Anfang Mai kündigten die Episoden-Profis von Telltale an, ihr bewährtes Konzept, nämlich immer ganze Staffeln en bloc zu produzieren, zu erweitern. So wurde die neue Gattung „Pilot“ aus der Taufe gehoben – einzelne Episoden, die zunächst ohne den Bombast einer ganzen Staffel mit wenig Risiko entwickelt werden, um neuartige Konzepte auszutesten. Erweist sich ein solches Experiment als erfolgreich, kann eine darauf aufbauende Staffel immer noch ins Leben gerufen werden.
Das erste Spiel aus dieser Piloten-Reihe ist Puzzle Agent, das auf den Grickle-Comics des Cartoonisten Graham Annable basiert, seinerseits bis vor einiger Zeit selbst Telltale-Mitarbeiter. Konkret schlüpft man in die Rolle von Nelson Tethers, dem einzigen Mitglied einer sehr speziellen Abteilung des FBI: dem „US Department of Puzzle Research“. Dort sitzt Nelson tagein, tagaus und löst Knobelaufgaben. Eigentlich döst er die meiste Zeit nur herum, seinen Kopf auf den Schreibtisch gesenkt, der zwischen Kreuzworträtseln, Tetrisblöcken und anderen Reliquien tapfer dem Zerfall widersteht, denn klassische Rätsel sind nicht gerade etwas, was sich beim FBI im ständigen Fokus befindet.
Das ändert sich allerdings schlagartig zu Beginn des Spiels. In einer Vision erscheint Nelson jemand oder etwas in einem Astronautenanzug, der das merkwürdige Wort „Scoggins“ auf das Rätselheft kritzelt, auf dem Nelson eingenickt ist. Schnitt. Nelson wird vom Telefon geweckt. Der Mann am anderen Ende der Strippe weist Nelson seinen ersten Auftrag seit langer Zeit zu. In einer abgelegenen Stadt in den Bergen, so abgelegen, dass sie vermutlich irgendwo nahe der Grenze zu Kanada liegt, ist die Produktion derjenigen Fabrik zum Stillstand gekommen, die für den Radiergummi-Bedarf des Weißen Hauses sorgt. Nelson soll herausfinden, was genau dort vorgefallen ist. Der Schock: Der Name der abgelegenen Stadt ist Scoggins!
Dort angekommen muss Nelson zunächst das Hotel finden, um dann in Gesprächen mit den Einheimischen unter ständigem Lösen von Rätseln – mehr dazu später – dem düsteren Geheimnis, das hinter den mysteriösen Geschehnissen steckt, auf die Spur zu kommen. Dabei erfährt er auch von den „hidden people“, also Gnomen, die Legenden zufolge in den Wäldern der Stadt heimisch sein sollen. Ist vielleicht etwas dran an den Dingen, die man sich in Scoggins erzählt?
Stilistisch bewegt sich Telltale weit weg vom schwarzhumorigen Schabernack der Sam-&-Max-Folgen oder dem überdrehten Anarcho-Humor von Strong Bad, stattdessen betritt man optisch, atmosphärisch und auch spielerisch Neuland – was schließlich auch die Idee hinter dem Pilotprogramm ist. Visuell war die Maßgabe ganz klar, so nah wie möglich an der Vorlage von Graham Annable zu bleiben, der schon lange Zeichnungen und Animationen aus seiner Grickle-Welt veröffentlicht. Die grob gezeichneten Comics leben von einem verstörenden Minimalismus, bewegte Szenen ziehen gerade aus ihrer plakativen Langsamkeit eine starke atmosphärische Wirkung. Deutlich zu erkennen sind auch die rauen Bleistift-Outlines, die bei Nahaufnahmen besonders deutlich das grobschlächtige Design unterstreichen.
Im Kontext eines modernen Computerspiels ist diese urtümliche Simpeloptik erheblich unorthodoxer als in der Comic-Welt, sodass die stark ruckelnden Animationen und die dicken Linien viele zunächst irritieren dürften. Wer sich für Puzzle Agent interessiert, sollte sich im Klaren darüber sein, dass es den Entwicklern weitgehend sehr gut gelungen ist, den Stil der Vorlage getreu umzusetzen und die Features ihrer im Hintergrund werkelnden 3D-Engine dementsprechend zurückzuschrauben. Nur manchmal fallen unpassend sanfte Bewegungen und Probleme im Zusammensetzen von 2D-Elementen auf, die einem dann doch wieder ins Gedächtnis rufen, dass hier nur der Anschein einer echten 2D-Umgebung erweckt wird.
Wenn die Entwickler in Interviews Twin Peaks als Inspirationsquelle nennen, dann tun sie das nicht nur, um Assoziationen zu David Lynchs genialer TV-Serie zu wecken. Tatsächlich gibt es so einige Parallelen zwischen dem Fernsehklassiker und Telltales neuem Rätselspiel. Auch hier erreicht ein sehr spezieller FBI-Agent ein abgelegenes Kaff in den Bergen, wo er mit den allesamt schrulligen Einwohnern interagiert, Geheimbünde ausfindig macht und einen immer mysteriöser werdenden Fall untersucht. Die enigmatische Musik unterstreicht den Mystery-Anteil effektiv, wie eine Mischung aus den Themen von Akte X und Twin Peaks wirkend. Auch die Sprachausgabe ist gewohnt hochwertig: Alle Sprecher passen zu ihren Rollen und schaffen es meist auch, das Timing der Dialoge richtig zu treffen.
Humor taucht implizit durch die bizarren Situationen auf, in die Nelson Tethers in Scoggins gerät, und spielt eher subtil mit. Regelmäßige Zoten des Protagonisten oder einen ständig Gags reißenden Sidekick darf man hier nicht erwarten.
Das größte Experiment wagt Puzzle Agent zweifellos in Sachen Gameplay. Denn auch, wenn es auf den ersten Blick aussieht wie klassische Point-and-Click-Kost, spielt es sich doch ganz anders. Die althergebrachte Seitenansicht erlaubt deutlich weniger Freiheit als üblich. Freies Herumlaufen ist ebenso wenig möglich wie ein Herumexperimentieren mit dem Objektfundus, denn ein echtes Inventar gibt es nicht. Hat man ein paar Mal auf eine Stelle geklickt, die kein Hotspot ist – das kann passieren, da man dem Mauszeiger nicht ansieht, was Hotspot ist und was nicht – verrät das Spiel sofort, welche Stellen im Bild sich anklicken lassen. Man darf zwar immer wieder die Reihenfolge gewisser Aktionen selbst bestimmen, zum Beispiel ob man zuerst mit A oder mit B redet, im Prinzip dient alles, was in der 3rd-Person-Ansicht stattfindet, aber nur dazu, sich Stück für Stück durch die Story zu klicken.
Das heißt aber nicht, dass es nichts zu knobeln gäbe. Immer wieder kommt Nelson in die Situation, ein Rätsel lösen zu müssen, um weiterzukommen. Das zerrissene Kreuzworträtsel vom Spielanfang muss wieder zusammengesetzt werden, die Statuettensammlung der Hotelierin bedarf der Vervollständigung und ein Restaurantbesucher benötigt Hilfe beim Bändigen seiner Käfersammlung. Wenn es so weit ist, erscheint eine gesonderte Vollbild-Ansicht, auf dem das Rätsel samt seiner Regeln angezeigt wird. Je nach Rätselart müssen dann interaktiv Linien eingezeichnet, Puzzles zusammengebaut oder einfach nur die richtige Lösung angekreuzt werden. Mit dem „Submit“-Knopf darf man die Lösung dann „einloggen“, wie Günther Jauch sagen würde, auch Tipps darf man sich einholen. Je weniger Fehlversuche und Tipps benötigt werden, desto mehr Punkte – gemessen in verbrauchten Steuergeldern – erhält man. Die sind zwar im weiteren Spielverlauf nutzlos, fehlende Punkte verletzen dann aber doch die Rätslerehre. Manche Rätsel sind optional, sodass am Spielende noch ein paar Inhalte unentdeckt sein können.
Die Originalität der Aufgaben ist schwankend. Es gibt einige fein konstruierte Logikfragen und ein paar hübsche Varianten für Rätselheft-Veteranen, bei denen man seine Gedanken gleich in die Grafik hineinmalen darf. Andere Aufgaben scheinen etwas uninspiriert, wie die Puzzles, die wie so oft am besten gelöst werden, indem man blind Formen hin- und herschiebt, bis einige davon zusammenschnappen. Immerhin sind die schlechten Rätsel tendenziell auch die, die schnell gelöst sind. An ein paar Stellen wie dem erwähnten Käferfreund gibt es mehrere Varianten desselben Rätsels, wodurch Puzzle Agent es auf die Zahl von knapp 40 Aufgaben bringt. Insgesamt hinkt die durchschnittliche Qualität der Aufgaben der des großen Gameplay-Vorbilds Professor Layton um einiges hinterher, auch wenn Puzzle Agent seine Highlights hat.
Nach rund drei Stunden läuft der Abspann über den Monitor, sodass Puzzle Agent nicht wirklich länger beschäftigt als eine von Telltales herkömmlichen Episoden. Trotzdem wirkt das Spiel etwas umfangreicher, was besonders daran liegt, dass – der simple Zeichenstil macht's möglich – ein paar mehr Locations bereist werden können, die dafür weniger Gameplay bieten. Der Preis von rund 8 Euro ist daher als fair zu betrachten.
Insgesamt lädt Telltale mit Puzzle Agent zu einer atmosphärisch gelungenen Rätselsammlung ein, die sich strikt Graham Annables Gricke-Design unterwirft und spielerisch fernab klassischen Adventure-Gameplays mal gelungene und mal weniger gelungene Knobelkost auftischt. Wem die Vorlage gefällt und wer primär eine bizarre Mystery-Story erwartet, die längst nicht alle Fragen aufklärt, darf unbeirrt zugreifen. Wem es mehr ums Rätseln geht, sollte seine Ansprüche nicht zu hoch ansetzen. Eine Fortsetzung der Reihe wäre aber durchaus eine echte Bereicherung für das Telltale-Portfolio.
Als großer Fan von Twin Peaks habe ich mich in der schrägen Atmosphäre von Scoggins schnell heimisch gefühlt und auch der grobe Grickle-Stil hat mich überzeugt. Schade, dass die Rätselqualität nicht ganz mithalten kann und der Schwierigkeitsgrad verhältnismäßig milde bleibt - außer vielleicht da, wo die Fragestellung nicht ganz eindeutig ist. Trotzdem: Wenn Telltale frische Rätsel einfallen, bin ich bei einer Fortführung sofort wieder mit an Bord.
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