Nach der Runaway-Trilogie und The Next Big Thing wagen die Entwickler von Pendulo Studios einen großen Schritt: Ihr neuester Titel, Der Fall John Yesterday, ist deutlich düsterer und überrascht mit zahlreichen innovativen Elementen. Wir haben das Spiel für euch genau unter die Lupe genommen und verraten, warum das Experiment so gut geglückt ist.
Ein grausamer Mörder zieht durch die Stadt und verbrennt Obdachlose. Doch weder die Polizei, noch sonst jemand scheint sich dafür zu interessieren. Lediglich der junge Henry White, der bei einer Hilfsorganisation arbeitet, die sich für Menschen ohne Wohnsitz einsetzt, will der Sache auf den Grund gehen. Doch bereits an seinem ersten Ziel, einer verlassenen U-Bahn-Station, gerät er in tödliche Gefahr. Die ganze Geschichte hinter Der Fall John Yesterday knapp zusammenzufassen ist unglaublich schwer, da man eigentlich mit jedem Wort bereits zu viel verrät. Das Spiel steckt voller unerwarteter Wendungen und besitzt eine komplexe Erzählstruktur. Bereits am Ende des ersten Kapitels wird dem Spieler gezeigt, dass er die Situation völlig falsch eingeschätzt hat. Das bleibt auch im weiteren Verlauf der Geschichte der Fall. Mit der Zeit fügen sich immer mehr Mosaiksteine zusammen, die immer wieder ein anderes Bild ergeben, als eigentlich erwartet wurde. Dennoch verfügt das Spiel über einen unglaublichen Fluss, der kein einziges Mal unterbrochen wird. So fällt es zum Beispiel nach dem ersten Spielabschnitt sehr schwer, Kapitel-Einteilungen vorzunehmen, da Zwischensequenzen, Rückblenden und aktuelles Geschehen ineinander fließen. Die Spannung reißt dabei nie ab, am liebsten würde man den Titel in einem Rutsch durchspielen. Insgesamt verläuft das Spiel recht linear, aktuelle Szenen werden aber des Öfteren durch Rückblenden unterbrochen. Diese werden mit der Zeit immer komplexer und es macht viel Spaß, langsam die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse zu rekonstruieren und so der Lösung einen großen Schritt näher zu kommen. Zum finalen Abschluss der Geschichte kann der Spieler schließlich zwischen drei alternativen Enden wählen, je nachdem, welchem Charakter er eine finale Entscheidung überlassen will.
Bei der Steuerung wagen die Entwickler ein mutiges Experiment. Neue Funktionen ohne klassische Alternative werden vor allem konservative Spieler auf eine harte Probe stellen: Betrachtet man ein Objekt näher, so wird es in einem Fenster über dem aktuellen Schauplatz größer dargestellt. Rechts unten in diesem Fenster findet sich dann eine „Betrachten“- und eine „Aktion“-Schaltfläche. Klickt man stattdessen direkt auf ein Objekt in der Vergrößerung, wird die Ansicht unverrichteter Dinge wieder geschlossen. Das sorgte vor allem in den ersten Minuten dafür, dass viele Objekte in der Vergrößerung aus Versehen wieder weggeklickt wurden. Sobald man sich an diese neue Form gewöhnt hat, steuert sich das Spiel sehr angenehm und flüssig. Entsprechend hat uns der neue Ansatz nach etwas Eingewöhnungszeit sehr gut gefallen. Auch die Funktion, Objekte aus dem Inventar per Ziehen und Fallenlassen mit anderen Gegenständen oder Personen zu kombinieren ist gewöhnungsbedürftig, aber äußerst angenehm. Allerdings kann im Inventar nicht direkt kombiniert werden: Zunächst muss das gewählte Objekt aus dem Inventar ganz leicht nach oben gezogen werden, um es anschließend mit einem anderen Gegenstand benutzen zu können. Zieht man im Inventar direkt Objekte nach links oder rechts, so öffnet sich lediglich die Vergrößerungsansicht. Da es aber nicht allzu viele Aufgaben gibt, bei denen mehrere Gegenstände verbunden werden müssen, fällt dies kaum negativ auf.
Ansonsten wird das Spiel wie ein gewöhnlicher Point-and-Click-Titel gesteuert, die rechte Maustaste kommt nur zum Abbrechen von Aktionen zum Einsatz. Eine Hotspot-Anzeige und eine Spielhilfe sind ebenfalls eingebaut und beide leisten gute Dienste bei einem der seltenen Hänger. Die Tipps sind häufig nicht zu direkt, sodass der Spieler noch einmal selbst überlegen muss, wie er denn nun genau vorwärts kommt. Außerdem müssen Tipps erarbeitet werden: Nach einem Klick auf die Hinweis-Schaltfläche muss sich diese erst wieder aufladen, um neue Tipps zu geben. Da die Hotspot-Anzeige nur recht kurz aufleuchtet, ist schnelles Reagieren angesagt und es wird nicht zu viel vorweg genommen. Beide Hilfe-Funktionen führen dazu, dass man die Geschichte intensiver wahrnimmt, da ein Wechsel zum Desktop, um eine Lösung aufzurufen, vollständig wegfällt. Insgesamt führen alle neuen Steuerungselemente nach einer gewissen Gewöhnungszeit zu einem viel komfortableren und flüssigeren Spielerlebnis, als man es von anderen Titeln gewohnt ist. Das mutige Experiment ist also durchaus gelungen.
Das Spiel selbst verfügt über keinen Bildschirm mit Einstellungen, das Programm stellt automatisch die passende Auflösung und Grafikqualität ein. Möchte der Spieler daran etwas verändern, kann er ein Konfigurationsprogramm im Installationsordner aufrufen. Gespeichert wird auch vollautomatisch, nur zu Spielbeginn wird einer von vier Speicher-Slots ausgewählt. Dieser kann dann allerdings nur noch durch einen Neustart des Spiels gewechselt werden. Durch einen Klick auf ein Stern-Symbol in der auf Wunsch ausblendbaren Leiste am unteren Bildschirmrand können jederzeit bereits gespielte Abschnitte wiederholt werden. Von diesen gibt es angenehm viele, sodass so ziemlich jede Lieblingsszene schnell wieder auf dem Bildschirm erscheint. Während des gesamten Spiels war auf unseren Testrechnern kein einziger Ladebalken zu sehen, was ebenfalls zum vorbildlichen Spielfluss beiträgt. Ein übersichtlicher Hilfe-Bildschirm zeigt auf Wunsch alle verfügbaren Funktionen und erklärt diese anschaulich. Ebenfalls sehr praktisch ist die Möglichkeit, das Spiel jederzeit mit der Leertaste anhalten zu können. Zusammengefasst bietet Der Fall John Yesterday einen Spielkomfort, wie er für alle Adventures Standard werden sollte.
Bis auf drei etwas aus dem Zusammenhang gerissene Schach-Aufgaben im ersten Kapitel passen sich die Rätsel wunderbar in den Verlauf der Geschichte ein. Keine Aufgabe erscheint als Lückenfüller oder Zeitschinder und jedes Rätsel hat einen direkten Bezug zum aktuellen Geschehen. Der Schwierigkeitsgrad bewegt sich dabei auf leichtem bis mittleren Niveau, was aber vor allem daran liegt, dass man sich jederzeit Tipps geben lassen kann. Dennoch sollte man mit dieser Option sehr sparsam umgehen, da man alle Aufgaben mit ein wenig Nachdenken auch selbst lösen kann, was dem eigenen Ego gut tut und für Stoppuhr-Liebhaber die Spielzeit verlängert. Die Rätsel selbst bestehen aus klassischer Inventar-Kombination, einigen Dialog-Rätseln, sowie wenigen Minispielen, die aufgrund der Einbettung in die Umgebung und den Verlauf der Geschichte nicht wirklich als solche auffallen. Eine nette Idee der Entwickler ist die Tatsache, dass längst nicht alle Rätsel Pflicht sind, um im Spiel voran zu kommen. Immer wieder trifft man auf Gegenstände und Dialogoptionen, welche die Geschichte vertiefen und so den aufmerksamen Spieler belohnen, aber keinen direkten Einfluss auf den Fortschritt der Haupterzählung haben. Es lohnt sich also auf jeden Fall, möglichst viel auszuprobieren.
Ein besonders herausragendes Element des Spiels ist der allwissende Erzähler, der Aktionen kommentiert und die Geschichte vorantreibt. Damit wird eine Distanz zwischen Spieler und Spielfigur geschaffen, die viel zur Atmosphäre beiträgt. Da in verschiedenen Abschnitten auch nacheinander verschiedene Charaktere gesteuert werden, schafft dieses Stilmittel eine durchgehende Kontinuität. Außerdem sorgen Kommentare zu besonders sinnlosen Kombinationen und die immer wieder eingestreuten bissigen Seitenhiebe des Erzählers für den einen oder anderen Lacher in der sonst sehr düsteren Welt. Zusätzlich hält der Erzähler des öfteren gute Hilfestellungen zum Lösen des aktuellen Rätsels bereit. Und man erfährt durch ihn, ob man eine Aufgabe zu früh gelöst hat. Schmiert man zum Beispiel eine versperrte Tür mit Öl ein, ohne den Schlüssel zum Schloss zu haben, erhält man folgenden Kommentar: „Ganz zufällig hast du gerade etwas getan, was dir in Zukunft Ärger ersparen wird".
Grafisch soll Der Fall John Yesterday an ein Erwachsenen-Comic im Stil der Noir-Richtung angelehnt sein. Das Konzept geht erstaunlich gut auf. Die Grafik bleibt den bisherigen Titeln aus dem Hause Pendulo treu, wurde aber für die düstere Umgebung angepasst. Die Hintergründe sind schön gezeichnet und sehr gut in Szene gesetzt. Besonders die U-Bahn-Station im ersten Kapitel und die darin deponierten Schaufensterpuppen transportieren die Atmosphäre hervorragend. Diese Leistung bleibt auch über das Spiel hinweg konstant. Jeder Schauplatz, jede Animation wirkt gut durchdacht und ausgereift. Die Zwischensequenzen spielen mit mehreren Elementen: Comichafte Einblendungen, Animationen und die dynamische Bewegung der animierten Bilder selbst vermitteln den Fortschritt der Geschichte auf eindrucksvolle Art und Weise. Und gespart wurde dabei auch nicht: Entgegen der aktuellen Tendenz, Zwischensequenzen einfach zu streichen und mit Schwarzblenden zu lösen, bietet Der Fall John Yesterday viele Animationen, die sich sehr belohnend auswirken und zum Weiterspielen motivieren. Gleichzeitig wurde auf alle unnötigen Animationen verzichtet. Ein Klick auf einen Ort löst den Hauptcharakter an der aktuellen Position auf und lässt ihn an der gewünschten Stelle wieder erscheinen. So werden ereignislose Laufsequenzen von vorneherein ausgeschlossen.
Die Musik, die Geräusche und die Sprecher sind ein Ohrenschmaus. Da sich die einzelnen Musikstücke dezent im Hintergrund halten und nur ab und zu die Atmosphäre und das Geschehen verstärken, wurden sie optimal eingesetzt. Außerdem passen alle Geräusche perfekt zur Umgebung und sind sorgsam ausgesucht. Ein weiteres Highlight sind die Synchronsprecher. Alle Rollen sind optimal besetzt und klingen hervorragend. Hier hat sich Publisher Crimson Cow eindeutig die notwendige Mühe gegeben, um dem Spiel den letzten Schliff zu verleihen. Freunden der Runaway-Serie dürfte dabei besonders ein Auftritt ganz besonders gut gefallen. Die hervorragende Synchronarbeit und die gründliche Übersetzung sorgen auch dafür, dass sich die deutsche Version wesentlich besser spielt, als die amerikanische. Zusätzlich haben die Entwickler bei Pendulo Studios für die deutsche Ausgabe des Spiels die zusätzliche Zeit genutzt und einige Fehler behoben und Kanten abgeschliffen. Die hör- und sichtbaren Verbesserungen in der deutschen Version tragen einen Großteil zu ihrem überaus guten Gesamteindruck bei.
Der Fall John Yesterday macht alles richtig. Grafik, Sound, Rätsel, Geschichte – alles passt perfekt zusammen und die Geschichte hat einen unglaublichen Fluss. Es ist schön zu sehen, dass sich Entwickler immer noch trauen, neue Elemente auszuprobieren – sei es in der Art und Weise, wie Geschichten erzählt werden oder wie die Steuerung noch weiter optimiert werden kann. Beide Experimente sind bei Yesterday unserer Meinung nach optimal geglückt. Die einzigen negativen Punkte, auf die wir gestoßen sind, sind die teilweise mangelhafte Lippensynchronisation in einigen wenigen Szenen und die etwas hakelige Steuerung bei der Kombination von Gegenständen direkt im Inventar. Glühende Verfechter langer Spielzeiten werden wohl bemängeln, dass das Spiel nur etwa 7-10 Stunden dauert. Das liegt aber hauptsächlich an der dichten Erzählung und der Möglichkeit, sich jederzeit Tipps geben lassen zu können. Da das Spiel insgesamt sehr gut gelungen ist und auf jede unnötige Verlängerung verzichtet, ist es trotz der vergleichsweise kurzen Spieldauer absolut sein Geld wert.
Endlich mal ein Spiel, das dem Spieler mehr Mitdenk-Arbeit zumutet! Ich liebe Filme und Spiele, die mit der Realität und der Wahrnehmung spielen und die einem mehr Konzentration abverlangen, als der Genre-Durchschnitt. Der Fall John Yesterday gehört definitiv zu den besten Titeln, die man sich als Adventure-Fan auf den PC holen kann. Hut ab!
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