Ein Textadventure? Im Jahr 2012? Wir erinnern uns (vielleicht) – Textadventures waren groß in den 80ern, als Firmen wie Infocom oder Magnetic Scrolls in Tests regelmäßig Bestnoten einheimsten, weil sie spannende Geschichten erzählten und dafür Unmengen Text in den knappen Speicher quetschten. Gegen Ende der 80er kamen Grafikadventures dann im Mainstream an, 1989 wurde Infocom abgewickelt, und Mitte der 90er verschwanden Textadventures endgültig aus der kommerziellen Landschaft. Im Untergrund blüht das Genre auch heute weiter munter vor sich hin, weil man darin mit leicht fortgeschrittenen Programmierkenntnissen passable Spiele als Ein-Mann-Projekt auf die Beine stellen kann. Aber macht es Sinn, im Zeitalter brillant bebilderter Adventures Spiele zu verkaufen, in denen man sich durch gigantische Bleiwüsten kämpfen und Kommandos wie „leg den hellblauen Kristall in die Vertiefung der dritten Säule von links“ umständlich mit der Tastatur eintippen muss? Nun, schauen wir uns „Cypher“ doch einmal an.
Cypher ist das Erstlingswerk der Cabrera Brothers. Einer der beiden argentinischen Brüder war zuvor als Illustrator in der Videospielebranche aktiv, der andere als Webdesigner. Cypher versetzt den Spieler in eine dystopische Zukunft im Jahr 2242. Eine Asteroidenkollision hat einen großen Teil der Menschheit ausgelöscht. Das Internet und andere technische Wege der Kommunikation funktionieren nicht mehr. Firmenkonglomerate haben die Rolle der Regierungen übernommen. Der Spieler ist Dogeron Kenan, Datenschmuggler in NeoSushi (ehemals Tokio). Datenschmuggler transportieren Informationen, die via USB(!) in ihrem Gehirn(!!) abgelegt werden, von A nach B, weil andere Kommunikationswege ja nicht mehr funktionieren, und wie der Begriff „Schmuggler“ andeutet, geht es dabei nicht um Grüße an entfernte Verwandte.
Zu Beginn des Spiels hat sich Dogeron nach einem fehlgeschlagenen Deal in sein Apartment retten können. Sogenannte „Retriever“, die Datenschmuggler jagen, sind bei einem Upload von Informationen aufgetaucht, mit einer Hitech-Bewaffnung, die auf einen hochrangigen Auftraggeber schließen lässt. Dogerons Auftraggeber meldet sich per Videophone (warum gab es noch mal Datenschmuggler?) und benennt einen Treffpunkt, um einen Versuch zu starten, die unvollständigen Daten aus seinem Gehirn herunterzuladen. Ab hier übernimmt der Spieler die Kontrolle.
Sollte der Plot jemandem bekannt vorkommen: Eine Anlehnung an William Gibsons Kurzgeschichte Johnny Mnemonic ist offensichtlich. Die Handlung ist aber eigenständig und bietet ein leidlich spannendes Setting, allerdings ist das bei modernen Textadventures eher die Regel als die Ausnahme.
Cypher wartet mit Grafik und Musik auf, was die Umstellung für Genreneulinge etwas erleichtert.
Eine Hälfte des Bildschirms ist für Grafiken reserviert. Den Hintergrund bildet die handgezeichnete, leicht animierte Silhouette eines Mannes, mutmaßlich der Spieler. Darauf ist im unteren Drittel ein zur Lokalität passendes Bildchen platziert, darum herum werden Inventargegenstände als Bilder angezeigt. Das sieht chic aus und kann mit Budget-Grafikadventures durchaus mithalten, etwas Abwechslung (wechselnde Hintergründe) hätten dem Spiel aber gut getan. In der anderen Hälfte wird der Text dargestellt, im Hintergrund morphen geometrische Muster dezent vor sich hin. Hier haben die Entwickler zu kurz gedacht: Für Textadventures ist optimale Lesbarkeit essenziell; der futuristische, hellblaue Zeichensatz auf dunkelblauem Grund ist aber nicht ganz leicht zu lesen. Typographie-Experten sind die Entwickler wohl eher nicht.
Für die Ohren haben die Cabrera Brothers 13 ambientartige Loops spendiert, die zwar jeweils recht kurz sind und in Endlosschleife abgespielt werden, aber prima zum SciFi-Setting passen und sich angenehm im Hintergrund halten. Nach einigen Aktionen werden Soundeffekte abgespielt, die das Geschehen gut untermalen. Da hätte man wohl nicht viel besser machen können.
Ein großes Manko zeigt sich bei den ersten Sätzen und zieht sich durch das gesamte Spiel: Die Entwickler sind keine Muttersprachler. Das Englisch ist fehlerhaft und streckenweise holprig. Das kann den Spielgenuss schon nachhaltig trüben, auch wenn man zumindest immer versteht, was gemeint ist.
Den Programmteil, der die Eingaben des Spielers verarbeitet, heißt „Parser“. Der Parser ist das Herzstück eines Textadventures, vergleichbar vielleicht mit dem Gamemaster bei einem Pen&Paper-Rollenspiel. Der Spieler bekommt eine Beschreibung seiner Umgebung, überlegt sich, was er tun möchte, und tippt seine Überlegungen als Befehle ein. Der Parser sollte erkennen, was der Spieler meint, und sinnvoll reagieren. Und hier versagt Cypher, und zwar auf ganzer Linie. Statt langer Ausführungen hierzu ein Beispiel aus dem Startraum: Dort findet sich ein elektronischer Notizzettel, dessen Inhalt dem Spieler bestimmt weiterhilft.
> GET NOTE THEN READ IT
Be more specific with your command.
> GET NOTE
You take the note
> READ NOTE
Electronic Note by NoteSystems. To read, turn on.
> TURN ON NOTE
Be more specific with your command.
> TURN NOTE ON
(Das klappt dann endlich.)
Seit 30 Jahren gängige Abkürzungen (z.B. „N“ für „go north“) werden nicht erkannt, und es gibt nicht mal einen „look“-Befehl, um sich die Raumbeschreibung nochmals anzeigen zu lassen. „Guess the word“ ist die Bezeichnung für solche Parser aus dem Pleistozän. Das sorgt für gewaltigen Frust. Als Bonbon wird der Spieler häufig durch den Zwang zu völlig unnötigen Texteingaben ausgebremst, z.B. blättert man lange Texte nicht durch die Leertaste um, sondern muss „more“ eintippen, und auf den „restart“-Befehl folgt keine „Ja/Nein“-Sicherheitsabfrage, sondern es muss „erase data and restart“ eingetippt werden. Ernsthaft. Kleinigkeiten, die daran zweifeln lassen, dass dieses Spiel jemals eine Qualitätskontrolle durchlaufen hat.
Erwähnenswert ist an dieser Stelle vielleicht auch, dass nur ein einziger Saveslot zur Verfügung steht. Wegen der Liniarität des Spiels (s.u.) ist das ausreichend. Man sollte ihn regelmäßig nutzen, da man an mehreren Stellen sterben kann.
Würde man nicht durch den Steinzeit-Parser wirkungsvoll daran gehindert, böte sich dem Spieler eine spannende und gut inszenierte Geschichte, die allerdings komplett linear abläuft. Erst nach etwa einem Viertel des Spiels kann man sich frei bewegen, es bleibt aber streng linear, es gibt immer genau eine Aufgabe und sonst nichts zu tun. Positiv anzumerken ist, dass sich die jeweilige Aufgabe gut erschließt, man steht also nicht da und weiß nicht, wo man als nächstes ansetzen soll. Die Aufgabe dann erfolgreich zu meistern ist wegen des störrischen Parsers wieder eine Herausforderung.
Die Rätsel sind einfach bis einfachst. Meist geht es nur darum, einen Fluchtweg zu finden, Personen Gegenstände zu zeigen oder die korrekte Plastikkarte in den passenden Schlitz zu stecken. Als Action-Adventure würde das prima funktionieren, Tüftler kommen hier aber nicht auf ihre Kosten. Es sei denn, man betrachtet die ständige Suche nach dem richtigen Befehl als Puzzle.
Erbsenzähler können sich regelmäßig über kleinere Logiklücken wundern, so richtig logisch ist der Handlungsstrang nicht immer, aber das ist er ja bei den meisten Adventures nicht. Fragwürdig bleibt in dieser Hinsicht, warum es überhaupt Datenschmuggler braucht – durch den Asteroidencrash wurde ja jede Kommunikation (wie auch immer) unmöglich gemacht, aber überall stehen Videotelefone herum, und einer der Bösewichte steuert über Funk einen fremden Körper.
Textadventures sind ausgesprochen anfällig für Bugs, die allerdings meist nur durch zähes Ausprobieren herauszufinden sind. Im Rahmen dieses Tests zeigte sich das Spiel angenehm stabil; hervorzuheben ist nur eine Szene ganz am Anfang: Wenn man das Apartment verlässt, was möglich, aber nicht notwendig ist, stürmt eine Gruppe Retriever am Spieler vorbei in das Apartment und verkloppt dort nach Kräften – den Spieler, der sich das ganze parallel vom Flur aus anschaut.
Wer sich, aus welchen Gründen auch immer, mit dem Genre Textadventure beschäftigen möchte, sollte um Cypher einen großen Bogen machen. Zwar hat das Spiel in Sachen audiovisuelle Präsentation einiges zu bieten, aber der Parser, vulgo: die Steuerung ist dermaßen verkorkst, dass man sich schon nach einigen Minuten um sein Geld betrogen fühlt. Nur mit einer Komplettlösung in der Hand erschließt sich die eigentlich action-, tempo- und wendungsreiche Story. Sollten die Cabrera Brothers nochmals ein Spiel produzieren, ist eine Qualitätskontrolle dringend anzuraten. Wer partout ein gutes SciFi-Textadventure spielen möchte, wird im Angebot der IFDB zahlreiche Schmuckstücke (1, 2, 3) finden. Wenn man bedenkt, dass alle Spiele der IFDB kostenlos sind, sind die 15 USD (Stand: Dezember 2012) für das Plus an Grafik und Musik wohl stark übertrieben, zumal man noch 5 USD für die Collector’s Edition drauflegen sollte – die enthält ein Hintbook, ohne das man nicht weit kommt.
Schade, Cabrera Brothers, aber das war nix.
Wer im Jahr 2012 noch Textadventures spielt, sucht vor allem eins: Hochklassige Geschichten und spannende Tüfteleien, die sich in diesem Nischengenre verwirklichen lassen, weil kein Budget und kein Personal für die Verwirklichung notwendig ist. Eine gute Geschichte haben die Cabrera Brothers zwar zu Papier gebracht, aber bei der Umsetzung sind sie über alle Maßen gescheitert. Dieses Spiel ist ein einziges Ärgernis. Statt auf am Markt erhältliche Systeme zu setzen, wurde alles von Grund auf selbst gemacht, dabei wurde auf grundlegenden Spielkomfort verzichtet, und eine Qualitätskontrolle scheint es nie gegeben zu haben. Fazit: Finger weg!!!
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