Hinweis: Dieser Test enthält leichte Spoiler, um die Kritikpunkte und die Hintergrundgeschichte zu erklären.
Mit Myst und Riven setzten die Entwickler bei Cyan Genre-Standards. Die ebenso guten, moderneren Fortsetzungen Myst V und URU – Ages Beyond Myst konnten jedoch finanziell nicht an die Spiele aus den Neunzigern anknüpfen. Die treue Fangemeinde wollte jedoch mehr und so kamen 2013 über Kickstarter mehr als eine Million Dollar zusammen, um Obduction zu finanzieren. Auch wenn der Titel selbst nicht im Myst-Universum spielt, sollte er doch so aussehen und sich so anfühlen. Ein ehrgeiziges Ziel, dessen Erreichen wir in unserem Test natürlich mit überprüft haben.
Mitten in einer kargen Felsenlandschaft, an die sich ein Wald anschließt, beobachtet der Spieler ein merkwürdiges Phänomen: Blitze zucken vom Himmel, eine Art Energiequelle schießt durch die Luft. Schließlich bleibt ein riesiger Pflanzensamen schwebend in der Luft stehen. Kurz darauf löst sich die Welt auf und weicht einer vollkommen anderen Realität. Nach kurzer Zeit wird klar: Der Spieler wurde entführt und in eine andere Welt gebracht. Ursprünglich war diese offenbar von mehreren Menschen bewohnt, doch Häuser und Umgebung sind verlassen. Mit der Erkundung der Umwelt fügt sich langsam ein Bild über die zurückliegenden Ereignisse und die Hintergründe der Entführung zusammen. Dabei helfen Tagebucheinträge ebenso wie Begegnungen mit einer anderen Person und die genaue Beobachtung der Umgebung. Auch wenn die Hintergrundgeschichte keine allzu großen Wendungen enthält, ist sie spannend erzählt und sorgt bis zum Schluss für Freude am Entdecken. Auch nach so vielen Jahren versteht es Cyan, das Prinzip „du findest dich plötzlich in einer fremden Welt wieder und musst herausfinden, was passiert ist“ gelungen umzusetzen. Ebenfalls wie gewohnt stehen durch eine Entscheidung am Ende des Spiels mehrere Ausgänge der Geschichte zur Verfügung.
Bei der Steuerung nimmt Cyan erneut Rücksicht auf Spieler, die sich nicht frei über die WASD-Tastenkombination bewegen wollen. Neben dieser Variante steht nämlich auch ein Klickmodus zur Verfügung. Dieser führt wahlweise mit oder ohne Videoübergängen zu vordefinierten Punkten in der Umgebung. Dort ist mit der Maus eine 360-Grad-Rundumsicht möglich. Beide Steuerungsvarianten fuktionieren einwandfrei. Bei der freien Steuerung ermöglicht die Umschalt-Taste ein schnelleres Vorankommen. Wer dauerhaft joggen will, kann die Feststell-Taste drücken. Bei manipulierbaren Objekten sind Gesten implementiert, die mit der Maus durchgeführt werden müssen, beispielsweise, um eine Abdeckung vor einem Knopf herunterzuziehen.
Die Grafik von Obduction ist atemberaubend. Verschiedene Welten vollkommen unterschiedlicher Art warten mit einer Detailtiefe und realistischen Darstellung auf, die sonst nur mit einer Unmenge an Geld vollgepumpten, massentauglichen Shootern zu sehen ist. Egal ob eine gelbe Sandsteinwüste, eine hochtechnische Höhlenwelt voller Getriebe und Zahnräder oder eine verwunschene Dschungellandschaft: Die Unreal-Engine 4 wird hier bestens ausgereizt. Mit einem cleveren technischen Kniff wurden zudem Szenen mit realen Schauspielern integriert, die sich sehr gut in die Spielwelt einfügen. Durchweg positiv sind auch die Schauspieler und Sprecher zu bewerten, allen voran Robyn Miller. Das Spiel bietet dabei zwar nur eine englische Sprachausgabe, allerdings können deutsche Untertitel eingeblendet werden. Bis auf einige Patzer im Menü ist die Übersetzung gut gelungen. Der Soundtrack stammt wie bei Myst und Riven aus der Feder von Robyn Miller. An den allermeisten Stellen verstärkt die Musik die Stimmung perfekt. Allerdings gibt es einige wenige Ausrutscher, bei denen ein allzu moderner Band-Sound kurz für Irritationen sorgt. Das ist jedoch ein Kritikpunkt auf sehr hohem Niveau und tut der enorm dichten Atmosphäre keinen Abbruch. Kurzum: In der Präsentation erlaubt sich der Titel nahezu keine Fehler.
Wer die Antwort auf die Frage sucht, wie ein Explorationsadventure gekonnt mit Rätseln kombiniert werden kann, wird bei Obduction fündig. Zum einen spielen anspruchsvollere Logikrätsel eine Rolle. Eine Vielzahl an Aufgaben ergibt sich jedoch aus der Umgebung heraus. Hier spielen genaue Erkundungen eine Rolle. Die dritte und definitiv schwierigste Rätselform hat mit der Möglichkeit zu tun, Welten zu wechseln. Hieraus ergibt sich auch der einzige Kritikpunkt am Rätseldesign: Mit jedem Weltenwechsel lädt das Spiel die jeweils andere Umgebung. Diese Transformation schwächt die Atmosphäre auf Dauer ein wenig und das Ausprobieren unterschiedlicher Lösungen kann schnell nervig werden. Vor allem wer mit einem schwächeren Rechner spielt, sitzt zudem über die Zeit gesehen schnell einmal mehrere Minuten untätig vor dem Rechner.
Insgesamt bewegt sich Obduction so auf einem sehr hohen Rätselniveau. Vor allem im letzten Drittel werden die Aufgaben enorn knifflig. Schön ist die Tatsache, dass gelöste Rätsel stets mit mehr Informationen zur Hintergrundgeschichte oder dem Erreichen eines neuen Areals verbunden sind, was ungemein motiviert.
Es ist kaum zu glauben, doch Cyan hat es mit Obduction tatsächlich geschafft, das Gefühl der Myst-Reihe perfekt einzufangen und auf einen modernen, extrem gut aussehenden Titel zu übertragen. Mit etwa zehn bis zwölf Stunden hat das Spiel genau die richtige Länge, stellt fordernde Aufgaben, verbindet Erkundungsaufgaben mit knackigen Logikrätseln und erzählt eine spannende Geschichte. Kritikpunkte gibt es nur wenige: Der Soundtrack wirkt an einigen Stellen kurz unpassend und Rätsel, die Weltenwechsel voraussetzen, können auf Dauer nervig werden. Ansonsten ist Obduction ein ganz klarer Kandidat für das Adventure des Jahres.
Ohne große Erwartungen habe ich Obduction gestartet und wurde nach kurzer Zeit in das Spiel hineingesogen. Genau wie der Protagonist wurde ich entführt in eine andere Welt. Selten haben mir Erkundungen in einem Spiel so viel Spaß gemacht. Kleine Anspielungen an Myst und fordernde Rätsel, die fast den Schwierigkeitsgrad des legendären Ahnonay aus URU erreichen, haben mich bestens unterhalten. Das ist es, was dem Adventuremarkt in den letzten Jahren gefehlt hat. Hoffen wir, dass der Erfolg erneut große Publisher auf den Plan ruft. Denn das Ende ist bei Cyan garantiert noch nicht geschrieben.
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