuzzeln von zerrissenem Papier oder dem Öffnen eines Zahlenschlosses, besteht die eigentliche Aufgabe darin, alle Informationen aufzunehmen, in einen Rahmen zu bringen, richtig zu folgern und Fakten herzuleiten.
Aus diesem Grund werden nach Untersuchung des Tatorts und Befragung von Zeugen etc. die Fakten auf einem großen „schwarzen Brett“ gesammelt und kausal in einen Zusammenhang gebracht. Holmes „pinnt“ dafür gesammelte Beobachtungen wie „Das Opfer hat an der linken Wange einen Bluterguss“ und „Der Schnitt im Hals wurde von links nach rechts ausgeführt“ an dieses Brett. Sollten solche Elemente in Verbindung stehen können, verbinden sie sich zu einem Folgeschluss, der per Dropdown ausgewählt werden muss: Ist der Mörder Linkshänder? Wurde das Opfer erst gewürgt, dann mit dem Messer traktiert?
Je nach Folgerung ergibt sich ein weiteres Netzwerk von Ableitungen, die schließlich in einem Faktenfeld münden. Dieses wird grün umrandet, sofern Fakt und alle (!) vorgehenden Folgerungen richtig sind. Hier gilt es also, den Gesamtüberlick zu behalten, genau aufzupassen und gegebenenfalls nachzulesen. Falls eine Spur am Tatort oder ein Teildialog mit einer wichtigen Person fehlt, fehlt auch ein Element der Folgerungskette. Ebenso empfindlich ist die lineare Abfolge der Beweissuche: Auch wenn man einen wichtigen Ort bereits gefunden oder untersucht hat, ergeben sich die meisten Interaktionen erst, wenn ein genauer Weg dorthin eingehalten wurde.
Schönes Fortschrittssystem: Je mehr über einen Fall herausgefunden wurde, desto mehr Notizen hat Holmes auf der heimischen Korkwand stehen. Man bastelt also Stück für Stück eine Kriminalakte zusammen. Ebenso positiv ist auch der Wechsel zwischen den beiden Schnüfflern. An vielen Stellen schlüpfen wir in die Rolle von Dr. Watson, der eben nicht als schreibselnder Komparse Holmes´, sondern als gleichberechtigter Kollege mitwirkt. Und es ist sehr gut, dass Holmes Unterstützung hat: Fast jeder Gesprächspartner, den wir um Hilfe bitten, will eine Gegenleistung bzw. einen Gefallen von uns. Ob wir Randalierer verscheuchen oder eine Medizin für einen Kranken besorgen - überall wäscht eine Hand die andere.
Bei der Aufrechterhaltung der düster-mysteriösen Grundstimmung leistet Sherlock Holmes jagt Jack the Ripper sehr gute Arbeit: Die Schauplätze des Abenteuers sind von einer grundsätzlichen Dunkelheit durchsetzt und wirken stets beklemmend, dreckig und gottverlassen. Nahezu alle Nebendarsteller sind Teil des Milieus rund um Kriminalität, Prostitution und Obdachlosigkeit und bieten eine stimmige Kulisse für die Geschehnisse. Zusätzlich unterstrichen wird das Ganze von den akustischen Eindrücken, die zwischen Tragik, Hoffnungslosigkeit und der alles bestimmenden Gewalt pendeln.
Besonders förderlich für den Spannungsbogen ist die parallele bzw. gleichzeitige Darstellung der Ereignisse: Während Holmes noch zu dem einen Mord Ermittlungen anstellt, geschieht bereits das nächste Verbrechen, welches wir in einem harschen Bildwechsel aus den Augen des Akteurs sehen dürfen. Der Eindruck, dem Mörder dicht auf den Fersen zu sein, verstärkt sich - gleichzeitig ist dieser uns immer einen Schritt voraus.
An einigen Stellen wird die Spannung etwas von der immer wiederkehrenden Auftragsarbeit gebremst: Anstatt dem Mörder nachzustellen, verirrt man sich auf der Suche nach einem Trunkenbold im Labyrinth von Whitechapel oder sucht eine verlorene Tasche. Nicht zuletzt dank der sich erweiternden Stadtkarte kann man aber die Fährte des Mörders recht gut wieder aufnehmen.
Frogwares sollte mit Sherlock Holmes jagt Jack the Ripper all jene Fans versöhnen können, welche nach dem Vorgänger das Interesse an der Serie verloren haben könnten. Das Setting ist düster-mysteriös, das Spurenlesen und Kombinieren weiß zu motivieren und der Spannungsbogen ist prinzipiell gut gespannt. Die Hol- und Bring-Quests können aber auf Dauer zu Bremsschwellen werden. Auf der visuellen Seite wäre sicherlich noch etwas Potential gewesen, um die Atmosphäre zu intensivieren – trotzdem lässt sich die Verfolgungsjagd genießen. Hier treffen zwei große Persönlichkeiten der Kriminalgeschichte gegeneinander an.
Aber nicht nur Fans des Detektivs sollten zugreifen; auch der Gelegenheits-Abenteuer mit einem Hang zum Recherchieren und Schlussfolgern kann einen Blick riskieren.
Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, dann muss das, was übrig bleibt, so unwahrscheinlich es auch erscheinen mag, die Wahrheit sein. Frogwares hat es geschafft, mich wieder für den etwas exzentrischen Detektiv zu begeistern. Trotz kleinerer Schwächen ist dieser Krimi spannend und es macht Spaß, das entscheidene Quäntchen Vorsprung zum Mörder aufzuarbeiten. Auch die Figur des Dr. Watson kommt gut rüber - Frogwares tat gut daran, den symphatischen Arzt aus dem Schatten seines Vordenkers treten zu lassen.
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