Das französische Entwicklerstudio Accidental Queens existiert erst seit wenigen Jahren, blickt jedoch schon jetzt auf eine beachtliche Erfolgsgeschichte zurück. Mit seinem Debüt-Titel A Normal Lost Phone sowie dessen spirituellem Nachfolger Another Lost Phone: Laura‘s Story begeisterte das kleine Team seine wachsende Fangemeinde und prägte quasi ein neues Subgenre auf dem Spielemarkt. Das kürzlich erschienene Alt-Frequencies schlägt wiederum eine andere Richtung ein und schürt abermals hohe Erwartungen. Durch die Kooperation mit dem Kultursender ARTE France, der zuvor etwa an Bury me, my Love beteiligt war, wurde dem Projekt zusätzlich prominente Verstärkung zuteil. Wir haben uns dem ungewöhnlichen Spielerlebnis gewidmet und möchten euch unsere Eindrücke schildern.
Das übliche Radioprogramm am Montagmorgen: Fred Peterson verkündet die Nachrichten auf News One, unterstützt durch seinen treuen Live-Reporter Tommy Begay. Auf einer anderen Frequenz präsentiert der zynische Talkmoderator Ennis B. seine Hasstirade des Tages und plaudert anschließend mit einem seiner Stammanrufer, dem Verschwörungstheoretiker A. None. Für ein jüngeres Publikum senden hingegen Djane Michele und der alte Bob, die mit ihrem Breakfast Mix bei Fresh FM eine positive Stimmung vermitteln. Doch ein bevorstehender Bürgerentscheid über die landesweite Einführung einer Zeitschleife schmälert mitunter Micheles gute Laune und sorgt auch anderswo für große Empörung. Jener revolutionäre Plan der Regierung, welcher noch den Zuspruch der Bevölkerung erfordert, vermag in erster Linie ein verbessertes ökonomisches und ökologisches Wachstum zu gewährleisten, so lautet der Standpunkt von Außenministerin Amal McMilan. Aber bald kursieren merkwürdige Gerüchte unter den Skeptikern im Radiowellenspektrum. Wurde die Zeitschleife gar insgeheim schon aktiviert, bevor die Abstimmung überhaupt stattfinden konnte?
Das übliche Radioprogramm am Montagmorgen: Fred Peterson verkündet die Nachrichten auf News One… wie bitte, das ist euch bereits vertraut? Dann seid ihr vermutlich in einer Zeitschleife gefangen. Darin besteht auch das Spielprinzip von Alt-Frequencies. Nach etwa vier Minuten beginnt der Wahnsinn stets von Neuem. Der Spieler lauscht wieder den gleichen Stimmen, Dialogen und Musikstücken, danach verbleibt ihm bloß seine Erinnerung an das schon einmal Erlebte. Da er sich jedoch der Wahrheit verpflichtet fühlt und zur allgemeinen Aufklärung beitragen möchte, kann er diese irreale Situation nun zu seinem Vorteil gebrauchen. Als persönlicher Mentor des Spielers fungiert hierbei ein Undergrundaktivist namens Winston, der ihm anfangs einen Funkspruch übermittelt und ihn später auf einer verborgenen Frequenz willkommen heißt.
Um die Geschichte voranzutreiben, müssen fortan Programmschnipsel mitgeschnitten und an ausgewählte Radiosender übertragen werden. Dies ermöglicht die Verbreitung von Informationen sowie die Beteiligung an Diskussionen. Eine eigene Sprache ist dem Spieler nämlich nicht vergönnt, sodass er sich stattdessen fremder Worte bemächtigen muss. Alternativ können zudem Liedfragmente oder Geräusche ihrem ursprünglichen Kontext entrissen und beliebig weitergeleitet werden. Diese unkonventionelle Spielmechanik sorgt trotz der eher geringen Anzahl vorhandener Kanäle mitunter für knifflige Momente. Insgesamt sind fünf Level zu absolvieren, wobei die vierte Ebene zusätzlich in zwei Zeitabschnitte aufgeteilt ist. Sobald ein Kapitel also erfolgreich abgeschlossen wurde, findet sich der Spieler, meist nach Verstreichen eines Tages, in einem anderen Zeitstrudel wieder. So bemerkt er, wie sich die Ereignisse durch sein Eingreifen allmählich zuspitzen. Darüber hinaus darf er im dritten und vierten Level selbst entscheiden, welchen Akteuren er sein Vertrauen schenkt und welches Sendeformat er in seine Pläne einbezieht. Dies führt im späteren Handlungsgeschehen zu leichten Abweichungen oder beeinflusst sogar das Verhaltensmuster der jeweiligen Person. Nach einem ersten Spieldurchlauf, der 3-4 Stunden beanspruchen dürfte, kann im Hauptmenü eine freie Level-Auswahl getroffen werden, um in den gewünschten Kapiteln weitere Geheimnisse zu enthüllen.
Die Steuerung ist simpel und einprägsam: Sämtliche Aktionen werden per Tastatur getätigt. So lässt sich der Schieberegler zum Wechsel der Frequenzen bequem mit der linken oder rechten Pfeiltaste bewegen. Möchte der Spieler Programminhalte aufzeichnen oder senden, kommen die vertikalen Pfeiltasten zum Einsatz. Um gesprochene Passagen zu überspringen, ist die Leertaste anzuwenden, was besonders bei Wiederholungen nützlich ist. Sofern der Spieler nicht mehr weiter weiß, steht ihm jederzeit auch eine Hinweis-Funktion zur Verfügung.
So bildet das Verhältnis von Bürgern, Medien und Politik die Ausgangsbasis jener irrwitzigen Geschichte, die trotz fantastischer Motive nur allzu zeitgemäß anmutet. Obgleich gewisse Parallelen zu den Lost-Phone-Stories bestehen und selbst der wehmütige Charakter seiner Vorgänger in seltenen Momenten abermals entflammt, erzielt das jüngste Werk der Accidental Queens eine eher erheiternde Wirkung. Alt-Frequencies besticht nämlich mit einer herrlichen Situationskomik, welche das narrative Erlebnis ungemein auflockert. Während der Spieler die wichtigsten Akteure durch eine rasant-repetitive Woche begleitet, gewöhnt er sich allmählich an deren Eigenheiten und lernt sie ein wenig besser kennen.
Da visuelle Elemente kaum berücksichtigt wurden, verlagert sich der Fokus umso mehr auf die Synchronisation sowie die allgemeine Vertonung. Jede Sendung wird also mit einem eigenen Jingle angekündigt, manchmal ist hingegen ein weißes Rauschen zu vernehmen oder ein seichter Werbespot ertönt. Die deutschen Sprecher erweisen sich als äußerst talentiert und hauchen ihren Rollen Leben ein, indem sie auch deren Klischees bewusst verkörpern. Außerdem werden stets Bildschirmtexte eingeblendet, die als Service für gehörlose Menschen Geräusche jedweder Art detailliert beschreiben.
Der atmosphärische Soundtrack vereint verschiedene alternative Stilrichtungen und spiegelt damit wunderbar die ungleichen Geschmäcker der Moderatoren wider. Meist werden die Songs jedoch nach einer Weile unterbrochen, da die Zeitschleife ihren Reset einfordert. Daher muss sich der Spieler mit kleineren oder größeren Fragmenten der dargebotenen Musikstücke begnügen oder den Erwerb des digitalen Albums in Betracht ziehen.
Mit Alt-Frequencies haben die Accidental Queens und ARTE France eine intelligente Gesellschaftssatire geschaffen, welche den gegenwärtigen Zeitgeist ideal verkörpert und über wenige Stunden hinweg zum Schmunzeln einlädt. Zwar fehlt das emotionale Gewicht solcher Titel wie A Normal Lost Phone, aber dennoch beweisen die französischen Entwickler einmal mehr, dass ihre Stärken im narrativen Bereich sowie im Abweichen von üblichen Konventionen liegen. Wer zuvor also gerne fremde Smartphones auf Spuren untersuchte, um die Geheimnisse ihrer ehemaligen Besitzer zu enträtseln, dem dürfte auch die abgehobene Woche innerhalb der Radiozeitschleife großes Vergnügen bereiten.
Die unvergessenen Klassiker der Accidental Queens, A Normal Lost Phone und Another Lost Phone: Lauras Story, bleiben in meinen Augen unerreicht – trotz der nun erfolgten Kooperation mit ARTE, die ich als großer Freund des Kultursenders sehr befürworte. Dennoch freue ich mich, dass sich die emsigen Franzosen weiterentwickelt und schließlich eine etwas andere Richtung eingeschlagen haben. So entpuppt sich Alt-Frequencies als wundervolle Persiflage an die Hörfunklandschaft sowie die Gesellschaft im Allgemeinen. Ich habe viel gelacht, ganz besonders in Gegenwart des zynischen Moderators Ennis B., der im Verlauf des Geschehens verschiedene Facetten seiner Persönlichkeit offenbarte. Erneut stehen nämlich die Charaktere im Fokus der Geschichte, die mir wieder einmal äußerst authentisch und lebendig erschienen.
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