Test

von  Topsy-Sophia Schmitt
23.09.2017
Little Kite
Getestet auf Windows, Sprache Englisch

Seit der Veröffentlichung des surrealen Grafikadventures Lydia sind nur einige Monate verstrichen und schon widmet sich mit Little Kite ein weiterer Titel dem Thema des Alkoholmissbrauchs in Kleinfamilien, wenngleich klassischer, bodenständiger und weniger experimentell. Dabei erzählt der ukrainische Entwickler Anate Studio allerdings keine neue Geschichte, sondern präsentiert den Spielern vielmehr ein Remake seines 2012 erschienenen Freeware-Adventures The Kite. Ähnlichkeiten lassen sich somit überwiegend in der Handlung erkennen, die lediglich geringfügig verändert wurde. Dagegen weist das Erscheinungsbild kaum noch Gemeinsamkeiten zur Urfassung auf, Szenen wurden ergänzt und die Rätsel deutlich ausgearbeitet. Wir haben einen Blick auf das jüngste Werk der unabhängigen Spieleschmiede geworfen und nebenbei unsere Erinnerungen an das Original aufgefrischt.

Unwiederbringlich: Die Vergangenheit.

Unliebsamer Ersatzvater

Mary fristet mit ihrem kleinen Sohn Andrew und dessen Stiefvater Oliver in einer verkommenen Wohnsiedlung ein derzeit klägliches Dasein. Der Kampf um ein geregeltes Zusammenleben zählt für die Familie zum grausamen Alltag und zuweilen mangelt es ihnen an den notwendigen Vorräten, um den Hunger dreier Personen zu stillen. Andrew leidet aber vorrangig an den grenzwertigen Konflikten zwischen dem ungleichen Elternpaar. Olivers Wutanfälle ängstigen ihn und so kauert er mitunter bekümmert in einer Ecke, wenn hinter geschlossenen Türen lautstarke Hiebe und Schreie zu vernehmen sind. Auch Mary muss allmählich feststellen, dass der neue Mann an ihrer Seite mitnichten der Vater ist, den sie sich für Andrew gewünscht hatte. An diesem Abend gesteht Oliver ihr zu allem Überfluss, seinen Job verloren zu haben. Anstatt jedoch Reue zu zeigen, verhält er sich selbstmitleidig und ertränkt seinen Kummer wiederholt im Alkohol. Um der anschließenden Auseinandersetzung zu entrinnen, sperrt Oliver seine Ehefrau kurzerhand in der Küche ein. Nach erfolgreicher Flucht bemerkt die verzweifelte Mutter, dass Andrew verschwunden ist – und mit ihm sein Lieblingsspielzeug, der kleine Papierdrachen. Unverzüglich begibt sie sich auf die Suche nach ihrem vermissten Jungen und feilt in Gedanken zugleich an einem schweren, aber wichtigen Entschluss.

Zur Korrektur freigegeben: Die Gegenwart.

Tragische Charaktere

Erzählt wird das interaktive Drama aus der Perspektive von Mutter und Sohn, wobei letzterer einen eher kürzeren Zwischenpart bestreiten muss. Während Mary uns unverhüllte Einblicke in ihre persönliche Realität gewährt, entführt uns Andrew in seine kindlichen, wenngleich ähnlich düsteren Fantasiewelten. Dort flüchtet er in ergraute Erinnerungen vergangener Tage, sehnt sich nach der ehrlichen Liebe seines leiblichen, unlängst verstorbenen Vaters und findet diesen sogar in einer Gefängniszelle vor. Im Rahmen dieser traumartigen Szenen kommt auch Olivers unerfreuliche Jugend zur Sprache. Dieser Aspekt wird aber nur oberflächlich thematisiert, sodass jener handgreifliche Alkoholiker im Auge des Betrachters bloß ein widerwärtiger Dreckskerl bleiben wird. Nichtsdestotrotz erfüllen die Protagonisten ihren Zweck: Besonders Mary und Andrew wurden zu authentischen Charakteren ausgearbeitet, deren Schicksal den Spieler betroffen macht.

Wo die Liebe hinfällt...

Auf Umwegen zum Ziel

Die Steuerung erfolgt in konventioneller und zusätzlich vereinfachter Point-and-Click-Manier. So muss lediglich die linke (oder alternativ die rechte) Maustaste angewandt werden, um Objekte zu begutachten, benutzen oder einzusacken. Darüber entscheidet die Spielfigur nach eigenem Ermessen. Im Drag-and-Drop-Verfahren können Items aus dem oberhalb gelegenen Inventar mit anderen Gegenständen kombiniert werden. Das Auge am linken unteren Bildschirmrand zeigt zudem sämtliche Hotspots an, mit denen im jeweiligen Szenenbild interagiert werden kann. Spielstände dürfen grundsätzlich nicht nach Belieben abgespeichert werden, woraus sich ein größeres Ärgernis ergibt. Abhilfe soll nämlich eine moderne Autosave-Funktion schaffen, die selten so fehlplatziert schien wie in diesem Adventure. Gesichert wird somit nicht etwa nach einer geglückten Aktion oder nach Betreten eines Raumes, sondern erst nach Beendigung eines Abschnitts. Diese sind allerdings teilweise recht ausführlich konzipiert und warten mit einer Vielzahl mehr oder minder kniffliger Herausforderungen auf. Manch einer wird also inmitten eines solchen Kapitels das Bedürfnis hegen, eine Pause einlegen und die Gehirnzellen regenerieren zu lassen. Die Abhängigkeit von festen Speicherpunkten erweist sich daher rasch als frustrierendes Feature.
Wie soeben angedeutet, bietet Little Kite ein gesundes Maß an Rätseln. Dialoge mit Haupt- und  Nebencharakteren gelten hierbei als bedeutsames Element, ebenso kommt häufig das Inventar zum Einsatz. Wenn Geld aus einer Schatulle zu bergen oder ein Sicherungskasten zu reparieren ist, muss auch mal ein Mini-Puzzle aus der Ego-Perspektive bewältigt werden. Diese sind zwar nicht überspringbar, wurden aber mit einem Hilfe-Button für den Notfall versehen. Obwohl der Schwierigkeitsgrad stark variiert, dürfte der Spieler hin und wieder eine Weile zu knobeln haben. Diverse Hürden wirken jedoch leicht erzwungen. So erwecken gewisse Rätselketten den unschönen Eindruck, vor allem zur künstlichen Streckung einer Etappe beizutragen.

Andrew, in Traumwelten verloren.

Mitreißende Inszenierung

Während sich der Originaltitel noch in einem Sepia-Gewand mit bläulichen Einflüssen präsentierte, ist dem Remake ein gänzlich anderer Grafikstil vergönnt. Hier wird die Tristesse des Alltags in jener ärmlichen wie anrüchigen Wohngegend mit unbegrenzter Farbpalette abgebildet. Allzu satte Farbtöne wurden dabei aber geschickt vermieden, die Fassade bröckelt hingegen in allen Details. Schäbige Wände und ein verunreinigtes Treppenhaus verursachen mitnichten ein Gefühl des heimatlichen Wohlbefindens. An der hohen Qualität dieser Zeichnungen lässt sich kaum etwas bemängeln. Auch die Figuren, um 2012 von vergleichsweise konturloser Gestalt, fügen sich ideal in die tollen Hintergründe ein und offenbaren selbst im Mienenspiel ihre seelischen Wunden. Interessant ist zudem zu beobachten, dass die Charaktere niemals starr im Szenenbild verweilen, sondern immerzu natürliche Körperregungen zeigen. Eingangs- und Zwischensequenzen wurden, einer kalten Visual-Novel-Szene ähnelnd, in künstlerisch anspruchsvollen Standbildern umgesetzt und verleihen dem Geschehen auf diese Weise Nachdruck. Neben der realistitätsnahen Geräuschkulisse, die entferntes Getöse subtil hörbar macht, unterstreicht besonders der gelungene Soundtrack die Atmosphäre einwandfrei. Jene stets depressiv gestimmten Musikstücke wirken mit ihren sanften Pianoklängen nie allzu aufdringlich. Dialoge wurden allerdings nicht vertont, die Lektüre der Bildschirmtexte bleibt erforderlich. Diese sind bislang nur in englischer, russischer und ukrainischer Sprache integriert.

Eine Rätselschatulle.

Fazit

Mit Little Kite schildert die ukrainische Spieleschmiede eine äußerst glaubhafte, von Schmerz und Hoffnung zeugende Geschichte, der es keineswegs an packender Inszenierung mangelt. So schaffen es die Entwickler, das Leid ihrer Protagonisten spürbar zu vermitteln und den Spielern mitunter einige Tränen zu entlocken. Bloß an der Rätselstruktur, die für ein interaktives Mini-Drama fast ein wenig überambitioniert anmutet, werden sich womöglich die Geister scheiden.

Galerie

Kommentar des Verfassers

Kommentare

detail

Trotz meiner Vergesslichkeit kann ich mich noch recht gut an jene Geschichte erinnern, die uns Anate Studio schon vor einigen Jahren erzählte. Damals war bereits eine kleine Perle entstanden, welche in diesen Tagen nun ihren endgültigen Feinschliff erfuhr. Gewiss konnte mich Little Kite im Endeffekt ebenso berühren wie sein Vorbild, doch wurde mir letztlich ein intensiveres Gesamterlebnis geboten. Das Remake ist wesentlich stimmiger und vermag sich umso mehr mit anderen (kommerziellen) Vertretern einer dramatischen Gattung zu messen.

Redaktions-Wertung

Grafik
Musik
Steuerung
Atmosphäre
Rätsel

Gesamt

Pro
Contra
  • schöne, emotional erzählte Geschichte
  • überwiegend gut ausgearbeitete Charaktere
  • tolle Grafik, gute Atmosphäre
  • knifflige Rätsel...
  • ... welche die Geschichte mitunter abbremsen können
  • schlecht integriertes Autosave-System