Das am 26.03.2010 erschienene Third-Person-Adventure Alter Ego von Future Games (Black Mirror, Nibiru, Reprobates) bietet eine Mischung aus Detektiv-, Grusel- und Gaunergeschichte, die im Plymouth des 19. Jahrhunderts spielt.
Timothy Moor, ein irischer Kleingauner, will nach Amerika auswandern, wird jedoch bei seiner Ankunft in der englischen Hafenstadt Plymouth unsanft von der örtlichen Polizei gefangen genommen. Er kann sich aber durch einen Sprung in die Abwasserkanäle retten. Nun muss er erst einen alten Freund und Komplizen finden, mit dem er schließlich einen Einbruch in die Villa eines reichen Adeligen durchführen will.
Zeitlich nach dem Einbruch sieht man Inspektor Briscol seine neue Stelle antreten. Er soll Aufsicht über das Grab von Sir William führen, der zuvor bei der Bevölkerung unter dem Namen ""Die Weiße Bestie"" für Angst und Schrecken gesorgt hat. Die Befürchtungen des örtlichen Priesters sind nicht unbegründet, denn es wurde nicht nur die Gruft aufgebrochen, sondern der Leichnam selbst ist verschwunden. Lebt Sir William vielleicht doch noch?
Die Unterteilung der Geschichte in zwei Erzählstränge ergibt unterschiedliche Spielweisen der beiden Figuren: Timothy schert sich wenig um Moral und Gesetz und verfolgt nur seine eigenen Interessen. Deutlich wird das schon zu Beginn, wenn er einem blinden Geigenspieler Mantelknöpfe ins Geldschälchen legt, um an die Münzen zu kommen. Zwar zeigt er durchaus Zivilcourage, indem er einer weibliche Bedienung im Pub gegen eine zwielichtige Gestalt helfen will, zuvor besticht er diese aber erst mit Geld, um an Informationen über seinen Komplizen zu gelangen.
Der Inspektor ist das direkte Gegenteil von ihm, indem er für Recht und Ordnung steht. Allerdings kennzeichnen sowohl seine ausgeprägte Korrektheit als auch seine Arroganz anderen Personen gegenüber, seien es nun Mitbürger oder Polizeibeamte, sein Verhalten. So zeigt er seine Überheblichkeit, wenn es um die Tatortsicherung geht, bei der er lieber einem anderen Polizisten die Arbeit der Kanalsuche überlassen will, um sich nicht die Hände schmutzig zu machen. Auch einem Rausschmeißer und einer Prostituierten in der Polizeistation schenkt er wenig Mitgefühl oder Beachtung und sieht sie nur als Abschaum der Gesellschaft.
Sowohl Timothys als auch Briscols Persönlichkeiten sind gewöhnungsbedürftig, da man nur sehr wenig Hintergrundinformationen über sie bekommt. Es wird zwar versucht, ihnen mehr Eigenleben zu geben, indem der Spieler ihren Gedankengängen zuhören kann, aber selten führt dies zu einer engeren Bindung. Vereinzelt treten die Hauptcharaktere zwar aus ihren festgefahrenen Rollen heraus, wie Timothy bei der Rettung der Pub-Bedienung zeigt, sie entwickeln sich jedoch nicht weiter.
Die Nebencharaktere erfüllen den Zweck, die Handlung voranzutreiben und ein tristes Bild der Gesellschaft zu zeichnen. So gibt es den Reporter, der alles für eine gute Story tut; die Bedienung im Wirtshaus oder die Waschfrau, die unzufrieden mit ihrer Arbeit sind, oder den Wirt, der unzufrieden mit den Gästen ist. Lange im Gedächtnis bleiben diese allerdings nicht, da ihnen prägnante Charaktermerkmale fehlen, die sie voneinander unterscheiden.
Timothys Geschichte ist geradlinig erzählt und wirft nur vereinzelt Fragen auf, wie nach der Herkunft der Schreie auf dem Friedhof oder der Ursache des Aufeinandertreffens von erst für den letzten Teil der Geschichte relevanten Gestalten im Wirtshaus. Spannung wird vielmehr durch seine missliche Lage erzeugt, von der Polizei gesucht und beim Einbruch nicht erwischt zu werden.
Briscols Versuch, die Ereignisse der vergangenen Nacht auf dem Friedhof zu rekonstruieren, fordert vom Spieler einiges an Aufmerksamkeit ab, um die Zusammenhänge zu verstehen, die mit der Untersuchung auftauchen. Dieser Teil steht daher in der alten Tradition von Kriminalgeschichten mit einer Prise Mystery.
Es wäre kein Problem, wenn eine einfache Geschichte mit einer komplexen verknüpft würde, nur fehlen in Timothys Teil größtenteils Verbindungen zu Briscols Fall. So nimmt man Timothys Erzählung mehr als Unterbrechung wahr, um endlich in Briscols Nachforschungen weiterzukommen. Die Überleitungen von einer Erzählebene auf die nächste sind zwar grafisch ansprechend mit einer Art Gemälde verknüpft, wirklich passen wollen sie aber nicht. Das etwas zu konstruierte Aufeinandertreffen von Timothy und dem Inspektor klärt zwar einige Fragen, nur wird die Geschichte danach sehr hastig mit neuen Erkenntnissen zu Ende erzählt.
Obwohl die akribische Detektivarbeit von Briscol Züge eines Sherlock-Holmes-Abenteuers hat, darf man nicht damit rechnen, dass alle Fragen geklärt werden. Denn viele Kleinigkeiten, die gerade bei einem Detektivabenteuer das A und O für das Verständnis sind, werden einfach fallen gelassen. So findet man zwar Fußabdrücke, die Zuordnung zu den Personen ist aber nur teilweise erfolgreich. Genau wie einige Gegenstände unwichtig werden, wie eine Kiste im Büro von Briscol, die sein Vorgänger hinterlassen hatte und die nicht geöffnet werden kann. Auch das Amulett, das Timothy anfangs um seinen Hals trägt und etwas über seine verborgene Herkunft hätte sagen können, ist ohne Bedeutung, sodass man sich öfters fragt, was diese Anspielungen eigentlich sollen, da sie weder etwas zum Fall noch zu den Charakteren beitragen.
Das Rätseldesign ist wenig abwechslungsreich, außerdem gibt es nicht viele Interaktionsmöglichkeiten oder Orte zu besuchen. Meistens beschränkt es sich auf das wiederholte Befragen von Nebencharakteren oder simple Inventarrätsel.
Beispielsweise werden Briscol anfangs in der Polizeistation von einer Prostituierten vor den Augen des Rezeptionisten die Papiere gestohlen, bevor er sich ausweisen kann. Alles was der Inspektor nun tun muss, ist sich mit ihr und einem anwesenden Rausschmeißer abwechselnd zu unterhalten. Dies läuft sehr monoton ab, weil es vom Spieler nichts anderes fordert als alle Dialoge der Reihe nach durchzugehen, ohne selbst Einfluss darauf zu haben.
Leider tauchen immer wieder solche Szenen auf. Später muss der Inspektor zum Beispiel sein Büro aufräumen. Dies tut er nicht automatisch, sondern muss allen möglichen Müll einzeln aufheben und in einen großen Karton packen. Diese Aktionen sind erforderlich, da Briscol erst danach einen wichtigen Anruf bekommt und nur so die Handlung weitergehen kann.
Man könnte diese haargenauen Aktionen dem peniblen Charakter des Inspektors zuschreiben, aber auch bei Timothy findet man ähnlich einfallslose „Rätsel“: So muss er anfangs in der Wäscherei eine alte Waschmaschine in Gang setzen, was nichts anderes verlangt als das Drehen eines Handrads. Zuvor hatte er sich noch geweigert, dies zu tun, bis ihn die Waschfrau darum gebeten hat. Also betätigt er sich selbst als Wäscher, findet Tabak in einer nassen Tasche, den er auf einem Kamin trocknen muss. Nur kann dieser erst trocknen, wenn Timothy zuvor durch ein Fenster geschaut hat. So verkommt der Spielablauf allzu oft zu einem simplen Abklappern der Hotspots und Charaktere.
Einige der späteren Rätsel verlangen zwar etwas Kopfarbeit, wenn zum Beispiel der Abdruck eines Schlüssels gemacht oder ein Wachhund ausgeschaltet werden muss. Doch meistens lösen sich viele Probleme durch das einfache Befragen der Nebencharaktere, wenn man beispielsweise die Kombination eines Tresors nicht kennt oder eine Tür nicht öffnen kann und daraufhin einfach die Kombination gesagt oder den Schlüssel bekommt.
Der Handlungsspielraum wird dadurch eingeschränkt, dass die Spielorte erst nacheinander freigeschaltet werden, wenn man bestimmte Aktionen ausführt oder mit Personen spricht. Einige Schauplätze wie die Wäscherei können auch nicht mehr betreten werden, bis es die Geschichte wieder verlangt.
Weitaus interessanter als die sehr simplen Inventarrätsel ist die Recherche des Inspektors, der ähnlich Sherlock Holmes Verdächtige befragt, mit seiner Lupe Tatorte untersucht, Objekte miteinander vergleicht und einige Beweisstücke mit seinem Mikroskop analysiert. Die Schlussfolgerungen werden automatisch in das Notizbuch des Ermittlers eingetragen, das skizzenhaft eine Zusammenfassung der Indizien und Verdächtigen bietet und regelmäßig aktualisiert wird. Obwohl man nicht aktiv bei der Rekonstruktion des Falles eingreifen kann, ist man doch motiviert immer mehr herauszufinden. Gerade wenn neue Informationen und Verdächtige auftauchen, ist es spannend diesen Spuren zu folgen, weil man schon wissen will wie die Zusammenhänge bestehen und was die Personen zu verbergen haben. Natürlich wird auch hier wieder die sehr lineare Spielmechanik deutlich, allerdings macht sie dieses Mal Sinn, da sich neue Dialogoptionen nach neuen Erkenntnissen öffnen und das Untersuchen aller Hotspots zum peniblen Beruf des Inspektors passt.
Die Vertonung ist bis auf einige fehlende Sprachaufnahmen (die hoffentlich noch mit einem Patch nachgeliefert werden) ausgesprochen gut gelungen. Die Sprecher sind motiviert und passen angenehm zu den Charakteren.
Die Soundeffekte werden spärlich eingesetzt und sorgen bei den oft düsteren Kulissen wie zum Beispiel dem Friedhof für Gruselstimmung. Nachtgeräusche wie das sporadische Kläffen eines Hundes gibt es ebenso wie das Stimmengewirr in einem Wirtshaus, sodass das Flair der Umgebungen eingefangen wird. Musik taucht vereinzelt auf und ist schön in die jeweiligen Situationen eingebunden, ohne aufgesetzt zu klingen.
Grafisch kann der Titel nur teilweise überzeugen. Die Hintergründe sind zwar nett gerendert und Atmosphäre wird durch klaustrophobische Kamerawinkel eingefangen, allerdings gibt es wenige Animationen, die die Kulissen beleben. Gerade auf dem Friedhof würde man sich wünschen, dass Blätter wehen, die Äste der Bäume sich bewegen oder die Wolken über den Mond ziehen. Es gibt zwar ein paar animierte Objekte wie Mücken, die um eine Straßenlaterne fliegen, oder das Flackern von einer Fackel in der Gruft. Aber trotzdem bleiben die Szenerien statisch. Besonders im Wirtshaus gibt es bis auf die wenigen ansprechbaren Nebencharaktere nicht viel zu entdecken, was nicht so recht zu der Soundkulisse passt, die den Ort belebter darstellt als er ist.
Das ist schade, da man bei Future Games’ früheren Titeln wie Black Mirror weitaus mehr Detailverliebtheit und Effekte bestaunen konnte. Der prasselnde Regen und die unterschiedliche Beleuchtung von Szenen bei Tag und Nacht lassen zwar vereinzelt Parallelen zum großen Vorbild aufkommen, eine ähnlich bedrückende Atmosphäre findet man aber leider zu selten.
Ähnlich verhält es sich mit den Animationen der Charaktere. Zwar gibt es einige realistische Bewegungen, wenn die Figuren beispielsweise eine Mauer oder Leiter hochklettern oder eine Bank verschieben. Diese funktionieren aber nicht so gut bei actionreicheren Szenen, bei denen sie verhältnismäßig langsam stattfinden und für wenig Dramatik sorgen.
Weitaus nerviger ist aber die fehlende Lippensynchronität, die nie zur Situation passt, sodass entweder beide Figuren den Mund öffnen oder die Sprachausgabe nicht zum aktuellen Charakter gehört.
Die Steuerung ist einsteigerfreundlich und solide: Mit der F1-Taste werden alle Hotspots und Bildschirmausgänge angezeigt. Ob ein Gegenstand mit der Umgebung oder einem anderen Objekt kombiniert werden kann, sieht man, wenn der Mauszeiger aufleuchtet. Einziges Manko ist die Funktion des Doppelklicks: Zwar läuft die Spielfigur zu der gewünschten Stelle oder verlässt direkt den Bildschirmausschnitt. Will man jedoch einen Gegenstand mit der Umgebung benutzen, dann geht der Charakter im Fußgängertempo dorthin, wobei sich diese Animation nicht abbrechen oder beschleunigen lassen kann.
Alter Ego kann bei den Rätseln in sehr wenigen Fällen und bei der Geschichte sowie den Charakteren nur teilweise überzeugen. So beschränken sich die Knobelaufgaben zu sehr auf Dialoge, die der Reihe nach geführt werden müssen und Aktionen, die nur in einer bestimmten Reihenfolge funktionieren. Dies vermittelt beim Spieler den Eindruck, dass er nur auf Schienen geführt wird und sehr wenig eigene Denkarbeit leisten muss. Neben der annehmbaren Grafik und der guten Vertonung machen leider einige technische Unzulänglichkeiten den Eindruck, ein unfertiges Produkt zu spielen. Bei einer kurzen Spielzeit von bis zu 10 Stunden macht sich vor allem die unschlüssige Handlung bemerkbar, die zum Ende hin Erklärungen und Wendungen liefert, die wenig Sinn ergeben. So bleibt eine nette Sherlock-Holmes-Light-Geschichte und eine kurze Ganovenepisode, die sowohl spielerisch als auch erzähltechnisch leider nur streckenweise unterhalten können.
Nach dem atmosphärischen Black Mirror, dem soliden Nibiru und dem zumindest bei der Erzählweise etwas anderen Reprobates war ich doch enttäuscht, wie viel Potenzial mit Alter Ego verschenkt wurde. Die allzu simplen Rätsel sind nicht das größte Problem, da ich es schon angenehm empfand, keine Schalter- oder Schieberätsel wie in den Vorgängerspielen als Spielzeitstreckung präsentiert zu bekommen. Die zwei Erzählebenen und die Rekonstruktion der Ereignisse im Sherlock-Holmes-Stil hätten eine sehr komplexe Geschichte ergeben können, wenn man sich mehr Mühe mit den Figuren und Zeit für den Handlungsverlauf gegeben hätte. Denn die Hauptgeschichte ist leider ebenso inkonsequent durchgezogen worden wie die Haupt- und Nebencharaktere, zu denen ich keine emotionale Bindung finden konnte. Gerade zum verworrenen Ende hin mit allzu aufgesetzten Wendungen fragt man sich schon, warum man so viel Zeit in die Aufklärung des Falls investiert hat.
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