Test

von  Topsy-Sophia Schmitt
30.01.2017
Tales
Getestet auf Windows, Sprache Deutsch
85%

Im vergangenen Jahr brachte der italienische Entwickler Ape Marina sein erstes kommerzielles Adventure auf den Markt, dessen Vertrieb durch Screen 7 übernommen wurde. Besagter Publisher, der seit jeher die Nähe zur ambitionierten AdventureGameStudio-Community sucht, wuchs vor allem mit schonungslos blutigen Titeln wie The Cat Lady oder Downfall. Tales hingegen richtet sich vielmehr an zartbesaitete Gemüter und wird bewusst als literarisch beeinflusste Abenteuerreise für alle Altersgruppen angepriesen.

Diese Bücher üben eine besondere Anziehungskraft aus - im wahrsten Sinne des Wortes.

Ein Bibliothekar im Auftrag der Weltliteratur

Der erste Arbeitstag: Traum eines jeden Berufsanfängers, dessen Ehrgeiz nicht mit dem Ende einer mühsamen Ausbildung verflogen ist. Auch Bibliothekar Alfred Walsh, ein ordnungsgemäß bebrillter, ansonsten aber eher lässig anmutender Genosse, ist dieses aufregende Erlebnis nun vergönnt. Ausgangspunkt seines Werdegangs ist eine antike Gemeindebibliothek, deren Bestand wohl seit Jahrhunderten nicht mehr durch schnöde Neuerscheinungen erweitert wurde. Zudem fristet das archaische Gebäude seine Existenz fernab des öffentlichen Lebens, sodass begierigen Leseratten der Zugang verwehrt bleibt. Obgleich das Tätigkeitsfeld von Bibliothekaren gemeinhin als facettenreich gilt, wurde ihm zuvor jedoch keinerlei Auskunft über seine Pflichten erteilt. Erst die Einarbeitungszeit, welche der Vorgesetzte nach drei Minuten als beendet erklärt, gibt Aufschluss über den Zweck seiner Anstellung: Er muss stets anwesend bleiben, um über die Bücher zu wachen – und darüber hinaus bloß die Einsamkeit und eventuell ein wenig Langeweile erdulden – so scheint es zumindest. Schon bald fällt Alfred ein schwarzes, unheilvoll wirkendes Buch in die Hände, dem seine Neugierde nicht standhalten kann. Natürlich ahnt unser bibliophiler Protagonist nicht, dass er dem mächtigen Oblivion damit eine Freifahrkarte durch die Welt der Mythen, Sagen und Legenden verschaffen würde. Jener abscheuliche Dämon verfolgt nämlich seit jeher einen teuflischen Plan: Er möchte sämtliche Geschichten zerstören und somit auf ewig aus den Erinnerungen der Menschen verbannen. So liegt es an Alfred, seinen Fehler schnellstmöglich zu korrigieren, um uns alle vor einer unvorstellbar fantasielosen Zukunft zu bewahren.

Auf Merlins Unterstützung können wir uns stets verlassen.

Bildungsauftrag erfüllt!

Als letzte Rettung erweisen sich – wie könnte es anders sein – die Bücher in den Bibliotheksregalen. Bald entdeckt Alfred, dass es sich dabei um magische Schmöker handelt, die ihm eine leibhaftige Exkursion durch die Historie der Weltliteratur ermöglichen. Es ist Zauberer Merlin aus „Artus und die Ritter der Tafelrunde“, welcher ihn mit der Kunst des Bücherreisens vertraut macht. Wie dieser berichtet, ist Alfred auf die tatkräftige Unterstützung des großen Helden Gilgamesch angewiesen, der Oblivion bereits in der Vergangenheit zu besiegen vermochte. Dieser muss allerdings zuerst aufgetrieben werden, was mit gewissen Problemen verbunden zu sein scheint. Anhand eines Titelverzeichnisses erhält man fortan Kenntnis über den Standort eines Werkes. Sofern man keinen regelmäßigen Austausch mit Merlin scheut, erfährt man nach erfolgreichem Abschluss eines Spielabschnitts stets, wie die nächste literarische Etappe lautet. Dazu zählen etwa Gargantua und Pantagruel, Popol Vuh, Hans und die Bohnenranke, Sisyphos und Belerophon sowie die Göttliche Komödie. Der Spieler wird rasch bemerken, dass Tales nicht nur ein abenteuerliches Point & Click-Adventure ist, sondern ebenso kulturelle Bildung vermittelt.

Gargantua und Pantagruel widmen sich dem leiblichen Wohl.

Mit Säckchen und Glöckchen in Bücherwelten unterwegs

Auf seiner Expedition stößt Alfred auf eine Vielzahl interessanter Charaktere, die sich in mehr oder minder tiefgreifende Konversationen verwickeln lassen. Dass der Entwickler Dialoge schätzt, wird niemandem entgehen. Diese verstreichen aber äußerst kurzweilig und sind häufig mit einem subtilen Humor angereichert. Steuern lassen sich die Gesprächseinheiten in bewährter Multiple-Choice-Manier, wobei jedoch anstelle vollständiger Sätze bloß Stichwörter vorgegeben werden. Obgleich die Kommunikation mit Nebenfiguren einen großen Stellenwert einnimmt, bleibt das eigentliche Rätseldesign keineswegs auf der Strecke. Bewegt man den Mauscursor zum oberen Ende des Monitors, wird ein umfangreiches Inventar eingeblendet. Dieses ist bei Tales an recht ungewöhnliche Regeln gebunden. So lassen sich die eingesammelten Gepäckstücke niemals aus einem Buch in ein anderes verschleppen – es sei denn, man benutzt ein Säckchen, das Merlin Alfred zu diesem Zweck anvertrauen wird. Dort kann jeweils nur ein einzelner Gegenstand abgelegt werden, sodass man seine Wahl mit Bedacht treffen sollte. Das ziellose Kombinieren von Items und Hotspots wird in diesem Spiel zumindest deutlich erschwert. Vielmehr sollte man sich gut überlegen, in welcher Erzählung ein bestimmtes Werkzeug, ein Gewürz oder eine Kostbarkeit Verwendung finden könnte. Zu Beginn sind die Knobeleien noch einfach zu lösen, im späteren Verlauf wird der Schwierigkeitsgrad ordentlich angehoben. Während man in Hinsicht auf das Beutelchen gelegentlich um die Ecke denken muss, werden dem Spieler auch kreative Aufgaben abseits von Inventarrätseln abverlangt. So muss etwa das Tresorschloss einer Truhe geknackt oder mit den notwendigen Kniffen ein schweißtreibendes Pelota-Turnier bewältigt werden. Ein magisches Glöckchen ermöglicht dem Protagonisten nach Belieben die Rückkehr in die Bibliothek – sofern es ihm nicht etwa im Zuge einer Gefangennahme gewaltsam entrissen wurde. Wenn man sich gegenwärtig nicht in einer solchen Zwangslage befindet und die fiktiven Welten frei bereisen kann, steht Kollege Merlin frustrierten Spielern jederzeit mit sinnvollen Ratschlägen zur Seite. Der Hexenmeister fungiert also zudem als spielinterne Hilfefunktion, die nicht mit Hinweisen geizt.

Nun kann keiner mehr behaupten, man hätte uns nicht gewarnt.

Stimmungsvoll zum Leben erweckte Literatur

Die meist farbenfrohen Landschaften wurden in einem nostalgischen, aber detailverliebten Stil entworfen. Auch die individuell gezeichneten Figuren fügen sich ideal in die Szenenbilder ein und verhalten sich keinesfalls statisch. So wurde jede Aktion, die Alfred durchführt, fleißig animiert. Trotz aller Schönheit wirkt die Grafik doch ein wenig verwaschen, was den Gesamteindruck zumindest minimal beeinträchtigt. Die abwechslungsreichen Musikstücke entfachen mit vielfältigen Variationen eine märchenhafte Stimmung und passen sich häufig den kulturellen Wurzeln der jeweiligen Geschichte an - beispielsweise das Maya-Thema bei Popol Vuh, das besonders durch das Arrangement leicht bedrohlicher Panflötenklänge an Temperament gewinnt. Ebenso trägt die rege Geräuschkulisse zu dieser beachtlichen Atmosphäre bei. Tales ist zudem mit einer soliden englischen Sprachausgabe gesegnet, hinter der sich teils bekannte Gesichter verbergen. So hat etwa Alisdair Beckett-King, der Autor von Nelly Cootalot, dem Bibliothekar seine Stimme geliehen.

Teamwork: Klein-Hans ist uns dabei behilflich, ins Haus des Riesen einzubrechen.

Fazit

In Ape Marinas Tales werden zwei verwandte Genres, nämlich Adventurespiele und Prosa, geschickt miteinander verwoben. Spielerisch vermittelt es kulturelle Werte und ist somit nicht zuletzt für den Nachwuchs von besonderer Bedeutung. Anregungen bietet es zudem Erwachsenen, die ihren literarischen Horizont erweitern möchten. In erster Linie aber handelt es sich um einen liebevoll gestalteten Fantasy-Titel im klassischen Gewand, der auch Freunde von Simon The Sorcerer und Co. aus ihren Schlupfwinkeln entführen dürfte, und zugleich eine wichtige Botschaft zum Ausdruck bringt – denn welchen Bestand hätte die menschliche Zivilisation ohne unsere grenzenlose Fantasie und die Sehnsucht nach starken Geschichten?

Galerie

Kommentar des Verfassers

Kommentare

detail

Interessant ist, dass Tales ein ähnliches Ziel wie der großartige Roman/Textadventure Fahrenheit 451 von Ray Bradbury verfolgt – auf eigene Weise, nämlich mit fantastischen Mitteln, welche jedoch überwiegend auf Literaturkenntnissen oder fleißigen Recherchen basieren. Ich habe es jedenfalls rasch in mein Herz geschlossen, zumal mir die zugrunde liegende Aussage sehr imponiert.

Redaktions-Wertung

Grafik
Musik
Steuerung
Atmosphäre
Rätsel

Gesamt

Pro
Contra
  • schöne Geschichte mit wertvoller Botschaft
  • interaktive Einblicke in die Weltliteratur
  • liebevolle Grafik, stimmungsvolle Atmosphäre
  • gute Sprecherleistung
  • kreative Rätsel
  • Grafik wirkt leicht verwaschen