Eine abgelegene Tankstelle am Rande einer Landstraße. Allmählich verschwindet die Sonne hinter den Bergen. Leise wiegen sich die Bäume im Abendwind. Vor der Tankstelle sitzt ein älterer Mann in einem Sessel und genießt die letzten Sonnenstrahlen des dämmernden Tages. Ein kleiner Transporter kommt angetuckert, der Fahrer steigt aus, hinter ihm ein Hund mit etwas schwerfälligem Gang.
Kentucky Route Zero erzählt die Geschichte des Lastwagenfahrers Conway, der im ländlichen Kentucky eine Antiquität abzuliefern hat. Die Lieferadresse ist jedoch schwer ausfindig zu machen und so hält er an einer Tankstelle, um sich nach dem Weg zu erkundigen. Nur über die mysteriöse Route Zero sei die Adresse erreichbar, so sagt man ihm. Doch die Suche nach dieser Straße soll sich als ebenso schwierig erweisen.
Sobald der Spieler die Kontrolle über Conway erhält, fallen die sofort offengelegten Aktionsmöglichkeiten auf. Hotspots in Reichweite des Protagonisten werden automatisch markiert. Viele sind es allerdings nicht. Zwei schwarze Felder poppen auf, eines verweist auf den Hund, das andere auf eine mögliche Interaktion mit dem Fahrzeug. Als dritte Option bleibt das Laufen. Nähert sich der Spieler dem älteren Herrn, so erscheint ein weiteres Feld. Ein Auge und eine Sprechblase stellen zur Auswahl, ob der Mann nur betrachtet oder gleich angesprochen werden soll.
Entscheidet man sich für das Gespräch, so stellt sich heraus, dass der alte Mann erblindet ist. Nur anhand unserer Schritte versucht er uns zu beurteilen, stellt fest, dass der Hund schon bessere Tage erlebt haben muss und erkundigt sich nach dem Namen unseres Weggefährten. Nun kommt eine Eigenheit des Spiels zum Tragen. Der Spieler kann entscheiden, wie das Hündchen heißt. Anders gesagt, greift er in die Vergangenheit der Figuren ein. Es geht nicht darum, dem namenlosen Hund endlich einen Namen zu verpassen. Es geht darum, den Namen zu nennen, den das betagte Haustier schon immer gehabt haben soll. Im späteren Verlauf hat der Spieler noch einige solcher Entscheidungen zu treffen, die die Vergangenheit der Protagonisten betreffen und die auch weitreichender sind. Dies ist ein besonderes Erzählelement von Kentucky Route Zero. Die Entscheidungen erweisen sich im Spielverlauf nicht als richtig oder falsch. Vielmehr soll durch sie eine eigene Geschichte entstehen.
Später steht der Spieler etwa vor der Wahl, ob sich Conway bei einem Unglück eine Verletzung zugezogen haben soll. Und zwar nicht, indem er den Lieferwagenfahrer auf eine bestimmte Weise steuert, sondern indem er die Geschichte so ''weitererzählt'', dass Conway sich verletzt. So hat der Spieler das leibliche Wohl seines Protagonisten dagegen abzuwägen, ob die Handlung mit einem humpelnden Conway möglicherweise interessanter fortschreitet.
Das verfügbare Budget für einen Indie-Titel sitzt selbstverständlich besonders knapp. Doch die Entwickler machten aus der Not eine Tugend. Optisch ist das Ergebnis vielleicht damit vergleichbar, ein einfaches Blatt Papier so zurecht zu schneiden und zu falten, dass daraus ein Kunstwerk entsteht. Mit einfachen Mitteln werden zum Teil beeindruckende Effekte erzielt – Etwa, wenn Conway geschmeidig animiert die Serpentinen eines Hügels besteigt, auf dessen Höhe ein altes Bauernhaus liegt. Sind zunächst nur schwarze Umriss zu sehen, treten nach und nach immer mehr Details aus der Dunkelheit bis das Gebäude schließlich als Ganzes zu erkennen ist. Mal erscheinen Figuren und Umgebung wie im Scherenschnitt, also als schwarze Silhouetten, dann bekommen sie plötzlich Farbe und Details und werden dadurch plastisch. Die Ortschaften des ländlichen Landstrichs werden durch einige Animationen belebt. Stilisierte Baumwipfel wiegen sich im Wind, Wolken ziehen über den Himmel oder im Hintergrund schleppt sich ein Auto auf einen Berg.
Manch einen dürften die Screenshots an Another World erinnern. Doch anders als beim Action-Adventure-Klassiker verfügen die Polygone auch über eine Tiefenebene. Zwar muten die Szenerien nach Scherenschnitt an, doch wenn die Kamera seitwärts wandert, wird die Dreidimensionalität der Kulisse entlarvt. Und trotzdem entsteht ein jedes Mal ein Aha-Effekt, wenn die scheinbare 2D-Landschaft ihre verborgene dritte Dimension offenbart - besonders in einer Szene, in welcher sich der gesamte Raum um den Protagonisten dreht, der als fester Pol in der Mitte verharrt. Solche Momente werden jedoch bewusst spärlich eingesetzt. Die 2D-igkeit des Spiels soll wohl nicht gänzlich auffliegen.
Ein negativer Aspekt des schmalen Budgets ist allerdings die geringe Anzahl der Lokalitäten. So gibt es lediglich drei Orte, die Conway mit seinem kleinen LKW ansteuern kann. Diese unterteilen sich dann nochmal in wenige Räumlichkeiten, etwa einen großen Keller unter der Tankstelle oder ein leicht verzweigtes Höhlensystem unter einem verlassenen Minengebäude. Zusätzlich werden ein paar weitere Orte im Spiel nur in Texten beschrieben, statt grafisch präsentiert. Auch dort können wir grobe Entscheidungen treffen, wodurch diese Passagen an alte Textadventure erinnern.
Kentucky Route Zero bietet keine Sprachausgabe. Auch das mag eine Sparmaßnahme gewesen sein, sorgt allerdings zusammen mit der schlichten Grafik für ein stimmiges Ganzes - der Wissenschaftler, der in den 90ern die Another World erlebte, hatte auch keine Stimme. Während die Protagonisten die englischen Texte also stumm vortragen, wird die sonderbare Atmosphäre durch sphärische Musik verdichtet. Dazu kommen die Umgebungsgeräusche - der Ruf einer Eule, das Zirpen einer Grille, Fahrzeuge, die in der Ferne vorbei brausen.
Was die Entwicklung der Geschichte angeht, so wollen wir an dieser Stelle nicht viel vorwegnehmen. Die soll ein Jeder selbst erleben. Zumal es auch kein leichtes Unterfangen wäre, die Handlung wiederzugeben, denn soviel sei verraten: Die Geschehnisse um den Lieferwagenfahrer Conway und seiner Suche nach der geheimnisvollen Kentucky Route Zero sind konfus, schummerig und undeutlich. Statt einem klaren Handlungsverlauf zu folgen, verläuft sich der Spieler eher in einem Handlungsirrgarten. Es ist eher eine ganz bestimmte Atmosphäre, die sich nach und nach vor dem Spieler entfaltet. Und was sich da entfaltet, lässt sich nicht so einfach glatt streichen. Die Struktur bleibt zerknittert und wellig – und damit nur schwer zu ergründen. Und so schien mir das Schreiben dieses Artikels vergleichbar mit dem Aufzeichnen eines Traumes am nächsten Morgen.
In Kentucky Route Zero verschwinden Menschen innerhalb einer Szene, mit denen Conway gerade noch in eigenartige Gespräche vertieft war – Fragen werden aufgeworfen: Bildet er sich diese Leute nur ein? Sind es vielleicht Geister, die einst hier gelebt haben?
Auch die Umgebung hat etwas von einem sonderbaren Traum. Etwa, wenn auf einer Straßenkarte, die man für die Ortswechsel nutzt, ein brennender Baum verzeichnet ist, den Conway dann auch tatsächlich findet und der auch tatsächlich noch in Flammen steht. An anderer Stelle betritt Conway ein Diner in dem es stockdunkel ist, während sich Gäste und Personal verhalten, als sei das völlig gewöhnlich.
Ist Kentucky Route Zero nun ein Adventure? Und ist es überhaupt ein Spiel? Bisher haben wir nur den ersten Akt der geplanten fünf Kapitel gesehen und darin genau ein klitzekleines klassisches Rätsel gelöst. Dabei gibt das erste Kapitel noch eine Menge weiterer Rätsel auf. Diese allerdings nicht in Form von Aufgaben, die sich dem Protagonisten in den Weg stellen, sondern durch die bisher so undurchdringliche und geheimnisvolle Handlung. Diese treibt der Spieler hauptsächlich durch das Besuchen diffuser Orte und das Führen seltsamer Dialoge vorran. Kentucky Route Zero ist so ziemlich das Gegenteil eines auf Nummer Sicher gehenden Standard-Adventures für den Massengeschmack – es ist ein gewagtes Experiment. Und die Bewertung eines solchen Experimentes fällt nicht leicht. Freunde der verschrobenen Filme eines David Lynch werden an dem Titel ihre Freude haben. Auch wer sich von den Screenshots angesprochen fühlt, sollte einen Blick riskieren. Man darf gespannt sein, inwieweit die verworrenen Fragen und Unklarheiten, die nach dem ersten Akt vorherrschen, in den Folgekapiteln aufgegriffen werden. Mit vernünftigen Antworten ist wohl nicht zu rechnen, aber darum dürfte es auch nicht gehen. Es geht um den Aufbau einer intensiven und verstörenden Atmosphäre, für die der Spieler natürlich empfänglich sein muss.
Die erste Episode von Kentucky Route Zero ist schon seltsam. Trotzdem können das gemächliche Spielprinzip und die teils verstörende Spielweise irgendwie überzeugen. Die Grafik des Spiels ist auf der einen Seite schlicht, auf der anderen Seite wieder sehr gelungen. Auch das Fehlen von Sprache erscheint eher von Vorteil. So bleibt mehr Raum für die besondere Atmosphäre, die das Spiel zu erzeugen vermag. Wir haben es hier sicher nicht mit einem Überflieger oder der bahnbrechenden Innovation im Adventure-Genre zu tun, wohl aber mit einem sehr interessanten und eigenwilligen Spiel, das sich durchaus anzusehen lohnt.Michael Stein
Während meiner Suche nach der ominösen Route Zero musste ich an eine Szene der Simpsons denken. Da sitzt Homer gebannt vor dem Fernseher und sieht sich die mysteriöse Fernsehserie Twin Peaks von David Lynch an. Unter einem Baum, an dem eine Verkehrsampel hängt, tanzt ein Herr mit roter Fliege einen Tango mit einem weißen Schimmel. Homers Urteil: Wow! Ich habe keine Ahnung worum es geht. Ähnlich erging es mir mit Kentucky Route Zero. Den ersten Akt abzuschließen ist, wie aus einem konfusen Traum zu erwachen. Man ist ratlos über das, was man sich da zusammen geträumt hat. Und trotzdem erinnert man sich daran, ein interessantes Erlebnis gehabt zu haben. Im zweiten Akt wird weiter geträumt.
Adventure-Treff-Verein
IBAN: DE38 8306 5408 0004 7212 25
BIC: GENODEF1SLR