Als Dave Gilbert Anfang der 2000er mit kleineren Gastbeiträgen im RON-Projekt (Reality-on-the-Norm) seinen Einstieg in der Indie-Adventure-Szene wagte, war es wohl nicht abzusehen, dass er aus der Masse der Hobby-Scripter ausbricht, um mit seinem 2-Mann-Projekt Wadjet Eye Games den kommerziellen Weg eines professionellen Spieleentwicklers und Publishers zu beschreiten. Als Gilbert mit seinem AGS-Freeware-Adventure The Shivah vor gut 7 Jahren diesen Weg mit der Teilnahme an einem AGS-Contest einschlug, konnte ebenfalls niemand ahnen, dass dieses Spiel im Laufe der Jahre nun sein drittes Lifting bekommen wird. Gemäß des Sprichwortes Aller guten Dinge sind drei bekommt der interessierte Spieler nach der Ur-Version und der Deluxe Edition nun das dritte und vielleicht letzte Makeover in Form der Kosher Edition verabreicht. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die damalige grafische Umsetzung ist für eine Portierung auf das Handy nicht geeignet. Was macht man also? Um es mit Wadjet Eye Games' eigenen Worten zu beschreiben: We remake the whole darn thing.
Die New Yorker Gemeinde von Rabbi Russel Stone, ein orthodoxer Jude mit Prinzipien, glänzt mit sinkenden Mitgliederzahlen und traurigen finanziellen Aussichten. Auch die Synagoge hat schon bessere Zeiten erlebt. Als ihm dieser ungewisse Zustand seiner Gemeinde während einer Predigt wieder ins Gedächtnis gerufen wird, bricht er den Gottesdienst ab und schickt seine einzige eingeschlafene Zuhörerin nach Hause. In seinem Büro findet Stone keine Ruhe, da er Besuch von Detective Durkin bekommt und zu einem Mordfall befragt wird. Jack Lauder, ein ehemaliges Mitglied seiner Gemeinde, wurde getötet und hat Stone eine beträchtliche fünfstellige Summe vermacht. Doch da der letzte Kontakt der beiden bereits Jahre zurückliegt und Lauder den Rabbi gehasst hat, beginnt Stone die Gründe dieses ungewöhnlichen Vermächtnisses auf eigene Faust zu recherchieren.
Wohl kein anderes Adventurespiel hat im Laufe seiner Geschichte so viele grafische Makeover verabreicht bekommen, wie The Shivah. Dabei dürfte wohl das erste Lifting der ersten Freeware–Version zur Deluxe Edition das größere vorher-nachher-Erlebnis beschert haben. Mit einer komplett neuen Grafik (weg vom Pixelstil eines Leisure Suit Larry 1), neuen Rätsel, längerem Spielvergnügen, einer musikalischen Überarbeitung und vollständigen sprachlichen Vertonung wurde dem Spieler für knapp 5 Dollar ein neues 2–stündiges Spielvergnügen gegeben. Grafisch gesehen hat sich Gilberts The Shivah in der neuen Kosher Edition nun aufgrund der Mitwirkung von Ben Chandler (u.a. The Blackwell Epiphany, Sepulchre) an Titel wie Gemini Rue, Resonance oder Primordia angenähert und ist damit Wadjet Eye Games Stil der unverkennbaren Retro-Pixel-Grafik treu geblieben.
Der Atmosphäre tat dieser Schritt sehr gut und das nicht zuletzt, da Rabbi Stone nun nicht mehr aussieht, als würde er im Trainingsanzug jugendlich durch den Central Park joggen wollen. Nicht nur die sehr eckigen und grob gepixelten Hintergründe und Objekte bekamen ein professionelles Facelifting und wirken nun insgesamt weicher und stimmiger, auch neue Effekte wie Licht- und Schattenspiegelungen lassen einzelne Szenen deutlich lebendiger wirken. Das ehemals harte Charakterdesign der Nahansichten profitierte von diesem Rundumschlag gleich mit und erinnert nun mehr an Adventureklassiker wie Gabriel Knight – Sins of the Fathers.
Nachdem bereits in der Deluxe Version die musikalische Untermalung von Velislav Ivanov derer von Peter Gresser weichen musste (und man tat gut daran), gab es für Gressers Kompositionen nun ebenfalls ein kleines qualitatives Lifting, das sich gelohnt hat. Aus dem auf Dauer doch etwas an die Substanz gehendem Leitthema, das uns die meiste Zeit begleitet, ist zum Glück jedoch noch immer jene eindringliche Melodie geblieben, die ein gewisses Ohrwurm-Potenzial hat. Obwohl jedoch gerade dieses Leitthema die Atmosphäre des Spiels zusätzlich unterstützt, wirkt sie auf Dauer leider immer noch etwas nervig.
Wem die erste überarbeitete Fassung von The Shivah bereits bekannt sein sollte, der wird den weiteren Ablauf des Spiels ebenfalls kennen. An der Geschichte und deren Umsetzung hat sich nämlich ansonsten nichts verändert. Allerdings werden neue Spieler nun nicht mehr in den Genuss der ehemaligen Deluxe Version kommen, da mit dem Release der Kosher Edition diese nun sprichwörtlich ausgedient hat.
Wer nicht bereits beim eher ungewöhnlichen Titel The Shivah (Bezeichnung der 7–tägigen jüdischen Trauerzeit nach dem Begräbnis eines sehr nahen Angehörigen) ahnt, dass sich Gilberts erstes kommerzielles Adventure von anderen Genrevertretern abhebt, der wird dies spätestens beim Auftritt des Antihelden Rabbi Stone während des jüdischen Gottesdienstes in Erwägung ziehen. So ungewohnt das Setting auch ist, eben diese Umsetzung lässt das Spiel in Erinnerung bleiben. Dabei ließ es sich Dave Gilbert auch nicht nehmen, selbst eine kleine Sprech- und Singrolle als Cantor Josh zu übernehmen.
Um es vorweg zu nehmen: Das Positive am religiösen Hintergrund von The Shivah ist die Tatsache, dass Gilbert weder bekehren noch abschrecken will. Jüdisches Hintergrundwissen ist nicht nötig, um das Spiel verstehen zu können. Der unerfahrene Spieler hat ebenso wenig Nach- wie Vorteile. Doch bereits mit ein paar Grundkenntnissen baut sich ein ganz anderes Spielgefühl auf. Ausgestattet mit einem Mini–Jiddisch–Wörterbuch gibt man dem Spieler zwar die Möglichkeit, nachzuschlagen, aber bereits vorhandenes Hintergrundwissen kann dadurch natürlich nicht erreicht werden. Vermutlich wird der Experte zu seiner eigenen Freude auf Darstellungen und Umsetzungen treffen, die mehr künstlerischen Zwecken dienen als religiösen Wahrheitsgehalt aufweisen. Allein das macht The Shivah für jede Ziel- und Altersgruppe interessant.
Das Rätseldesign an sich verlangt dem Spieler nicht viel ab. Das Meiste verläuft auf verbaler Ebene oder man befindet sich auf Spurensuche mit diversen Suchanfragen im Computer. Dabei kann einem bereits zu Beginn verdeutlicht werden, dass man stets die Augen offen halten sollte. Es gibt ein paar Stellen im Spiel, die einen leicht verzweifeln lassen können, wenn man sich nicht wirklich auf den Aufbau des Rätsels konzentriert. Bereits beim Starten von The Shivah wird dem Spieler ein sehr wichtiges Element nahe gelegt. Er muss es nur noch richtig deuten können. Gespräche sollten, im eigenen Interesse, auch gründlich gelesen werden, da der Spieler Schlüsselwörter aufschnappen und weiterverarbeiten muss. Das klappt auch reibungslos und bietet sogar genügend Spielraum für Bonus–Suchanfragen im Computer. Wer sich zusätzlich im Wadjet-Eye-Universum auskennt, wird ein paar Eastereggs als solche zu erkennen wissen.
Dass es sich als Rabbi nicht ziemt, an Schwert- oder Beleidigungsduellen teilzunehmen, darf natürlich kein Hindernis sein. Kann man sich bei den Gesprächen nicht etwa für das was einer Antwort, sondern das wie entscheiden, gibt es auch eine rabbinische Form des bekannten Duells aus Monkey Island mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad.
Im Sumpf des Verbrechens kann auch Rabbi Stone vorzeitig ableben. Das Gute: Man hat aufgrund des Autosaves die Möglichkeit, kurz vor dem Geschehen wieder einzusetzen. Leider muss man nach jedem Tod den Startbildschirm über sich ergehen lassen. Ein Umstand, der spätestens nach dem dritten Mal nicht mehr ganz so viel Freude bereitet. Angespornt wird man dann wenigstens von freischaltbaren Errungenschaften, für die ein mehrmaliges Spielen sogar notwendig ist. Freunde von Audiokommentaren können sich den Kibbitz-Mode dazu schalten, der nichts anderes bedeutet, als dass Dave Gilbert ungefragt sein Pixelgesicht einblendet und erläuternde Kommentare zur jeweiligen Umsetzung bzw. Szene abgibt.
The Shivah: Die 7–tägige Trauerperiode. 7 Jahre nach dem ersten Erscheinen und der ersten Überarbeitung. Ein Zufall? Möglich. Dave Gilbert hat in sein erstes kommerzielles Adventure viel investiert, um es grafisch und musikalisch qualitativ aufzuwerten. Dafür Ben Chandler mit ins Boot zu holen, war nicht die schlechteste Idee. Ganz im Gegenteil. War die Grafik der Deluxe Edition bereits für viele Fans der einfachen Pixelkunst ansprechend genug, hat dieser Rundumschlag einmal mehr für zusätzliche Atmosphäre gesorgt. Auch wenn das Spiel in seiner Länge die 2 Stunden-Grenze kaum überschreiten dürfte, lohnt sich ein Kauf für 4,99 Dollar (Releasepreis), sofern man sich für den gleichen Preis nicht schon die Deluxe Edition gekauft hat. Noch größer wäre die Freude gewesen, wenn man sich entschieden hätte, in der Kosher Edition sowohl die Freeware, als auch die Deluxe Edition beizufügen, um gerade den neuen Spielern den Wandel des Spiels näher zu bringen. Leider scheint die Freeware Version heute verschollen.
Ist es wirklich schon sieben Jahre her, dass Dave Gilbert mit diesem kleinen Meisterwerk sein erstes kommerzielles Spiel auf den Markt brachte und damit eine kleine Revolution im Indie-Adventure-Segment startete? Kaum zu glauben, denn die Geschichte und das Setting von The Shivah sind auch sieben Jahre später immer noch einzigartig! Alleine deshalb lohnt es sich, The Shivah zu spielen. Und dank der neuen Grafiken von Ben Chandler sieht es auch noch wirklich toll aus (wenn man den Retro-Pixel-Stil mag) und hat eine nochmals deutlich dichtere Atmosphäre als die Deluxe Edition von 2006. Ein tolles Update eines tollen Spiels!Axel Kothe
Nicht nur alte Hasen des Spiels werden sich an der verbesserten Atmosphäre erfreuen können. Dank der verbesserten Grafik dürfte das Spiel in erster Linie neue Spieler anlocken. Vor allem der ungewöhnliche Schauplatz und Hintergrund hebt The Shivah auch nach so vielen Jahren von anderen Genrevertretern ab.
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