Test

von  Topsy-Sophia Schmitt
15.07.2017
Lydia
Getestet auf Windows, Sprache Englisch

Das Erstlingswerk der unabhängigen Entwicklerschmiede Platonic Partnership befasst sich mit der traumatischen Kindheit und Jugend seiner titelgebenden Protagonistin, die unter den Folgen des Alkoholmissbrauchs im eigenen Elternhaus zu leiden hat. Im Vordergrund stehen hierbei weniger die Regeln des traditionellen Grafikadventures als vielmehr Atmosphäre und Erzählgewalt. Ob Lydia seine vermeintlichen Stärken so geschickt entfaltet, wie es Trailer und Screenshots vermuten lassen, berichten wir euch in unserem Test.

Lydias Vater ist stets zu Scherzen aufgelegt.

Mit Teddy auf Monstersuche

An nahezu jedem Abend kann die kleine Lydia jene beunruhigenden Laute vernehmen, welche ihr immerzu den Schlaf rauben. Es scheint, als läge in diesem Hause so manches im Argen, was unsere Heldin bislang aber nicht zu fassen vermag. Überzeugt davon, dass in unmittelbarer Nähe ein schreckliches Monster sein Unwesen treibt, begibt sie sich zunächst auf die Suche nach ihrem plüschigen Freund. Der gute Teddy ist Lydia tatsächlich treu ergeben und erweist sich ihr gegenüber seit jeher als ein ebenso anschmiegsamer wie redseliger Genosse. Mit klugen Ratschlägen und einem starken Beschützerinstinkt steht er ihr also auch in diesem Abenteuer zur Seite. Fortan gilt es nämlich, Lydias persönlichen Dämon aufzuspüren und dessen abstoßende Fratze gänzlich zu enthüllen. Hierzu müssen märchenhafte, wenngleich düstere Etappen einer kindlichen Vorstellungskraft und teils gigantische Zeitsprünge im Leben der einst so jungen Hauptakteurin überwunden werden. Die wahre Aussage jener fantastisch-nebulösen Kinderträume zeichnet sich allerdings rasch ab, zumal die Autoren den Prolog bereits für erste Andeutungen nutzen. Somit können Wendungen höchstens im Ansatz überraschen, was der Spannung jedoch kaum abträglich ist.

Werden Lydia und Teddy an diesem Ort das Monster finden?

Kann Spuren von Rätseln enthalten

Obgleich sich Lydia an erwachsene Spieler richtet, bewegen sich die wenigen sogenannten Rätsel vielmehr auf Vorschulniveau. So muss das Gerümpel unter Lydias Bett beiseitegeschoben werden, sodass ihr geliebter Teddy zum Vorschein kommt. Im Wald hingegen gilt es, im Kreis angeordnete Glühwürmchen in einer bestimmten Reihenfolge anzuklicken, um deren Licht zum Erlöschen zu bringen. Eher unnötig wirken jedoch die krampfhaften Versuche, Reaktionstests in das Spiel zu integrieren – sofern diese überhaupt als solche angedacht waren. Damit sie etwa einem volltrunkenen Ritter wieder auf die Beine verhelfen kann, muss Lydia ihre Kräfte spielen lassen. Dies wird mit mehrmaligem Drücken der nach unten gerichteten Pfeiltaste auf der Tastatur ermöglicht und sollte ohne größere Bemühungen zu bewältigen sein. Da kein Inventar existiert, erinnern lediglich regelmäßige Multiple-Choice-Dialoge an konventionelles Adventure-Design. Dort kann jeweils zwischen drei Stichpunkten gewählt werden, welche die Richtung einer Konversation festlegen. Selten ergeben sich daraus allzu große Abweichungen, zumal das Geschehen stets vorgezeichnet ist und keine alternativen Entwicklungen aufzeigt. Nach spätestens zwei Stunden dürfte wohl jeder Spieler das Ende erreicht und das minimalistische Gameplay dabei zumindest zur Auflockerung jenes text- und handlungslastigen Werkes beigetragen haben.

Nichts geht über spannende Lagerfeuergeschichten.

Pulsierende Atmosphäre im Graphic Novel-Gewand

Sämtliche Schauplätze wurden von Graphic Novel-Zeichner Henri Tervapuro zu Papier gebracht, der dem Spiel einen unnachahmlichen Charme verlieh. Seine Handschrift zeugt von sanften Konturen und meisterhaften Bleistiftschattierungen, in den Hintergründen kann stets etwas Hektisches erkannt werden. Dies lässt jene ebenso detailverliebt gestalteten Bilder schnell furchteinflößend wirken, was durch dominierende Schwarz-Weiß-Töne ideal unterstrichen wird. Während die harte Realität allgemein schäbiger und hoffnungsloser anmutet, werden in Lydias Fantasie teils warme Farben beigemischt. Diese gehen oft mit Effekten, wie dem in die Höhe emporsteigenden Licht eines Lagerfeuers, einher. Teddy hebt sich mit seinem purpurnen Kuschelfell generell von der Tristesse jener Landschaften ab, was auch auf andere positiv belegte Figuren zutrifft. Freude bereiten zudem die überspitzen Klischees im Charakter-Design: So schließt der Spieler mit Lydias verwöhnter Sandkastenfreundin Sheila Bekanntschaft, deren Haarpracht ein Krönchen ziert. Begegnet er ihr wiederum als Jugendliche, fällt besagter Kopfschmuck nach wie vor ins Auge. Als interessantes Stilmittel entpuppt sich außerdem der Kontrast zwischen niedlichen, unschuldig dreinblickenden Kindern und unfassbar hässlichen Erwachsenen, deren Innerstes der Künstler schier offensichtlich nach außen kehrt. Lydias tyrannischer Stiefvater könnte somit einem Zombie-Spiel entflohen sein. Darüber hinaus wurde jede Szene noch zusätzlich mit Leben erfüllt, was eine geradezu pulsierende Atmosphäre entfachen lässt. Eine rasante Autofahrt wird vorwiegend durch unruhige Wechsel der Licht- und Schattenverhältnisse simuliert. Nebelschwaden trüben die Sicht, Fliegen oder Glühwürmchen schwirren umher und blasse Wolken ziehen unheilvoll vorüber. Die Aufregung ist spürbar.

Der Stiefvater verweigert Lydia, sich mit Freunden zu treffen.

Stimmungsvolle Akustik

Zur Prominenz im Team durfte sich mit Juhana Lehtiniemi auch ein finnischer Filmkomponist gesellen, der Lydia zu einem stimmungsvollen Soundtrack verhalf. Die empfindsamen, tragischen und nicht zuletzt unheimlichen Musikstücke, die teils mit Piano- und Gitarrenklängen oder subtilem Gesang unterlegt sind, harmonieren zudem mit einer überschwänglichen Geräuschkulisse. So wird das Gehör des Spielers zahlreiche akustische Eindrücke verarbeiten müssen, die einerseits emotional fordern und andererseits Gänsehaut verursachen können. Anstelle einer echten Sprachausgabe tritt bloß ein cartoonartiges Brabbeln, wobei die individuellen Tonlagen das Gemüt des jeweiligen Charakters wunderbar untermauern. So stößt Lydia in aller Regel ein schüchternes „Bi-ba-bo“ oder „Ba-bo-ba“ aus. Zum Verständnis ist die Lektüre der Bildschirmtexte daher unverzichtbar. In Kürze sollen übrigens deutsche Untertitel integriert werden.

Im Auto entbrennt ein Streit zwischen zwei Sandkastenfreundinnen.

Fazit: Unerfreuliche Kindheitserinnerungen

Mit ihrem Debüt präsentieren Platonic Partnership eine ebenso sensibel wie aufwühlend inszenierte Geschichte über psychische Gewalt, die sogar auf persönlichen Erfahrungen der Entwickler beruht und somit eine autobiografische Komponente erhält. Erzählt wird das surreal angehauchte Drama im Gewand eines modernen Märchens, in dessen Verlauf die Grenzen zwischen der Realität und der Fantasie des Mädchens zunehmend verschwimmen. Lydia ist ein kleiner, aber beachtenswerter Titel, der zweifellos jede Aufmerksamkeit verdient.

Galerie

Kommentar des Verfassers

Kommentare

detail

Ich habe dieses einzigartige Spiel in einem Rutsch bewältigt. Eine Unterbrechung konnte ich mir keineswegs erlauben. Zu sehr vermochte mich die Geschichte zu fesseln und zu gerne wollte ich Lydia jetzt und sofort dabei unterstützen, ihren Dämon zu enttarnen, welcher ihr diese entsetzliche Furcht und Traurigkeit bescherte. Das Abenteuer endete für mich mit einem deutlich vernommenen Stich ins Herz, den ich beim Betrachten der Credits empfand. Im Rahmen einer maximal zweistündigen Spieldauer ist es den Entwicklern also ganz selbstverständlich gelungen, große Emotionen in mir zu wecken.

Redaktions-Wertung

Grafik
Musik
Steuerung
Atmosphäre
Rätsel

Gesamt

Pro
Contra
  • schöne, oft surreale Zeichnungen im Graphic Novel-Stil
  • stimmungsvolle Soundkulisse und Musikuntermalung
  • überwältigende Atmosphäre
  • bedrückende, höchst emotionale Geschichte
  • Rätsel kaum vorhanden und stets kinderleicht
  • keine „echte“ Sprachausgabe, Untertitel-Lesepflicht