Es ist Oktober. Die Tage werden kürzer und die Nächte kälter. Halloween steht vor der Tür. Und David Lynch hat eine Fortsetzung seiner legendären Mystery-Serie Twin Peaks angekündigt. Twin Peaks, das war diese Bergstadt mitten im Nirgendwo. Mit ihren ungewöhnlichen Bewohnern und ihrer langsamen, fast schon traumartigen Szenerie, wo die Zeit still zu stehen scheint. Aber hinter den Kulissen passierten schreckliche Dinge. Intrigen, Affären, Mord. Als eine Mischung aus Mystery- und Soap-Opera wurde die Serie manchmal beschrieben, als eine Parabel, dass sich hinter der schönsten Fassade auch der größte Abgrund verbergen kann.
The Vanishing of Ethan Carter vermittelt eine ähnliche Stimmung. Auch hier erreichen wir als Detective ein Bergdorf. Der Brief des Jungen Ethan hat uns darauf aufmerksam gemacht. Auch hier erstrahlt die komplette Szenerie in den hübschesten Farben, die ein Spätsommer für eine bewaldete Hügelkette, die von einem majestätischen Fluss durchkreuzt wird, bereit hält. Bäume wiegen sich im Wind, Wasser plätschert, das erste Herbstlaub unter unseren Füßen raschelt. Und genau wie bei Twin Peaks bemerkt man schnell, dass irgendetwas mit diesem Ort nicht stimmt: Im Wald sind tödliche Fallen verbaut, ungewöhnliche Apparaturen verstecken sich im Farn-Dickicht und an der Kirche findet sich eine merkwürdige Opfergruft. Schnell ist die Wissensgier des Detektivs geweckt und wir beginnen mit den Recherchen.
Anders als in Twin Peaks ist unser Dorf jedoch bereits verlassen – scheinbar seit langer Zeit: Häuser sind verfallen, teilweise verbrannt, eine alte Mine verbarrikadiert, Aufzüge stillgelegt. Wir sind also angehalten, diesen merkwürdigen „Fall“ um Ethans Dorf retrospektiv zu lösen. Meist rekonstruiert man dabei Tatorte, indem man Gegenstände zurück an den Platz bringt, an dem sie zum Zeitpunkt eines Vorfalls waren. Schwer sind diese Rätsel dabei nicht wirklich. Wer zum Beispiel einen kombinierbaren Gegenstand findet, bekommt eine visuelle Hilfe angezeigt, in welcher Richtung und an welchem Ort sich das Gegenstück befindet. Ein herkömmliches Inventar gibt es nicht: Gegenstände werden automatisch angewendet, wenn der Spieler sie besitzt.
Je tiefer man in die Geschichte eintaucht, desto surrealer wird das Spiel: Hat man genug Gegenstände rekonstruiert, kann man meist eine Vergangenheitswelt beschwören, in der man den kompletten Tathergang mit den unterschiedlichen Beteiligten noch einmal wie ein Regisseur zusammenbauen und abspielen kann. Diese paranormalen Szenen sind dramaturgisch sicherlich ein Höhepunkt des Spiels und essentieller Bestandteil, um die Geschichte vollständig zu lösen. Hat man einen „Tatort“ gelöst finden sich dort Aufzeichnungen von Ethan und seiner Verwandtschaft, die ebenfalls weitere Details der Geschichte offenbaren.
So tastet man sich von Szenerie zu Szenerie. Die Präsentation zählt dabei ohne Zweifel zum atmosphärischsten, was das Mysterygenre derzeit zu bieten hat. Die sehr ausgewogene Farbgebung, die wundervoll angelegte Landschaft und das atmosphärische und nie aufdringliche Soundbett machen sofort Lust, jeden Winkel des Ortes zu erkunden. Jedes Bild wirkt fast wie ein Gemälde. So besucht man der Reihe nach weite Wälder, tiefe Tunnelschächte oder knarzende Kirchtürme – und freut sich ausnahmslos jedes Mal, wenn man wieder einen neuen Schleichweg, Pfad oder Eingang entdeckt hat - schon allein um die nächste hübsche Grafik zu sehen. Auch wenn das Spiel in Echtzeit-3D gespielt wird, ist man dabei meist auf Pfadspuren oder Straßen unterwegs, in einigen Waldstücken ist aber auch eine ausführliche Erkundung abseits der Wege möglich. Ansonsten wird der Spieler in der Regel durch natürliche Felsen oder Abgründe zurück gehalten. Die komplette Geschichte spielt sich im Dorf und seiner näheren Umgebung ab. Spürbare Nachladezeiten gibt es dabei keine.
Auch bei den sparsam aber effektiv eingesetzten Schocksequenzen merkt man den Machern die Liebe zum Detail und zu einer tollen Dramaturgie an. Bei der hohen Immersion, die allein die Präsentation schon erzeugt, sind einige nervöser Hüpfer oder Adrenalinschübe garantiert. Die englische Sprachausgabe wird zwar nur sehr dezent eingesetzt – Briefe werden z.B. nicht vorgelesen - hat aber ebenfalls eine gelungene Besetzung. Alles in allem ist die Präsentation bei The Vanishing of Ethan Carter somit Wow-Effekt in Reinform und nimmt einen binnen Sekunden gefangen.
Etwas verpatzter ist das Spiel auf der Gameplay-Seite. So speichert das Spiel nur an bestimmten Stellen und das immer wieder über den gleichen Speicherplatz. Das automatische Speichern passiert zwar sehr häufig, ist aber im Adventure-Genre trotzdem ein gewisses Manko, zumal auch einige Positionen von Gegenständen je nach Tatortzustand einfach nicht mitgespeichert werden. Verschiedene Speicherstände können nicht angelegt werden. Wer also eine bestimmte Szene nochmal spielen möchte, muss von vorne beginnen. Das ist zum Glück kein totaler Beinbruch, denn das Spiel ist mit einer Spielzeit von rund 3 bis 5 Stunden auch nicht allzu lang. Frustrierend kann es trotzdem sein.
Schwierigkeiten in den Rätseln gibt es selten, da sie sich primär auf Exploration und einige wenige Kombinationsrätsel beschränken. Dazu gesellen sich pro Tatort noch ein paar Logikaufgaben, die Rekonstruktion von Tatort-Chronologie oder einfache Schleich-Einlagen. Meist sind genug Tipps versteckt, um zu erahnen, wo es weitergeht. Leider wiederholt sich das Rätsel-Gameplay bei fortschreitendem Spiel zunehmend, sodass gegen Ende sehr schnell klar wird, was gemacht werden muss. Die Rätsel selbst sind nicht ineinander verschränkt, das heißt, dass jeder Tatort in beliebiger Reihenfolge gelöst werden kann und alle relevanten Gegenstände sich immer an einem gemeinsamen Tatort befinden. Die allerletzte Spielsequenz löst sich aber nur aus, wenn alle relevanten Orte auch „gelöst“ wurden.
So oder so erfindet The Vanishing of Ethan Carter das Rad beim Gameplay nicht so neu, wie es zunächst scheint. Die neuen Spielelemente sind im Prinzip bekannte Minispiele, die aber nahezu ohne Bruch in die Spielewelt integriert wurden. So müssen beispielsweise verdrehte Räume in einem paranormalen Haus wieder an die richtige Stelle gesetzt werden. Dafür wird aber kein einfacher Lageplan verwendet sondern eine Beschwörungsformel, die es ermöglicht, Räume an ihrer Türschwelle zu „tauschen“. Der Spieler verlässt also für kein Rätsel jemals die 3D-Spielewelt. Alles fühlt sich sehr natürlich integriert an und wird intuitiv verstanden, alles arbeitet zu 100 Prozent auf eine hohe Immersion bei hohem Komfort mit wenig Hindernissen hin. Auch die minimalistische Spieloberfläche trägt hier ihren Teil dazu bei. Ob man sich an dem vereinfachtem Gameplay stört, muss also letztlich jeder für sich selbst entscheiden.
Am Ende steht bei The Vanishing of Ethan Carter das Erleben und das Entdecken im Vordergrund. Es ist ein bisschen wie Myst ohne die beinharten Rätsel, ein bisschen wie Phantasmagoria ohne den Splatter, oder eben ein bisschen wie Twin Peaks ohne den gewaltigen Plot. Denn auch wenn das Spiel einen sofort in seinen Bann zieht ist die Geschichte wenig überraschend. Tatsächlich ist ihr Ende sogar einigermaßen vorhersehbar. Auch ist sie mehr dem „Entdecken“ verschrieben und weniger der eigentlichen Narration: Zahlreiche Hinweise im Spiel können wie ein Puzzle zusammengesetzt werden, um weitere Hintergründe zu entschlüsseln. Das ergibt am Ende zwar weiterhin keinen stärkeren Plot, lädt aber immerhin zum Wiederspielen ein.
Wirkliche Überraschungen, „Twists“ und „Turns“, wie man es von einem Mystery-Krimi erwarten könnte, gibt es in der kurzen Spielzeit allerdings nicht. Zu sehr dient sie den Spieler-Entwicklern als Erzählhülle, möglichst viele unterschiedliche Sequenzen an interessanten Orten unterzubringen. Ist das ein Problem? Nicht wirklich, denn wir hatten schon deutlich schlechtere Adventure-Geschichten. Trotzdem stimmt es ein wenig traurig, dass man die bombastische Präsentation nicht auch für einen noch bedeutungsschwangeren Dramaturgiebogen genutzt hat, zumal viele philosophische Fragen angesprochen werden. So bleibt die Geschichte hinter dem Verschwinden von Ethan Carter vergleichsweise banal und hinter ihren Möglichkeiten zurück, auch wenn sie bis zum Ende toll in Szene gesetzt ist.
The Vanishing of Ethan Carter hat mich auch alleine vor dem Rechner sofort in seinen Bann gezogen. Die Atmosphäre ist fantastisch! Schon nach ganz kurzer Zeit war ich so tief in die Spielwelt versunken, als hätte ich eine 3D-Brille auf. Den Gruselfaktor fand ich genau passend: Bei den wenigen Scare-Jumps bin ich zusammengezuckt und an manchen Stellen war mir allein durch die Amtosphöre richtig unwohl zumute. Doch jeweils kurz darauf lässt die Anspannung wieder nach und ich konnte wieder beruhigt die wundervolle Landschaft genießen - eine schöne Balance. Ich habe für den Titel insgesamt 4 1/2 Stunden gebraucht - auch weil ich eine große Entdeckerlust hatte und fast jeden Winkel abgelaufen bin. Die Rätsel und ihre Intregration fand ich auch fantastisch. Ansonsten ging es mir ähnlich wie Sebastian: Die Story und deren Auflösung erschienen mir etwas schwach und vorhersehbar, die Rekonstruktion der Tatorte mit der Zeit etwas zu wiederholend und vor allem streckenweise zu leicht. Besonders nervig war ein Moment in der Mine, als ich ein Rätsel fast gelöst hatte und ohne nachzudenken eine Pause einlegen wollte - der automatische Speicherpunkt war leider weit vom erreichten Stand entfernt. Trotzdem würde ich eine unumwundene Empfehlung für dieses kleine Juwel aussprechen und hoffe inständig auf mehr!Hans Duschl
Wir haben in einer Spielergruppe das Spiel in einem Rutsch durchgespielt und fühlten uns herausragend unterhalten. Die Grafik ist eine Wonne. Man möchte am liebsten in jedes Bild eintauchen und so macht allein das Herumlaufen in der Welt von Ethan Carter wahnsinnig viel Spaß. Leider blieb die Geschichte und das Gameplay ein wenig hinter meinen Erwartungen zurück. Im Gegensatz zur Grafik sind die nämlich nicht so clever zusammengebaut, wie man es hätte machen können. Die Endsequenz konnte ich leider schon nach dem ersten Tatort erahnen und die Tatsache, dass alle Rätsel ohne Überschneidung und vollkommen modular und austauschbar immer nur an einem Ort stattfinden, ließen uns das Spiel am Ende eher linear „abgrasen“ als wirklich erleben. Am Schluss ist das Spiel also bei weitem nicht so innovativ, so emotional oder so „open-world“ wie es am Anfang erscheint. Fehlende Funktionalitäten wie freie Speicherstände trüben das Bild ebenfalls ein wenig. Schade, denn schon ein klein bisschen mehr Mut beim Rätseldesign und ein klein bisschen weniger „Casual“ hätten das Spiel zu einer Referenz machen können. Herausragende Grafik allein machen eben noch kein herausragendes Adventure-Design. So bleibt zwar kein interaktives Twin Peaks, aber ein trotzdem durchweg spannendes und vor allen Dingen wunderhübsches Spiel zurück, dass schon allein durch seine tolle Präsentation einen hohen Wiederspielwert hat. Ich bin gespannt auf den nächsten Titel des Entwicklers!
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