Hinweis: Um die Geschichte zusammenzufassen, enthält dieser Test leichte Spoiler zu den ersten 10 Minuten des Spiels. Dadurch werden auch indirekt Spoiler für den ersten Teil preisgegeben.
Es ist ein schweres Erbe, das Silence antreten muss. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb über die Entwicklungszeit der Zusatz The Whispered World 2 aus dem Titel verschwunden ist. Eines war jedoch von Anfang an klar: Grafisch wird der Titel überzeugen können. Doch wie sieht es mit dem Rest aus?
Für das Problem, wie die an sich abgeschlossene Geschichte des ersten Teils fortgesetzt werden kann, hat der Autor Marco Hüllen eine clevere Lösung gefunden. Während eines Bombenangriffs auf ihre Stadt flüchten sich Noah und seine kleine Schwester Renie in einen Bunker – keine Sekunde zu spät. Doch die bedrückende Atmosphäre setzt den beiden sichtlich zu. Als dann die Decke einstürzt, gelingt der Übergang in die Traumwelt Silence, von der Renie aus zahlreichen Erzählungen von Noah weiß – inklusive Sadwicks treuem Begleiter, der Raupe Spot. Leider ist es auch dort nicht sonderlich friedlich: Grauenerregende Sucher machen das Land unsicher und eine falsche Königin verfolgt einen bösen Plan. Gemeinsam mit einer Rebellengruppe machen sich Bruder und Schwester auf den Weg zu ihr.
Insgesamt ist die Geschichte stabil ausgearbeitet und spannend erzählt, lässt jedoch (natürlicherweise) das Überraschungsmoment aus dem ersten Teil vermissen. Worauf der Titel hinausläuft, dürfte jedem klar sein, der The Whispered World gespielt hat. Dennoch ist die Reise dorthin durchaus sehenswert, denn ein paar Detailfragen bleiben zunächst ungeklärt. Und auch aus den beiden alternativen Enden haben die Macher viel herausgeholt. Der Abspann sollte deshalb übrigens nicht übersprungen werden. Allerdings drängt sich an einigen Stellen der Eindruck auf, das Spiel sei deutlich größer geplant und dann gewaltsam gekürzt worden. So findet sich Noah beispielsweise mit einem Mal vor zwei Wasserfällen wieder, die zwei seiner Gefährten urplötzlich eingefroren haben. Um sie zu befreien, trifft er eine gefährliche Entscheidung, die dann aber überhaupt keine Auswirkungen auf den Rest der Geschichte hat. Auch an anderer Stelle scheint der Titel mit harten Schnitten einfach kommentarlos weiter zu hetzen, obwohl Elemente noch nicht abschließend ausgeführt wurden. Und während das Geschwisterpaar und ihr Verhältnis mit viel Tiefe ausgearbeitet wurden, bleiben alle anderen Charaktere überraschend flach. Das trübt die temporeiche Erzählung ein wenig. Vorkenntnisse aus dem ersten Teil sind für die Geschichte nicht notwendig.
Eindeutig punkten kann Silence mit seiner fantastischen Grafik. Unzählige Animationen lassen die Charaktere sehr lebhaft wirken, transportieren Emotionen und machen die Welt, in Ermangelung eines besseren Wortes, erlebbar. Die Verbindung aus liebevoll und detailreich gestalteten Hintergründen, die den Stil des ersten Teils perfekt treffen, mit der 3D-Umgebung ist perfekt gelungen, ebenso wie die cineastische Inszenierung der Zwischensequenzen mit anspruchsvoller Kameraführung. Allein schon Renies unbedarfte Art oder Spots unglaubliche Knuffigkeit gewinnen dadurch enorm an Glaubwürdigkeit. Ebenfalls voll überzeugen kann der Soundtrack, der den Mut hat, sich weit genug vom ersten Teil zu entfernen und doch genug Anspielungen auf The Whispered World zu integrieren. In der Präsentation setzt Silence daher eindeutig Maßstäbe und macht allein dadurch Freude am Spielen.
Die deutsche Sprachausgabe ist insgesamt sehr gut gelungen. Besonders beeindruckend ist die Leistung der Sprecherin von Renie. Über das gesamte Spiel hinweg transportiert sie überzeugend und konstant gut die Glaubwürdigkeit des kindlichen Charakters. Nur selten sitzt eine Emotion nicht ganz passend. Auch die englische Sprachausgabe ist hörenswert.
Für den klassischen Adventurespieler ist Silence definitiv keine schwere Aufgabe. Besonders am Anfang wirken sich nicht abstellbare Tutorialeinblendung sogar nervig aus und nehmen dem Spiel ein wenig seiner Atmosphäre. Wer häufig Rätsel löst, kann sich sogar von den frühen Aufgabenstellungen beleidigt und zwanghaft an eine nicht benötigte Hand genommen fühlen. Die Entscheidung, auf ein Inventar und eine zweite Maustaste zu verzichten, hatten bereits im Vorfeld für viele Diskussionen gesorgt. Im fertigen Spiel zeigt sich, dass Rätselketten dennoch vorhanden sind, deren Komplexität aber stark eingeschränkt ist. Jede Szene kann relativ schnell gelöst werden, über ein einfaches Abklappern der Hotspots (zum Teil in der richtigen Reihenfolge oder im richtigen Moment) geht es voran. Für ein wenig mehr Komplexität sorgen Spots verschiedene Zustände, die jedoch häufig nur kurz eine Rolle spielen und auch keine allzu großen Ketten bilden. Inventargegenstände werden automatisch verwendet, Dialogrätsel gibt es nicht. Und auch wenn mehrere Szenen parallel mit unterschiedlichen Charakteren gespielt werden können: Ein Austausch von Gegenständen oder eine direkte Kooperation bei einem Rätsel findet so gut wie nicht statt. Etwas merkwürdig erscheint auch die Entscheidung, Dialoge und Aktionen anzubieten, die ohnehin nur eine Option haben.
Auf dem PC etwas deplatziert wirkt die vermutlich hauptsächlich für Konsolen integrierte Gestensteuerung, mit der Aktionen wie ziehen oder schieben mit der Maus nachgeahmt werden müssen. Bei Balanceakten gilt es, den Zeiger entsprechend hin und her zu schieben. Perfekt gelungen ist hingegen Spots Statusveränderung: Soll er flach werden, zieht man ihn einfach nach unten, für die Kugelform nach oben.
Wer Silence nicht am Stück spielt, wird sich schnell über eine sehr strittige Designentscheidung ärgern: Das Spiel speichert ausschließlich automatisch und das stets vor Zwischensequenzen. Wer diese also vor dem Beenden noch mitnimmt, muss sie sich beim nächsten Start des Titels noch einmal in voller Länge ansehen. Übersprungen werden kann prinzipiell keine Animation und keine Cutscene. Zudem kann keine Kopie des Speicherstandes erstellt werden. Zwar gibt es drei freie Plätze, diese sind jedoch unabhängig voneinander. Das bedeutet, dass zur Wiederholung einer sehr schwierigen Entscheidung kurz vor Schluss entweder in der Cutscene abgebrochen und neu geladen werden – oder Silence noch einmal komplett durchgespielt werden muss. Warum dieses System 2016 in einem Adventure landet, ist unverständlich.
In Silence trifft eine beeindruckende Präsentation auf eine stabile Fortsetzungsgeschichte mit kleinen Wendungen, die jedoch an einigen Stellen wirkt, als sei sie auf der Hälfte abgewürgt worden. In der Spielzeit von etwa sechs bis acht Stunden erlangen die Hauptcharaktere eine überzeugende Tiefe, der Rest der Figuren bleibt jedoch flach. Die Rätsel dürften durch das stark reduzierte Konzept Adventurefans zum Großteil unterfordern, sind aber zahlreicher und komplexer, als anfangs befürchtet. Kurzum: Spielenswert ist der Titel auf jeden Fall. Seinen sehr hohen Erwartungen und dem Erbe des ersten Teils kann er (und will er vielleicht auch) nicht gerecht werden.
Vor dem Erscheinen habe ich The Whispered World noch einmal gespielt. Die Rätsel waren bockschwer, aus heutiger Sicht zum Teil sogar unfair, jeder Schauplatz mit Liebe gemacht und inszeniert, die Sprecher sorgfältig ausgesucht und die Geschichte mit einer tollen Wendung spannend konstruiert. Dadurch ergibt sich auch heute noch eine Art Magie, die dem zweiten Teil leider fehlt. Auch hier überzeugen die liebevolle Arbeit an den Schauplätzen, die tollen Sprecher und die grandiose Musik. Doch bei den Rätseln herrscht genau das gegenteilige Extrem vor und durch das Ende des ersten Teils ist die Überraschung im zweiten sehr begrenzt. Silence ist sicherlich (und hoffentlich) ein Titel, der Genre-Außenseiter schnell und einfach überzeugen kann und vielleicht sogar zu Adventure-Spielen bringt. Für hartgesottene Fans ist er natürlich ebenfalls spielenswert, aber kein Vergleich zum ersten Teil.
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