Baphomets Fluch - Roman
Verfasst: 03.07.2004, 16:37
Hi. Ich arbeite zurzeit unter anderem an einem Romanprojekt über Baphomets Fluch. Habe gerade erst mit der Rohfassung, also der ersten Fassung begonnen, aber würde mich sehr über euer Feedback freuen.
Paris im Herbst.
Die letzten Monate des Jahres und das Ende des Jahrtausends.
Die Stadt ist für mich mit vielen Erinnerungen verbunden.
Erinnerungen an Cafés, an Musik, an Liebe... und an Tod.
George Stobbart saß auf der Terrasse eines Pariser Cafés mit Ausblick auf den Eifelturm.
Es war windig geworden, zu windig für seinen kalifornischen Geschmack.
Um sich ein wenig aufzuwärmen, hatte er sich eine Tasse Kaffee bestellt, die von der reizenden Bedienung gebracht wurde. Nicht ganz Georges Typ, aber trotzdem überaus ansehnlich. Blonde, von einem roten Haarreifen gebändigte, Haare, ein knappes, rotes Kleid und dazu rote Pumps, alles passend ausgewählt. Um die Hüfte der jungen Frau war eine kurze, weiße Schürze geschwungen, die aussah wie neu.
Sie stellte die Tasse Kaffee samt Untertasse auf dem Tisch ab, aus dessen Mitte ein Sonnenschirm ragte, der dieselben Farben wie die Marquise des Cafés trug, ein grelles Geld und ein dunkles Blau. George lehnte sich lässig auf der Stuhllehne auf und stützte seinen linken Fuß auf den Stuhl. Er strich sich durch seine kurzen, jedoch wallenden, blonden Haare und sah der Bedienung dabei in die Augen. Beide, George und die Französin, hatten blaue Augen. Sie erwiderte den Blick, begleitet durch ein zauberhaftes Lächeln.
Der Augenblick wurde jedoch unterbrochen, da die junge Frau blindlings in einen älteren Mann in Trenchcoat und Hut rannte. Die Bedienung erschrak, wechselte ihren Gesichtsausdruck sofort wieder in ein Lächeln, welches diesmal dem alten Mann galt, dessen Augen mit einer Brille ausgestatten waren. Zur Begrüßung und Entschuldigung gleichermaßen, zupfte sich der Mann an seinem grauen Hut.
George steckte sich einen Zahnstocher, den er aus seinem Hotel mitgenommen hatte in den Mund, sich bewusst werdend, dass er nicht der einzige war, dem diese Mademoiselle schöne Blicke zuwarf. Plötzlich trat etwas Buntes in sein Sichtfeld, im Augenwinkel zu seiner Linken. Mehrere bunte Luftballone stiegen vor seinem Gesicht auf, alle mit einem impertinenten Grinsen ausgestattet, soweit das für Ballone möglich war. Er zerstach mit seinem Zahnstocher eines der grinsenden Gesichter und dahinter äugte ihn ein ebenso impertinentes Grinsen an.
Vor ihm stand ein Clown in voller Montur. George konnte Clowns auf den Tod nicht ausstehen, er verstand nicht wie irgendwer die plumpen Späße eines Clowns und dessen lächerliche Aufmachung lustig finden konnte und dieses Exemplar eines Spaßmachers sah aus, als ob es in einen Topf Farbe gefallen war. Der Mann, der sich hinter der Fratze versteckte, trug einen unterdimensionalen Hut auf dem völlig geschminkten Kopf.
Seine buschigen Augenbrauen waren gelbblau gefärbt und er hatte sich rote Haare an den Hinterkopf geklebt, die zu beiden Seiten seines Schädels hervorsprossen.
Sein breites Grinsen wurde von der blutroten Lippenfarbe noch verstärkt und was darf natürlich bei keinem Trottel vom Dienst fehlen, die runde, rote Nase, die sehr verlockend auf Georges Faust wirkte, aber er hatte natürlich nicht vor dem Clown wirklich eine zu scheuern, es sei denn er würde ihn übermäßig belästigen.
Der Clown trug ein ballonartiges, gelbes Hemd mit roten Punkten darauf und einer grünblauen übergroßen Fliege um den Hals. In seinen von Handschuhen geschützten Händen hielt er eine kleine, braune Quetschkommode, mit der er George wahrscheinlich nerven wollte, so nahm George es jedenfalls an. Seine riesige, grüne Hose, die mit roten Flicken versehen war und wohl nur einem Sumo – Ringer passen würde, wurde von zwei violetten Hosenträgern gehalten. Genauso wie die rote Nase, durften natürlich auch die etliche Nummern zu großen, roten Clownschuhe nicht fehlen mit denen sich der Clown jedoch außerordentlich gut bewegen konnte. Entgegen Georges Vermutung ging ihm der Possenreißer nicht auf die Nerven, sondern marschierte schnurstracks in das Café, aus dem er nach ein paar verstrichenen Sekunden wieder heraus gerannt kam.
Seine Quetschkommode hatte sich in einen braunen Aktenkoffer verwandelt und George war sich sicher, dass das der Koffer war, mit dem der alte Mann kurz vorher ins Café gegangen war. Der Clown würdigte George keines Blickes mehr, er lief geradewegs an ihm vorbei und verschwand auf der anderen Straßenseite in einer unter einem Gebäude durchführenden Gasse. Wäre der Bereich um das Café etwas stärker befahren, wäre der Clown wahrscheinlich umgefahren worden, doch so hüpfte er vergnügt davon.
George war sich nicht sicher, was er von der ganzen Sache halten sollte und er konnte schwören, dass er ein leises Piepen vernahm. Kurz darauf flog das Café in die Luft.
Die Scheiben mit dem Schriftzug „BISTRO“ zerbarsten, die Terrassenmöbel flogen umher.
Die Marquise wurde von der Wucht der Explosion zerfetzt und George wurde von seinem Platz geschleudert. Einige, wenige Minuten später hatte sich die Situation beruhigt und man konnte nur das ständige Dröhnen des Verkehrs hören. Unter den Resten eines Sonnenschirmes regte sich etwas. George richtete sich auf, begleitet von einem erleichterten, aber entnervten Prusten. Als er endlich wieder auf den Füßen stand, stellte er fest, dass er nicht verletzt war, abgesehen von einem Piepen im Ohr und ein wenig Benommenheit.
Das Leben um ihn herum ging weiter, aber die Explosion sollte sein Leben für immer verändern.
Er sah sich vorsichtig um, während er seine grüne Jacke und seine Jeans von Staub befreite und musste feststellen, dass das Café völlig zerstört war, jedoch zum Glück nicht brannte
Scherben waren über den Bürgersteig verteilt, genauso wie die Terrassenmöbel des Cafés.
Er beugte sich, immer noch etwas schwindelig, über den Sonnenschirm.
Der Schirm hatte ihn vor der Wucht der Bombe beschützt, aber nun war er zu nichts mehr nütze.
„Das hätte was, unter den Schirm zu krabbeln und so zu tun, als ob nichts passiert wäre – aber nicht sehr viel...“
Georges Blick schwang hinüber zu dem Tisch, an dem er noch bis vor einigen Minuten gesessen hatte. Die Explosion hatte den Tisch glatt umgeworfen.
Sein erster Impuls war, den Tisch wieder hinzustellen, aber dann dachte er sich, dass es besser wäre, Beweismaterial nicht anzurühren. George wurde langsam wieder völlig klar im Kopf.
Etwas schwankend noch ging er zum Eingang des Cafés. Die Explosion hatte das Glas in tausend Stücke zerlegt und ein riesiges Loch hinterlassen.
Erst jetzt kamen ihm die Kellnerin und der alte Mann wieder in den Sinn.
George trat hinein, obwohl er Angst davor hatte, was er im nächsten Moment zu sehen bekommen könnte. Die Einrichtung war fast komplett hinüber. Die an der Wand hängenden Spiegel waren zerbrochen, die Möbel umgeworfen und kaputt, die Bar stand offensichtlich kurz vor dem Zusammenbruch und der Putz fiel von der Decke.
Unter einem Tisch und ein paar Stühlen zu Georges Rechten lag der alte Mann, die Brille immer noch auf der Nase. George ging langsam auf den Mann zu und er musste fast erbrechen. Der rechte Arm des Mannes war nach hinten abgeknickt und seine untere Hälfte war völlig zerfetzt und lag in größeren Teilen wahrscheinlich irgendwo unter den Trümmern.
George beugte sich zu dem armen Kerl herunter.
„Kaum zu glauben, dass ich ihn noch vor wenigen Minuten quicklebendig gesehen habe...“
Dachte George während er ohne ihn anzusehen, die Taschen des alten Mannes durchsuchte.
Keine Brieftasche, keine Papiere, keine Kreditkarten. Es war, als ob der Typ überhaupt nicht existiert hat. Ein Geräusch kam aus der hinteren Ecke des Raumes.
Die hübsche, junge Kellnerin lag am Fuße einer Sitzbank, regte sich im Gegensatz zu dem Mann aber noch. George hievte sie auf die Bank, deren edler Bezug nicht ramponiert war.
Sie kam wieder zu sich und sah George in die Augen, doch diesmal nicht mit diesem bezaubernden Lächeln, sondern mit glasigen Augen, die aus dem mit Staub befleckten Gesicht stachen. Sie fasste sich an den Kopf, er musste ziemlich dröhnen von der Explosion.
„Oh, mein Kopf. Nie wieder!“ Quäkte sie.
„Wie viel Wodka hab’ ich getrunken? Nein, sag es mir lieber nicht! Wie heißt du, Cheri?“
Sie war offensichtlich noch benommen und etwas wirr im Kopf.
„George Stobbart, Ma’am!“ Sagte er leise, um der Kellnerin nicht noch mehr Kopfschmerzen zu bereiten.
„Oh... Amerikaner?“
Es war eigentlich eine sehr unschuldige Frage, aber er konnte ihre Vorbehalte fühlen.
Das ist etwas mit dem irgendwie alle Europäer zu kämpfen haben, war George der Ansicht.
Um die Situation etwas aufzulockern, sagte er halb als Scherz, halb ernst gemeint:
„Sie sehen aus, als könnten Sie ein bisschen Hilfe gebrauchen...“
„Ich könnte einen Drink gebrauchen.“ Stöhnte sie mit einem krächzenden Unterton.
„Mir ist schlecht, schwindlig, ich fühle mich mies – und ich weiß noch nicht mal, was das für eine Party war!“ Sie war tatsächlich noch nicht wieder Herr der Lage.
„Entspannen Sie sich. Sie sind gerade umgekippt...“ Versuchte George sie zu besänftigen.
„Wie bitte? Was ist passiert?“ Fragte die junge Frau, während sie ihren Kopf in ihren Händen bettete.
„Es gab eine Explosion. Sie sollten sich lieber nicht bewegen.“ Riet George ihr, sich nicht sicher ob sie auch auf ihn hören würde.
Sie hakte nach: „Sind Sie Arzt?“ In ihrer Frage schwang ein Schuss von Hoffnung mit.
„Nö, aber als Kind hab’ ich immer Krankenhaus gespielt...“ Solche Ausrutscher passierten George öfters, da er von seinem Vater eine Extraportion Sarkasmus geerbt hatte.
„Können Sie sich denn an gar nichts erinnern?“ Er kam nun wieder zum Thema zurück, sich gedanklich verfluchend, dass er seine gelegentlichen Sarkasmusausbrüche immer noch nicht unter Kontrolle hatte.
„Non. Ich brauche einen Drink. Geben Sie mir einen Brandy.“ Ihr zartes Äußeres täuschte etwas über ihre scheinbare Trinkfestigkeit hinweg.
„Sie haben einen Schock. Keinen Alkohol.“ Befahl ihr George, wobei er sich erneut nicht sicher war, ob sie auf seinen Rat hören würde.
Der Blick der Frau wanderte durch den Raum und blieb ganz offensichtlich für George an der Leiche des alten Mannes hängen.
„Was ist mit dem alten Mann – ist er tot?“ Fragte sie, den Schreck in der Stimme schon anklingend.
„Natürlich nicht.“ George wollte kein hysterisches, französisches Mädchen am Hals haben – wenigstens in dem Augenblick nicht, also hoffte er, dass sie die schlechte Lüge schluckte.
An dem erleichterten Pusten der Kellnerin erkannte George, dass seine Lüge gewirkt hatte.
„Kannten Sie den alten Mann?“ Hakte George nach. Neugier stieg in ihm auf, schließlich wäre er fast ums Leben gekommen bei dem Schabernack dieses Spaßvogels.
„Nein, Monsieur, den habe ich nie zuvor gesehen.“
„Wie benahm sich der alte Mann?“ George stützte seine Hände auf seiner Hüfte auf.
„Er war... nervös. Er schaute sich ständig um – zur Tür, auf die Uhr...“
„Als ob er auf jemanden warten würde?“ Unterbrach George die Französin.
„Ja, würde ich sagen. Er hatte vor irgendetwas Angst, dass ist sicher.“ Sie hielt einen Moment inne und sprach dann eine Vermutung aus, die ihr im Nachhinein leid tat, da man nicht schlecht über Tote reden sollte: „Wenn Sie mich fragen, hatte er eine Affäre. Er hatte diesen schuldbewussten Blick... wie ein Ehemann auf Abwegen.“
George lenkte die Unterhaltung als nächstes auf den Clown: „Wissen Sie noch, was geschah, als der Clown hereinkam?“
„Ich erinnere mich noch an diese grässliche Melodie, die er spielte. Es war die reinste Begräbnismusik.“
„Ich konnte Akkordeonmusik sowieso noch nie leiden.“ Dachte er bei sich.
„Hat der Clown mit dem alten Mann gesprochen?“ Georges Neugier wuchs an, irgendwie war das schon sehr aufregend, auch wenn es natürlich schade um das Menschenleben war.
George liebte die Serie „Mord ist ihr Hobby“ und die alten „Miss Marple“ – Filme und er fühlte sich selbst langsam auch wie ein richtiger Detektiv, der im Zeichen des Guten verzwickte Fälle aufklärt und natürlich ging es ihm auch darum, diesen Clown im Gefängnis zu sehen für das, was er getan hatte.
„Nein – er lachte ihn nur aus.“ Das Fräulein klang immer betrübter und ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie weiter sprach: „Dann grabschte er sich den Koffer des alten Mannes und rannte raus.“
„Haben Sie gesehen, was der alte Mann in seinem Koffer hatte?“ George wollte unbedingt wissen, warum diese ganze Sache überhaupt passieren musste.
„Nein, er hat ihn nicht aufgemacht.“
„Was machte der alte Mann, als der Clown sich den Koffer grabschte?“
„Nichts. Er saß einfach da, wie erstarrt.“
„Hat der alte Mann versucht, den Clown zu stoppen?“ George zog seine linke Augenbraue hoch.
„Oh, dazu hatte er überhaupt keine Möglichkeit. Der Clown ließ sein Akkordeon fallen und rannte zur Tür hinaus.“ Nun begann sie zu weinen und wimmerte: „Das ist alles. Mehr weiß ich nicht mehr.“ George verstand und behelligte die arme Frau nicht mehr mit dem Geschehenen.
„Bleiben Sie hier, Mademoiselle. Ich schau mich draußen mal nach Beweisen um.“
Die Frau richtete ihr Gesicht auf und sah George aus tränenden Augen.
Dann sagte ihr Kopf zurück in ihre Handflächen, die am Zittern waren.
Auch George zitterte, aber seine Neugier und die Wut auf den Mörder überdeckten dies.
Als George wieder an der frischen Luft war, nahm er die Möglichkeit wahr, den Fluchtweg des Clowns weiterzuverfolgen. Kurz entschlossen ging George über die Straße und durch den Durchgang, in den er den Clown hat verschwinden sehen.
Der Gang mündete in einer kleinen, verdreckten Sackgasse, auf deren Boden etliche Flaschen und sonstiger Müll dahinvegetierten. Zu seiner Rechten befand sich ein Regenrohr an der schmutzigen Ziegelwand.
Wie es so seine Angewohnheit war, redete George mit sich selbst: „Das Regenrohr sieht so aus, als ob es mein Gewicht tragen könnte...“
George holte tief Atem und begann das Regenrohr hochzuklettern.
Es blieb bei dem Versuch denn es brach sofort ab und George war nicht bereit, sich jetzt doch noch den Hals zu brechen, doch trotzdem nahm er an, dass der Clown über die Dächer getürmt war, wo sollte er auch sonst hin von dort aus.
Neben dem nun kaputten Rohr befand sich ein durch solide Eisenstäbe geschütztes Fenster.
George rüttelte an den Stäben, doch sie gaben nicht nach, also erhärtete sich seine Annahme, dass der Clown über die Dächer geflüchtet war, doch George wollte den Ort noch nicht verlassen, schließlich ist es besser sich völlig sicher zu sein.
Er schaute sich eine alte, zerbeulte Mülltonne an, die jedoch leer war und einen Stapel Kartons, in denen mal Weinflaschen verpackt waren. Nun waren sie lediglich feucht, ziemlich muffig und einwandfrei leer. George ließ sich es nicht nehmen, zwei weitere Mülltonnen zu untersuchen. In der ersten roch es, als ob jemand an einem heißen Hochsommertag eine Ladung Fisch in einem Umkleideraum abgestellt hätte und in der zweiten wartete eine Überraschung in Form einer schwarzen Katze auf ihn, vor der er fast zu Tode erschrak.
Alte, modrige Mülltonnen zu durchsuchen hatte einen gewissen Nervenkitzel, doch George wollte das Schicksal lieber nicht weiter herausfordern. In der Gasse gab es sowieso nichts Interessantes mehr, viel Müll war über den Boden verteilt, eine alte Plastikkiste und viel Leergut. Enttäuscht wand er sich Stobbart ab, hielt jedoch inne. Zwischen dem Müll am Boden konnte man eine Eisenplatte sehen, die den Eingang zu einem Kanalisations- oder Abflussrohr versperrte. George versuchte den Deckel mit seinen Fingern aufzukriegen, doch zu seinem Verdruss konnte er keinen guten Angriffspunkt finden.
Es gab nun also die Möglichkeit, dass der Clown über das Dach oder die Kanalisation verschwunden war. Auf das Dach konnte er nicht rauf, also musste er irgendwie in die Kanalisation. In der Nähe des Cafés war eine Baustelle, erinnerte er sich.
„Die haben vielleicht Werkzeug um den Kanaldeckel aufzubekommen.“
Im Laufschritt marschierte George aus der Gasse und die Allee hinunter.
Als er gerade an der Baustelle ankam, in der ein dicker Typ in Latzhose mit einer Spitzhacke den Boden bearbeitete, kam die Polizei.
Ein Gendarm in schwarzer Uniform, selbst schon ergraut mit einem dicken, grauen Schnauzer im Gesicht, zückte seine Pistole und richtete diese zu Georges negativer Überraschung auf den Amerikaner und rief: „Stopp! Keine Bewegung!“
George riss die Hände hoch und rief zurück: „He – nicht schießen! Ich bin unschuldig! Ich bin Amerikaner!“
Können Sie sich nicht für eins entscheiden?“ Fragte der Gendarm, die Waffe immer noch auf ihr Ziel gerichtet.
„Ich will den amerikanischen Konsul sprechen!“ Bestand George.
„Waffen fallen lassen und runter auf den Boden.“ Befahl der Gendarm mit einem überdurchschnittlichen starken Akzent. Hinter ihm tauchte ein glatzköpfiger Mann in einem langen Ledermantel auf und befahl seinerseits dem Gendarm: „Stecken Sie das Ding weg, Sergeant Moué.“
Dann wand er sich an George: „Verzeihung, Monsieur, aber ich kann Ihnen nicht gestatten, sich zu entfernen.“
George saß noch immer der Schock in den Gliedern: „Bin ich verhaftet?“
„Ah, non! Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.“ Beruhigte der große, durchaus autoritäre Mann George. Er wirkte noch autoritärer durch seinen Bart, der sich vom Kinn um seinen Mund herum schloss, seine gerade Haltung und seine durchdringende Stimme.
„Vorwärts – zum Café! Marchez!“ Trieb er den Sergeant und George an.
Der Bauarbeiter, der eben noch seinem Hobby als Schaulustiger frönte, arbeitete wieder weiter und George, der Sergeant und der andere Mann, wahrscheinlich ein Inspektor, gingen zurück zum Café. Die Kellnerin saß noch immer erschüttert auf der Sitzbank in der Ecke, doch kümmerte sich Sergeant Moué zuerst um die Leiche des Mannes.
Die Autoritätsperson sah sich um und sagte: „Was für ein Anblick! Diese Bombenexplosion ist schrecklich, nicht wahr?“
„Hören Sie damit auf, Monsieur!“ Die Stimme Sergeant Moués.
Der Mann mit Glatze drehte sich zu dem über die Leiche gebeugten Polizisten, der weiter auf den Toten einredete: „Hören Sie sofort damit auf Ihren Atem anzuhalten.“
Das wurde dem Mann zu viel: „Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, dass der Mann tot sein könnte, Moué?“
„Oui, Monsieur, aber ich betrachte die Dinge lieber von der Sonnenseite. Außerdem erinnere ich mich an einen Fall, in dem der Killer entkam, indem er sich tot stellte.“
Es machten sich Zweifel an Moués gesundem Menschenverstand bei George breit.
Moué setzte fort: „Na egal, in diesem Fall ist der Mann ziemlich sehr tot.“
Er schlussfolgerte: „Es ist sonnenklar, dass der Killer von seiner Anwesenheit wusste und...“
Doch der andere Mann unterbrach ihn mit seinem minimalen Akzent: „Wie oft habe ich Sie schon gewarnt, voreilige Thesen aufzustellen? Alles, was wir sicher wissen, ist, dass der Mann tot ist.“
Moué versuchte sich zu rechtfertigen: „Ich fand, es war logisch, anzunehmen, dass...“
Der Mann im Mantel ließ ihn nicht ausreden: „Ein großer Detektiv nimmt niemals etwas an. Maigret zum Beispiel...“
„A... Aber das war eine Romanfigur, Monsieur! Er war nicht echter als Derrick oder Der Alte!“
„Das ist was anderes, Moué – die brauchten ja auch Assistenten.“
Er unterbrach sich nun selbst: „Egal, nicht einmal Ihnen dürfte es gelingen, den Toten zum Reden zu bringen. Kümmern Sie sich um das Mädchen und nehmen Sie ihre Aussage auf, falls sie das hinkriegen.“
Der Sergeant befolgte den Befehl und der Mann im Mantel kam wieder auf George zurück: „Et maintenant, zum Geschäft.“ Er holte aus einer Innentasche seines Mantels einen Notizblock und einen silbernen Kugelschreiber und fing mit der Vernehmung des Amerikaners an: „Ihr Name, bitte?“
„George Stobbart. Ich komme aus Kalifornien.“
Der Mann notierte sich das Gesagte und fuhr fort: „Und was führt Sie nach Paris, Monsieur Stobbart?“
„Reisen. Ich reise durch Europa.“
„Gut gewählt. Die Stadt ist zu dieser Jahreszeit am schönsten, non?“
„Äh... ja, könnte sein – von den Bomben einmal abgesehen!“ Scherzte George.
Der Mann fand es anscheinend gar nicht lustig und machte unbehelligt weiter: „Befanden Sie sich in der Nähe des Cafés, als die Bombe hochging?“
„Ja. Ich saß draußen auf dem Bürgersteig. Ich hatte Glück, dass es mich nicht auch erwischt hat!“ Der wohlmögliche Inspektor ignorierte seine Bemerkung komplett.
„Sahen Sie, wie der Verstorbene das Café betrat?“
„Ja, hab ich gesehen.“ Antwortete George knapp.
„War er allein?“
„Äh... ja.“
„Und sprach er mit Ihnen?“ Er sah George die ganze Zeit an, er schaute nicht einmal, wie er schrieb. Er wollte wohl hinter Georges mögliche, wahre Motive blicken.
„Nein. Die Kellnerin interessierte ihn viel mehr.“
„Haben Sie jemand anders in das Café gehen sehen?“
„Ja, da war so ein Typ, der wie ein Clown gekleidet war. Er trug ein Akkordeon.“
„Ein Akkordeon? Bon. Das Bild formt sich in meinem Kopf... Und es ist nicht sehr hübsch.“
„Nun ja...“ Damit packte er seinen Block und den Stift zurück in den Mantel.
Auch der Sergeant war mit der Befragung der Frau beendet und die beiden Polizisten zogen sich kurz zu einer kleinen Besprechung zurück, von der George nur einige Sätze mitbekam.
„Ist das Mädchen in Ordnung, Moué?“
„Sie wird’s überleben... Sie bestätigt die Aussage des Amerikaners. Ein Clown mit einem Akkordeon, zweifellos eine raffinierte und exzentrische Verkleidung.“
„Sehr gut.“ Entgegnete der glatzköpfige Mann und sprach dann wieder laut, damit auch George es richtig hören konnte: „Eh bien. Ich habe genug gehört.“
„Was meinen Sie damit?“ George war immer noch unruhig.
„Ich bin überzeugt, dass Sie nichts wissen. Sie können gehen. Ich hoffe, dieser kleine Zwischenfall verdirbt Ihnen nicht den Rest des Urlaubs.“ Mit so einer laschen Antwort hatte George nicht gerechnet.
„Und meine persönliche Sicherheit? Können Sie mir nicht wenigstens einen Rat geben?“
„Was soll ich sagen? Passen sie auf, hüten Sie sich vor verdächtigen Figuren...
Sergeant Moué beendete den Satz: „Und gehen Sie erst über die Straße, wenn Sie das kleine grüne Männchen sehen.“
„Toller Tip.“ Stellte George fest.
„Ich bin davon überzeugt, dass Sie sich nicht im Geringsten in Gefahr befinden, Monsieur.“
„Sollte Ihnen noch etwas Wichtiges einfallen, rufen Sie mich an. Meine Karte...“
Er kramte aus einer weiteren Innentasche seines Mantels eine kleine Visitenkarte und übergab sie an George: „Danke.“
George sah sie sich kurz an, bevor er sie wegsteckte: „Augustin Rosso, Inspecteur de police. Er wohnt südlich des Friedhofs von Montparnasse.“
„Das wäre alles. Sie können gehen.“
Als George kurz vor der zerstörten Tür stand, fing Moué wieder an zu reden mit dem Inspektor: „Es gibt nicht viele Anhaltspunkte, Monsieur...“
„Oberflächlich gesehen, nein. Aber was lauert im Unterbewusstsein?“
George drehte sich um, aufgrund der überraschenden Worte des Inspektors, der seine Worte fortsetzte: „Wenn man die Tür nur öffnen könnte...“
Nun erschien Moué als realistischerer Typ als der Inspektor: „Meinen Sie das im Ernst, Monsieur? Ich dachte, Ihr Interesser an übersinnlichen Erkenntnissen wäre rein akademisch...“
„Akademisch? Sie sind im Begriff, Zeuge eines wissenschaftlichen Durchbruchs zu werden.“
Der Inspektor legte seine Hand in Denkerposition an seinen Kopf und tat genau dies, angestrengt nachdenken. George schlich sich hinaus, er wollte nicht weiter stören.
Vor dem Café traf George auf eine junge Dame mit schwarzen, gestylten Haaren in einer schwarzen Lederjacke und einem violetten Lederminirock. Darunter wurden ihre Beine von einer dunklen Strumpfhose verdeckt. Sie fotografierte den Tatort und George sprach sie einfach mal an, nicht nur weil sie Georges bevorzugtem Typ von Frauen relativ nahe kam.
„Verzeihung, Mademoiselle! Hallo! Ich heiße George Stobbart...“
In ausgezeichneter Aussprache antwortete sie: „Oh. Ein Amerikaner, so wie sich’s anhört.“
„Ja. Das stimmt. Auf Urlaub in Paris. Schöner Urlaub, was?“
„Du warst hier, als die Bombe hochging?“ Sofort entwickelte sie ein großes Interesse.
„So ist es! Ich habe genau vor dem Café gesessen.“
„Ist dir ein Mann mittleren Alters begegnet, etwa 60 Jahre, mit einem Hut und Mantel?“
„Ich kann es nicht glauben: Sie hat mich nicht einmal gefragt, wie ich mich fühle...“
„Ja, kurz bevor die Bombe explodierte, ging er hinein. Du bist doch nicht... mit ihm verwandt?“ George hatte nicht die Absicht, einem Angehörigen die Nachricht über den Tod des Mannes mitzuteilen.
„Oh, nein – nichts dergleichen. Ich bin Nicole Collard, von La Liberté.“ Stellte sie sich mit einem verhaltenen Lächeln vor.
Voller Unwissen fragte George sie: „Was ist das – ein Nachtclub?“
Etwas verlegen antwortete sie: „Ah, nein – es ist eine Tageszeitung.“
„Du bist Reporterin?“
„Ich bin freie Fotojournalistin.“ Berichtigte sie ihn.
„Na so was. Du könntest mich über den Bombenanschlag interviewen! Ein Augenzeugenbericht... Minuten nach der Gewalttat, die ganz Paris erschütterte...
Verstehst du – Dramen des Lebens, menschliche Anteilnahme – so was in der Art.“ George stellte sich sein Bild auf dem Titelblatt der Zeitung vor, Nicole zerbrach seinen kleinen Tagtraum zu seinem Missfallen: „Ich bleibe bei den Tatsachen, danke.“Hast du gesehen, wer die Bombe gelegt hat?“
„Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber er war als Clown verkleidet.“
„Oh Gott. Er hat wieder zugeschlagen...“ Ihre vorherige Coolness hatte sich nun in Entsetzen verwandelt und das beunruhigte auch George.
„Hast du den Clown jemals zuvor gesehen?“ Fragte er Nicole.
„Das ist... eine lange Geschichte.“
„Ich habe viel Zeit.“
„Ich nicht.“
„Wer war der Typ, den du treffen wolltest?“
„Sein Name war Plantard. Ich kannte ihn nicht, aber er hat mich letzte Nacht angerufen. Er sagte, er hätte eine Story, die mich interessieren würde. Er fragte mich, ob wir uns im Café treffen könnten. Ich werde wohl nie erfahren, was er mir sagen wollte...“ Sie klang sichtlich geknickt und George versuchte sie mit einer witzigen Bemerkung aufzumuntern: „Es sei denn, du hättest Rossos Gabe der parapsychologischen Befragung.“
Die Bemerkung fruchtete nicht und George besann sich auf das ernste Thema zurück: „Woher hat Plantard deinen Namen?“
„Über die Zeitung – La Liberté. Ich habe einen Artikel geschrieben, in dem ich zwei ungelöste Morde miteinander in Verbindung bringe, einen in Italien, einen anderen in Japan. Die Fälle sind sich bemerkenswert ähnlich... ein wohlhabendes Opfer, kein offensichtliches Motiv und ein verkleideter Killer. Plantard sagte, er könne mir weitere Informationen beschaffen.“
George kam wieder auf den Clown zu sprechen: „Warum möchtest du mir nichts über diesen Clown erzählen?“
Nicole konterte mit einer Gegenfrage: „Warum möchtest du dich da einmischen?“
„Weil er mich fast getötet hätte! Ist das nicht Grund genug?“ Wollte George wissen.
„Doch, ich nehme an, das ist es. Hör mal... Ich gebe dir meine Telefonnummer.“
Nicole nahm einen leeren Briefumschlag aus ihrer Tasche und schrieb ihre Nummer darauf, dann gab sie George den Umschlag.
„Du hilfst mir bei meiner Story und ich weihe dich in das ein, was ich weiß. Und damit eines von vorneherein klar ist... Das ist rein geschäftlich.“
„Okay. Abgemacht.“ Nun war George zufrieden. Er würde mehr über den Clown herausfinden und er hatte die Telefonnummer einer schönen Frau, ein echt guter Tag für ihn, mal abgesehen von der Bombenexplosion natürlich.
„Ich muss diese Bilder entwickeln lassen. À bientôt, Monsieur...“
„Gut. Ich, uh... bis bald.“ Da ging sie hin. George schaute ihr noch einen Moment nach, dann drehte er sich und sah, wie der Sergeant sich im Eingang des Cafés versuchte breit zu machen, um jedem Schaulustigen den Weg zu versperren. Der Sergeant war ein mickriger Mann und George fand, dass er in gewisser Weise einem kopflosen Huhn glich.
„Entschuldigen Sie, Sergeant.“ George fand, dass das Herumstehen des Sergeants nicht die beste Lösung zur Aufklärung dieses Falls war.
„Sie haben den Inspektor gehört. Gehen Sie nach Hause, Monsieur.“
„Wollen Sie sich nicht auf die Suche nach dem Clown machen?“ George war ungeduldig, schließlich ging es hier um Mord.
„Nein, mein Herr. Der Inspecteur hat mir ausdrückliche Anweisung gegeben, diese Türe zu bewachen. Bis er diese Anweisungen widerruft oder bis Verstärkung eintrifft, rühre ich mich also nicht vom Fleck.“ Der Sergeant ließ wirklich nicht mit sich reden und stand stocksteif in der Tür.
„Ich habe gesehen, wie der Clown in die Gasse auf der anderen Straßenseite gerannt ist.“ Berichtete George.
„Sind Sie ihm gefolgt?“
„Nein, nicht sofort, aber ich vermute, er ist unterirdisch geflohen.“ Das erschien George als wahrscheinlichste Lösung, denn über die Dächer zu flüchten wäre einfach zu gefährlich gewesen.
„Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Kilometer Kanalisation es unter dieser prächtigen Stadt gibt?“
„Das gehörte bislang nicht zu den Fragen, die mir regelmäßig den Schlaf rauben.“ Bemerkte George.
„Ich bin ganz sicher, dass Inspecteur Rosso eine vernünftige Suche organisieren wird.“ Beschwichtigte er George Stobbart.
„Wie konnten Sie und Rosso so schnell am Tatort sein? Sie waren ja innerhalb weniger Minuten am Schauplatz der Explosion! Hatten Sie einen Tipp bekommen?“
„Diese Informationsquellen von Inspecteur Rosso sind mir ein ständiges Rätsel, Monsieur. Ein paar Leute behaupten, er hätte einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen.“ Moué flüsterte, auch wenn er das wohl kaum ernst meinen konnte, wie George dachte.
„Und was glauben Sie?“ Fragte Stobbart den Gendarmen.
„Ich glaube, er ist selbst der Teufel.“ Diese Antwort wunderte George.
„Was macht Rosso mit dem Mädchen?“ Fragte George, um das Gespräch weiter voranzutreiben.
„Er dreht sie durch die Mühle, wie ihr Amerikaner wohl sagen würdet.“
„Bitte?“
„Wenn er sich einmal in einem Fall festgebissen hat, schüttelt ihn nichts und niemand mehr ab.“ Diesen Eindruck hatte auch George von dem Inspektor bekommen.
„War das sein Ernst mit dem ganzen Psycho – Polizisten – Kram?“ George hielt Rosso für zu intelligent, um sich auf so etwas zu verlassen.
„Natürlich! Inspecteur Rosso ist ein Pionier und Visionär! Wenn er seine revolutionären Methoden erst einmal perfektioniert hat, werden sie das Bild des Polizeidienstes von Grund auf umkrempeln!“ George zweifelte langsam wirklich am gesunden Verstand des Sergeants.
„Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass so was in L. A. klappt.“ George machte sich wieder einmal versteckt über seinen Gegenüber lustig und Moué hatte davon natürlich nicht den geringsten Schimmer.
Paris im Herbst.
Die letzten Monate des Jahres und das Ende des Jahrtausends.
Die Stadt ist für mich mit vielen Erinnerungen verbunden.
Erinnerungen an Cafés, an Musik, an Liebe... und an Tod.
George Stobbart saß auf der Terrasse eines Pariser Cafés mit Ausblick auf den Eifelturm.
Es war windig geworden, zu windig für seinen kalifornischen Geschmack.
Um sich ein wenig aufzuwärmen, hatte er sich eine Tasse Kaffee bestellt, die von der reizenden Bedienung gebracht wurde. Nicht ganz Georges Typ, aber trotzdem überaus ansehnlich. Blonde, von einem roten Haarreifen gebändigte, Haare, ein knappes, rotes Kleid und dazu rote Pumps, alles passend ausgewählt. Um die Hüfte der jungen Frau war eine kurze, weiße Schürze geschwungen, die aussah wie neu.
Sie stellte die Tasse Kaffee samt Untertasse auf dem Tisch ab, aus dessen Mitte ein Sonnenschirm ragte, der dieselben Farben wie die Marquise des Cafés trug, ein grelles Geld und ein dunkles Blau. George lehnte sich lässig auf der Stuhllehne auf und stützte seinen linken Fuß auf den Stuhl. Er strich sich durch seine kurzen, jedoch wallenden, blonden Haare und sah der Bedienung dabei in die Augen. Beide, George und die Französin, hatten blaue Augen. Sie erwiderte den Blick, begleitet durch ein zauberhaftes Lächeln.
Der Augenblick wurde jedoch unterbrochen, da die junge Frau blindlings in einen älteren Mann in Trenchcoat und Hut rannte. Die Bedienung erschrak, wechselte ihren Gesichtsausdruck sofort wieder in ein Lächeln, welches diesmal dem alten Mann galt, dessen Augen mit einer Brille ausgestatten waren. Zur Begrüßung und Entschuldigung gleichermaßen, zupfte sich der Mann an seinem grauen Hut.
George steckte sich einen Zahnstocher, den er aus seinem Hotel mitgenommen hatte in den Mund, sich bewusst werdend, dass er nicht der einzige war, dem diese Mademoiselle schöne Blicke zuwarf. Plötzlich trat etwas Buntes in sein Sichtfeld, im Augenwinkel zu seiner Linken. Mehrere bunte Luftballone stiegen vor seinem Gesicht auf, alle mit einem impertinenten Grinsen ausgestattet, soweit das für Ballone möglich war. Er zerstach mit seinem Zahnstocher eines der grinsenden Gesichter und dahinter äugte ihn ein ebenso impertinentes Grinsen an.
Vor ihm stand ein Clown in voller Montur. George konnte Clowns auf den Tod nicht ausstehen, er verstand nicht wie irgendwer die plumpen Späße eines Clowns und dessen lächerliche Aufmachung lustig finden konnte und dieses Exemplar eines Spaßmachers sah aus, als ob es in einen Topf Farbe gefallen war. Der Mann, der sich hinter der Fratze versteckte, trug einen unterdimensionalen Hut auf dem völlig geschminkten Kopf.
Seine buschigen Augenbrauen waren gelbblau gefärbt und er hatte sich rote Haare an den Hinterkopf geklebt, die zu beiden Seiten seines Schädels hervorsprossen.
Sein breites Grinsen wurde von der blutroten Lippenfarbe noch verstärkt und was darf natürlich bei keinem Trottel vom Dienst fehlen, die runde, rote Nase, die sehr verlockend auf Georges Faust wirkte, aber er hatte natürlich nicht vor dem Clown wirklich eine zu scheuern, es sei denn er würde ihn übermäßig belästigen.
Der Clown trug ein ballonartiges, gelbes Hemd mit roten Punkten darauf und einer grünblauen übergroßen Fliege um den Hals. In seinen von Handschuhen geschützten Händen hielt er eine kleine, braune Quetschkommode, mit der er George wahrscheinlich nerven wollte, so nahm George es jedenfalls an. Seine riesige, grüne Hose, die mit roten Flicken versehen war und wohl nur einem Sumo – Ringer passen würde, wurde von zwei violetten Hosenträgern gehalten. Genauso wie die rote Nase, durften natürlich auch die etliche Nummern zu großen, roten Clownschuhe nicht fehlen mit denen sich der Clown jedoch außerordentlich gut bewegen konnte. Entgegen Georges Vermutung ging ihm der Possenreißer nicht auf die Nerven, sondern marschierte schnurstracks in das Café, aus dem er nach ein paar verstrichenen Sekunden wieder heraus gerannt kam.
Seine Quetschkommode hatte sich in einen braunen Aktenkoffer verwandelt und George war sich sicher, dass das der Koffer war, mit dem der alte Mann kurz vorher ins Café gegangen war. Der Clown würdigte George keines Blickes mehr, er lief geradewegs an ihm vorbei und verschwand auf der anderen Straßenseite in einer unter einem Gebäude durchführenden Gasse. Wäre der Bereich um das Café etwas stärker befahren, wäre der Clown wahrscheinlich umgefahren worden, doch so hüpfte er vergnügt davon.
George war sich nicht sicher, was er von der ganzen Sache halten sollte und er konnte schwören, dass er ein leises Piepen vernahm. Kurz darauf flog das Café in die Luft.
Die Scheiben mit dem Schriftzug „BISTRO“ zerbarsten, die Terrassenmöbel flogen umher.
Die Marquise wurde von der Wucht der Explosion zerfetzt und George wurde von seinem Platz geschleudert. Einige, wenige Minuten später hatte sich die Situation beruhigt und man konnte nur das ständige Dröhnen des Verkehrs hören. Unter den Resten eines Sonnenschirmes regte sich etwas. George richtete sich auf, begleitet von einem erleichterten, aber entnervten Prusten. Als er endlich wieder auf den Füßen stand, stellte er fest, dass er nicht verletzt war, abgesehen von einem Piepen im Ohr und ein wenig Benommenheit.
Das Leben um ihn herum ging weiter, aber die Explosion sollte sein Leben für immer verändern.
Er sah sich vorsichtig um, während er seine grüne Jacke und seine Jeans von Staub befreite und musste feststellen, dass das Café völlig zerstört war, jedoch zum Glück nicht brannte
Scherben waren über den Bürgersteig verteilt, genauso wie die Terrassenmöbel des Cafés.
Er beugte sich, immer noch etwas schwindelig, über den Sonnenschirm.
Der Schirm hatte ihn vor der Wucht der Bombe beschützt, aber nun war er zu nichts mehr nütze.
„Das hätte was, unter den Schirm zu krabbeln und so zu tun, als ob nichts passiert wäre – aber nicht sehr viel...“
Georges Blick schwang hinüber zu dem Tisch, an dem er noch bis vor einigen Minuten gesessen hatte. Die Explosion hatte den Tisch glatt umgeworfen.
Sein erster Impuls war, den Tisch wieder hinzustellen, aber dann dachte er sich, dass es besser wäre, Beweismaterial nicht anzurühren. George wurde langsam wieder völlig klar im Kopf.
Etwas schwankend noch ging er zum Eingang des Cafés. Die Explosion hatte das Glas in tausend Stücke zerlegt und ein riesiges Loch hinterlassen.
Erst jetzt kamen ihm die Kellnerin und der alte Mann wieder in den Sinn.
George trat hinein, obwohl er Angst davor hatte, was er im nächsten Moment zu sehen bekommen könnte. Die Einrichtung war fast komplett hinüber. Die an der Wand hängenden Spiegel waren zerbrochen, die Möbel umgeworfen und kaputt, die Bar stand offensichtlich kurz vor dem Zusammenbruch und der Putz fiel von der Decke.
Unter einem Tisch und ein paar Stühlen zu Georges Rechten lag der alte Mann, die Brille immer noch auf der Nase. George ging langsam auf den Mann zu und er musste fast erbrechen. Der rechte Arm des Mannes war nach hinten abgeknickt und seine untere Hälfte war völlig zerfetzt und lag in größeren Teilen wahrscheinlich irgendwo unter den Trümmern.
George beugte sich zu dem armen Kerl herunter.
„Kaum zu glauben, dass ich ihn noch vor wenigen Minuten quicklebendig gesehen habe...“
Dachte George während er ohne ihn anzusehen, die Taschen des alten Mannes durchsuchte.
Keine Brieftasche, keine Papiere, keine Kreditkarten. Es war, als ob der Typ überhaupt nicht existiert hat. Ein Geräusch kam aus der hinteren Ecke des Raumes.
Die hübsche, junge Kellnerin lag am Fuße einer Sitzbank, regte sich im Gegensatz zu dem Mann aber noch. George hievte sie auf die Bank, deren edler Bezug nicht ramponiert war.
Sie kam wieder zu sich und sah George in die Augen, doch diesmal nicht mit diesem bezaubernden Lächeln, sondern mit glasigen Augen, die aus dem mit Staub befleckten Gesicht stachen. Sie fasste sich an den Kopf, er musste ziemlich dröhnen von der Explosion.
„Oh, mein Kopf. Nie wieder!“ Quäkte sie.
„Wie viel Wodka hab’ ich getrunken? Nein, sag es mir lieber nicht! Wie heißt du, Cheri?“
Sie war offensichtlich noch benommen und etwas wirr im Kopf.
„George Stobbart, Ma’am!“ Sagte er leise, um der Kellnerin nicht noch mehr Kopfschmerzen zu bereiten.
„Oh... Amerikaner?“
Es war eigentlich eine sehr unschuldige Frage, aber er konnte ihre Vorbehalte fühlen.
Das ist etwas mit dem irgendwie alle Europäer zu kämpfen haben, war George der Ansicht.
Um die Situation etwas aufzulockern, sagte er halb als Scherz, halb ernst gemeint:
„Sie sehen aus, als könnten Sie ein bisschen Hilfe gebrauchen...“
„Ich könnte einen Drink gebrauchen.“ Stöhnte sie mit einem krächzenden Unterton.
„Mir ist schlecht, schwindlig, ich fühle mich mies – und ich weiß noch nicht mal, was das für eine Party war!“ Sie war tatsächlich noch nicht wieder Herr der Lage.
„Entspannen Sie sich. Sie sind gerade umgekippt...“ Versuchte George sie zu besänftigen.
„Wie bitte? Was ist passiert?“ Fragte die junge Frau, während sie ihren Kopf in ihren Händen bettete.
„Es gab eine Explosion. Sie sollten sich lieber nicht bewegen.“ Riet George ihr, sich nicht sicher ob sie auch auf ihn hören würde.
Sie hakte nach: „Sind Sie Arzt?“ In ihrer Frage schwang ein Schuss von Hoffnung mit.
„Nö, aber als Kind hab’ ich immer Krankenhaus gespielt...“ Solche Ausrutscher passierten George öfters, da er von seinem Vater eine Extraportion Sarkasmus geerbt hatte.
„Können Sie sich denn an gar nichts erinnern?“ Er kam nun wieder zum Thema zurück, sich gedanklich verfluchend, dass er seine gelegentlichen Sarkasmusausbrüche immer noch nicht unter Kontrolle hatte.
„Non. Ich brauche einen Drink. Geben Sie mir einen Brandy.“ Ihr zartes Äußeres täuschte etwas über ihre scheinbare Trinkfestigkeit hinweg.
„Sie haben einen Schock. Keinen Alkohol.“ Befahl ihr George, wobei er sich erneut nicht sicher war, ob sie auf seinen Rat hören würde.
Der Blick der Frau wanderte durch den Raum und blieb ganz offensichtlich für George an der Leiche des alten Mannes hängen.
„Was ist mit dem alten Mann – ist er tot?“ Fragte sie, den Schreck in der Stimme schon anklingend.
„Natürlich nicht.“ George wollte kein hysterisches, französisches Mädchen am Hals haben – wenigstens in dem Augenblick nicht, also hoffte er, dass sie die schlechte Lüge schluckte.
An dem erleichterten Pusten der Kellnerin erkannte George, dass seine Lüge gewirkt hatte.
„Kannten Sie den alten Mann?“ Hakte George nach. Neugier stieg in ihm auf, schließlich wäre er fast ums Leben gekommen bei dem Schabernack dieses Spaßvogels.
„Nein, Monsieur, den habe ich nie zuvor gesehen.“
„Wie benahm sich der alte Mann?“ George stützte seine Hände auf seiner Hüfte auf.
„Er war... nervös. Er schaute sich ständig um – zur Tür, auf die Uhr...“
„Als ob er auf jemanden warten würde?“ Unterbrach George die Französin.
„Ja, würde ich sagen. Er hatte vor irgendetwas Angst, dass ist sicher.“ Sie hielt einen Moment inne und sprach dann eine Vermutung aus, die ihr im Nachhinein leid tat, da man nicht schlecht über Tote reden sollte: „Wenn Sie mich fragen, hatte er eine Affäre. Er hatte diesen schuldbewussten Blick... wie ein Ehemann auf Abwegen.“
George lenkte die Unterhaltung als nächstes auf den Clown: „Wissen Sie noch, was geschah, als der Clown hereinkam?“
„Ich erinnere mich noch an diese grässliche Melodie, die er spielte. Es war die reinste Begräbnismusik.“
„Ich konnte Akkordeonmusik sowieso noch nie leiden.“ Dachte er bei sich.
„Hat der Clown mit dem alten Mann gesprochen?“ Georges Neugier wuchs an, irgendwie war das schon sehr aufregend, auch wenn es natürlich schade um das Menschenleben war.
George liebte die Serie „Mord ist ihr Hobby“ und die alten „Miss Marple“ – Filme und er fühlte sich selbst langsam auch wie ein richtiger Detektiv, der im Zeichen des Guten verzwickte Fälle aufklärt und natürlich ging es ihm auch darum, diesen Clown im Gefängnis zu sehen für das, was er getan hatte.
„Nein – er lachte ihn nur aus.“ Das Fräulein klang immer betrübter und ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie weiter sprach: „Dann grabschte er sich den Koffer des alten Mannes und rannte raus.“
„Haben Sie gesehen, was der alte Mann in seinem Koffer hatte?“ George wollte unbedingt wissen, warum diese ganze Sache überhaupt passieren musste.
„Nein, er hat ihn nicht aufgemacht.“
„Was machte der alte Mann, als der Clown sich den Koffer grabschte?“
„Nichts. Er saß einfach da, wie erstarrt.“
„Hat der alte Mann versucht, den Clown zu stoppen?“ George zog seine linke Augenbraue hoch.
„Oh, dazu hatte er überhaupt keine Möglichkeit. Der Clown ließ sein Akkordeon fallen und rannte zur Tür hinaus.“ Nun begann sie zu weinen und wimmerte: „Das ist alles. Mehr weiß ich nicht mehr.“ George verstand und behelligte die arme Frau nicht mehr mit dem Geschehenen.
„Bleiben Sie hier, Mademoiselle. Ich schau mich draußen mal nach Beweisen um.“
Die Frau richtete ihr Gesicht auf und sah George aus tränenden Augen.
Dann sagte ihr Kopf zurück in ihre Handflächen, die am Zittern waren.
Auch George zitterte, aber seine Neugier und die Wut auf den Mörder überdeckten dies.
Als George wieder an der frischen Luft war, nahm er die Möglichkeit wahr, den Fluchtweg des Clowns weiterzuverfolgen. Kurz entschlossen ging George über die Straße und durch den Durchgang, in den er den Clown hat verschwinden sehen.
Der Gang mündete in einer kleinen, verdreckten Sackgasse, auf deren Boden etliche Flaschen und sonstiger Müll dahinvegetierten. Zu seiner Rechten befand sich ein Regenrohr an der schmutzigen Ziegelwand.
Wie es so seine Angewohnheit war, redete George mit sich selbst: „Das Regenrohr sieht so aus, als ob es mein Gewicht tragen könnte...“
George holte tief Atem und begann das Regenrohr hochzuklettern.
Es blieb bei dem Versuch denn es brach sofort ab und George war nicht bereit, sich jetzt doch noch den Hals zu brechen, doch trotzdem nahm er an, dass der Clown über die Dächer getürmt war, wo sollte er auch sonst hin von dort aus.
Neben dem nun kaputten Rohr befand sich ein durch solide Eisenstäbe geschütztes Fenster.
George rüttelte an den Stäben, doch sie gaben nicht nach, also erhärtete sich seine Annahme, dass der Clown über die Dächer geflüchtet war, doch George wollte den Ort noch nicht verlassen, schließlich ist es besser sich völlig sicher zu sein.
Er schaute sich eine alte, zerbeulte Mülltonne an, die jedoch leer war und einen Stapel Kartons, in denen mal Weinflaschen verpackt waren. Nun waren sie lediglich feucht, ziemlich muffig und einwandfrei leer. George ließ sich es nicht nehmen, zwei weitere Mülltonnen zu untersuchen. In der ersten roch es, als ob jemand an einem heißen Hochsommertag eine Ladung Fisch in einem Umkleideraum abgestellt hätte und in der zweiten wartete eine Überraschung in Form einer schwarzen Katze auf ihn, vor der er fast zu Tode erschrak.
Alte, modrige Mülltonnen zu durchsuchen hatte einen gewissen Nervenkitzel, doch George wollte das Schicksal lieber nicht weiter herausfordern. In der Gasse gab es sowieso nichts Interessantes mehr, viel Müll war über den Boden verteilt, eine alte Plastikkiste und viel Leergut. Enttäuscht wand er sich Stobbart ab, hielt jedoch inne. Zwischen dem Müll am Boden konnte man eine Eisenplatte sehen, die den Eingang zu einem Kanalisations- oder Abflussrohr versperrte. George versuchte den Deckel mit seinen Fingern aufzukriegen, doch zu seinem Verdruss konnte er keinen guten Angriffspunkt finden.
Es gab nun also die Möglichkeit, dass der Clown über das Dach oder die Kanalisation verschwunden war. Auf das Dach konnte er nicht rauf, also musste er irgendwie in die Kanalisation. In der Nähe des Cafés war eine Baustelle, erinnerte er sich.
„Die haben vielleicht Werkzeug um den Kanaldeckel aufzubekommen.“
Im Laufschritt marschierte George aus der Gasse und die Allee hinunter.
Als er gerade an der Baustelle ankam, in der ein dicker Typ in Latzhose mit einer Spitzhacke den Boden bearbeitete, kam die Polizei.
Ein Gendarm in schwarzer Uniform, selbst schon ergraut mit einem dicken, grauen Schnauzer im Gesicht, zückte seine Pistole und richtete diese zu Georges negativer Überraschung auf den Amerikaner und rief: „Stopp! Keine Bewegung!“
George riss die Hände hoch und rief zurück: „He – nicht schießen! Ich bin unschuldig! Ich bin Amerikaner!“
Können Sie sich nicht für eins entscheiden?“ Fragte der Gendarm, die Waffe immer noch auf ihr Ziel gerichtet.
„Ich will den amerikanischen Konsul sprechen!“ Bestand George.
„Waffen fallen lassen und runter auf den Boden.“ Befahl der Gendarm mit einem überdurchschnittlichen starken Akzent. Hinter ihm tauchte ein glatzköpfiger Mann in einem langen Ledermantel auf und befahl seinerseits dem Gendarm: „Stecken Sie das Ding weg, Sergeant Moué.“
Dann wand er sich an George: „Verzeihung, Monsieur, aber ich kann Ihnen nicht gestatten, sich zu entfernen.“
George saß noch immer der Schock in den Gliedern: „Bin ich verhaftet?“
„Ah, non! Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.“ Beruhigte der große, durchaus autoritäre Mann George. Er wirkte noch autoritärer durch seinen Bart, der sich vom Kinn um seinen Mund herum schloss, seine gerade Haltung und seine durchdringende Stimme.
„Vorwärts – zum Café! Marchez!“ Trieb er den Sergeant und George an.
Der Bauarbeiter, der eben noch seinem Hobby als Schaulustiger frönte, arbeitete wieder weiter und George, der Sergeant und der andere Mann, wahrscheinlich ein Inspektor, gingen zurück zum Café. Die Kellnerin saß noch immer erschüttert auf der Sitzbank in der Ecke, doch kümmerte sich Sergeant Moué zuerst um die Leiche des Mannes.
Die Autoritätsperson sah sich um und sagte: „Was für ein Anblick! Diese Bombenexplosion ist schrecklich, nicht wahr?“
„Hören Sie damit auf, Monsieur!“ Die Stimme Sergeant Moués.
Der Mann mit Glatze drehte sich zu dem über die Leiche gebeugten Polizisten, der weiter auf den Toten einredete: „Hören Sie sofort damit auf Ihren Atem anzuhalten.“
Das wurde dem Mann zu viel: „Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, dass der Mann tot sein könnte, Moué?“
„Oui, Monsieur, aber ich betrachte die Dinge lieber von der Sonnenseite. Außerdem erinnere ich mich an einen Fall, in dem der Killer entkam, indem er sich tot stellte.“
Es machten sich Zweifel an Moués gesundem Menschenverstand bei George breit.
Moué setzte fort: „Na egal, in diesem Fall ist der Mann ziemlich sehr tot.“
Er schlussfolgerte: „Es ist sonnenklar, dass der Killer von seiner Anwesenheit wusste und...“
Doch der andere Mann unterbrach ihn mit seinem minimalen Akzent: „Wie oft habe ich Sie schon gewarnt, voreilige Thesen aufzustellen? Alles, was wir sicher wissen, ist, dass der Mann tot ist.“
Moué versuchte sich zu rechtfertigen: „Ich fand, es war logisch, anzunehmen, dass...“
Der Mann im Mantel ließ ihn nicht ausreden: „Ein großer Detektiv nimmt niemals etwas an. Maigret zum Beispiel...“
„A... Aber das war eine Romanfigur, Monsieur! Er war nicht echter als Derrick oder Der Alte!“
„Das ist was anderes, Moué – die brauchten ja auch Assistenten.“
Er unterbrach sich nun selbst: „Egal, nicht einmal Ihnen dürfte es gelingen, den Toten zum Reden zu bringen. Kümmern Sie sich um das Mädchen und nehmen Sie ihre Aussage auf, falls sie das hinkriegen.“
Der Sergeant befolgte den Befehl und der Mann im Mantel kam wieder auf George zurück: „Et maintenant, zum Geschäft.“ Er holte aus einer Innentasche seines Mantels einen Notizblock und einen silbernen Kugelschreiber und fing mit der Vernehmung des Amerikaners an: „Ihr Name, bitte?“
„George Stobbart. Ich komme aus Kalifornien.“
Der Mann notierte sich das Gesagte und fuhr fort: „Und was führt Sie nach Paris, Monsieur Stobbart?“
„Reisen. Ich reise durch Europa.“
„Gut gewählt. Die Stadt ist zu dieser Jahreszeit am schönsten, non?“
„Äh... ja, könnte sein – von den Bomben einmal abgesehen!“ Scherzte George.
Der Mann fand es anscheinend gar nicht lustig und machte unbehelligt weiter: „Befanden Sie sich in der Nähe des Cafés, als die Bombe hochging?“
„Ja. Ich saß draußen auf dem Bürgersteig. Ich hatte Glück, dass es mich nicht auch erwischt hat!“ Der wohlmögliche Inspektor ignorierte seine Bemerkung komplett.
„Sahen Sie, wie der Verstorbene das Café betrat?“
„Ja, hab ich gesehen.“ Antwortete George knapp.
„War er allein?“
„Äh... ja.“
„Und sprach er mit Ihnen?“ Er sah George die ganze Zeit an, er schaute nicht einmal, wie er schrieb. Er wollte wohl hinter Georges mögliche, wahre Motive blicken.
„Nein. Die Kellnerin interessierte ihn viel mehr.“
„Haben Sie jemand anders in das Café gehen sehen?“
„Ja, da war so ein Typ, der wie ein Clown gekleidet war. Er trug ein Akkordeon.“
„Ein Akkordeon? Bon. Das Bild formt sich in meinem Kopf... Und es ist nicht sehr hübsch.“
„Nun ja...“ Damit packte er seinen Block und den Stift zurück in den Mantel.
Auch der Sergeant war mit der Befragung der Frau beendet und die beiden Polizisten zogen sich kurz zu einer kleinen Besprechung zurück, von der George nur einige Sätze mitbekam.
„Ist das Mädchen in Ordnung, Moué?“
„Sie wird’s überleben... Sie bestätigt die Aussage des Amerikaners. Ein Clown mit einem Akkordeon, zweifellos eine raffinierte und exzentrische Verkleidung.“
„Sehr gut.“ Entgegnete der glatzköpfige Mann und sprach dann wieder laut, damit auch George es richtig hören konnte: „Eh bien. Ich habe genug gehört.“
„Was meinen Sie damit?“ George war immer noch unruhig.
„Ich bin überzeugt, dass Sie nichts wissen. Sie können gehen. Ich hoffe, dieser kleine Zwischenfall verdirbt Ihnen nicht den Rest des Urlaubs.“ Mit so einer laschen Antwort hatte George nicht gerechnet.
„Und meine persönliche Sicherheit? Können Sie mir nicht wenigstens einen Rat geben?“
„Was soll ich sagen? Passen sie auf, hüten Sie sich vor verdächtigen Figuren...
Sergeant Moué beendete den Satz: „Und gehen Sie erst über die Straße, wenn Sie das kleine grüne Männchen sehen.“
„Toller Tip.“ Stellte George fest.
„Ich bin davon überzeugt, dass Sie sich nicht im Geringsten in Gefahr befinden, Monsieur.“
„Sollte Ihnen noch etwas Wichtiges einfallen, rufen Sie mich an. Meine Karte...“
Er kramte aus einer weiteren Innentasche seines Mantels eine kleine Visitenkarte und übergab sie an George: „Danke.“
George sah sie sich kurz an, bevor er sie wegsteckte: „Augustin Rosso, Inspecteur de police. Er wohnt südlich des Friedhofs von Montparnasse.“
„Das wäre alles. Sie können gehen.“
Als George kurz vor der zerstörten Tür stand, fing Moué wieder an zu reden mit dem Inspektor: „Es gibt nicht viele Anhaltspunkte, Monsieur...“
„Oberflächlich gesehen, nein. Aber was lauert im Unterbewusstsein?“
George drehte sich um, aufgrund der überraschenden Worte des Inspektors, der seine Worte fortsetzte: „Wenn man die Tür nur öffnen könnte...“
Nun erschien Moué als realistischerer Typ als der Inspektor: „Meinen Sie das im Ernst, Monsieur? Ich dachte, Ihr Interesser an übersinnlichen Erkenntnissen wäre rein akademisch...“
„Akademisch? Sie sind im Begriff, Zeuge eines wissenschaftlichen Durchbruchs zu werden.“
Der Inspektor legte seine Hand in Denkerposition an seinen Kopf und tat genau dies, angestrengt nachdenken. George schlich sich hinaus, er wollte nicht weiter stören.
Vor dem Café traf George auf eine junge Dame mit schwarzen, gestylten Haaren in einer schwarzen Lederjacke und einem violetten Lederminirock. Darunter wurden ihre Beine von einer dunklen Strumpfhose verdeckt. Sie fotografierte den Tatort und George sprach sie einfach mal an, nicht nur weil sie Georges bevorzugtem Typ von Frauen relativ nahe kam.
„Verzeihung, Mademoiselle! Hallo! Ich heiße George Stobbart...“
In ausgezeichneter Aussprache antwortete sie: „Oh. Ein Amerikaner, so wie sich’s anhört.“
„Ja. Das stimmt. Auf Urlaub in Paris. Schöner Urlaub, was?“
„Du warst hier, als die Bombe hochging?“ Sofort entwickelte sie ein großes Interesse.
„So ist es! Ich habe genau vor dem Café gesessen.“
„Ist dir ein Mann mittleren Alters begegnet, etwa 60 Jahre, mit einem Hut und Mantel?“
„Ich kann es nicht glauben: Sie hat mich nicht einmal gefragt, wie ich mich fühle...“
„Ja, kurz bevor die Bombe explodierte, ging er hinein. Du bist doch nicht... mit ihm verwandt?“ George hatte nicht die Absicht, einem Angehörigen die Nachricht über den Tod des Mannes mitzuteilen.
„Oh, nein – nichts dergleichen. Ich bin Nicole Collard, von La Liberté.“ Stellte sie sich mit einem verhaltenen Lächeln vor.
Voller Unwissen fragte George sie: „Was ist das – ein Nachtclub?“
Etwas verlegen antwortete sie: „Ah, nein – es ist eine Tageszeitung.“
„Du bist Reporterin?“
„Ich bin freie Fotojournalistin.“ Berichtigte sie ihn.
„Na so was. Du könntest mich über den Bombenanschlag interviewen! Ein Augenzeugenbericht... Minuten nach der Gewalttat, die ganz Paris erschütterte...
Verstehst du – Dramen des Lebens, menschliche Anteilnahme – so was in der Art.“ George stellte sich sein Bild auf dem Titelblatt der Zeitung vor, Nicole zerbrach seinen kleinen Tagtraum zu seinem Missfallen: „Ich bleibe bei den Tatsachen, danke.“Hast du gesehen, wer die Bombe gelegt hat?“
„Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber er war als Clown verkleidet.“
„Oh Gott. Er hat wieder zugeschlagen...“ Ihre vorherige Coolness hatte sich nun in Entsetzen verwandelt und das beunruhigte auch George.
„Hast du den Clown jemals zuvor gesehen?“ Fragte er Nicole.
„Das ist... eine lange Geschichte.“
„Ich habe viel Zeit.“
„Ich nicht.“
„Wer war der Typ, den du treffen wolltest?“
„Sein Name war Plantard. Ich kannte ihn nicht, aber er hat mich letzte Nacht angerufen. Er sagte, er hätte eine Story, die mich interessieren würde. Er fragte mich, ob wir uns im Café treffen könnten. Ich werde wohl nie erfahren, was er mir sagen wollte...“ Sie klang sichtlich geknickt und George versuchte sie mit einer witzigen Bemerkung aufzumuntern: „Es sei denn, du hättest Rossos Gabe der parapsychologischen Befragung.“
Die Bemerkung fruchtete nicht und George besann sich auf das ernste Thema zurück: „Woher hat Plantard deinen Namen?“
„Über die Zeitung – La Liberté. Ich habe einen Artikel geschrieben, in dem ich zwei ungelöste Morde miteinander in Verbindung bringe, einen in Italien, einen anderen in Japan. Die Fälle sind sich bemerkenswert ähnlich... ein wohlhabendes Opfer, kein offensichtliches Motiv und ein verkleideter Killer. Plantard sagte, er könne mir weitere Informationen beschaffen.“
George kam wieder auf den Clown zu sprechen: „Warum möchtest du mir nichts über diesen Clown erzählen?“
Nicole konterte mit einer Gegenfrage: „Warum möchtest du dich da einmischen?“
„Weil er mich fast getötet hätte! Ist das nicht Grund genug?“ Wollte George wissen.
„Doch, ich nehme an, das ist es. Hör mal... Ich gebe dir meine Telefonnummer.“
Nicole nahm einen leeren Briefumschlag aus ihrer Tasche und schrieb ihre Nummer darauf, dann gab sie George den Umschlag.
„Du hilfst mir bei meiner Story und ich weihe dich in das ein, was ich weiß. Und damit eines von vorneherein klar ist... Das ist rein geschäftlich.“
„Okay. Abgemacht.“ Nun war George zufrieden. Er würde mehr über den Clown herausfinden und er hatte die Telefonnummer einer schönen Frau, ein echt guter Tag für ihn, mal abgesehen von der Bombenexplosion natürlich.
„Ich muss diese Bilder entwickeln lassen. À bientôt, Monsieur...“
„Gut. Ich, uh... bis bald.“ Da ging sie hin. George schaute ihr noch einen Moment nach, dann drehte er sich und sah, wie der Sergeant sich im Eingang des Cafés versuchte breit zu machen, um jedem Schaulustigen den Weg zu versperren. Der Sergeant war ein mickriger Mann und George fand, dass er in gewisser Weise einem kopflosen Huhn glich.
„Entschuldigen Sie, Sergeant.“ George fand, dass das Herumstehen des Sergeants nicht die beste Lösung zur Aufklärung dieses Falls war.
„Sie haben den Inspektor gehört. Gehen Sie nach Hause, Monsieur.“
„Wollen Sie sich nicht auf die Suche nach dem Clown machen?“ George war ungeduldig, schließlich ging es hier um Mord.
„Nein, mein Herr. Der Inspecteur hat mir ausdrückliche Anweisung gegeben, diese Türe zu bewachen. Bis er diese Anweisungen widerruft oder bis Verstärkung eintrifft, rühre ich mich also nicht vom Fleck.“ Der Sergeant ließ wirklich nicht mit sich reden und stand stocksteif in der Tür.
„Ich habe gesehen, wie der Clown in die Gasse auf der anderen Straßenseite gerannt ist.“ Berichtete George.
„Sind Sie ihm gefolgt?“
„Nein, nicht sofort, aber ich vermute, er ist unterirdisch geflohen.“ Das erschien George als wahrscheinlichste Lösung, denn über die Dächer zu flüchten wäre einfach zu gefährlich gewesen.
„Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Kilometer Kanalisation es unter dieser prächtigen Stadt gibt?“
„Das gehörte bislang nicht zu den Fragen, die mir regelmäßig den Schlaf rauben.“ Bemerkte George.
„Ich bin ganz sicher, dass Inspecteur Rosso eine vernünftige Suche organisieren wird.“ Beschwichtigte er George Stobbart.
„Wie konnten Sie und Rosso so schnell am Tatort sein? Sie waren ja innerhalb weniger Minuten am Schauplatz der Explosion! Hatten Sie einen Tipp bekommen?“
„Diese Informationsquellen von Inspecteur Rosso sind mir ein ständiges Rätsel, Monsieur. Ein paar Leute behaupten, er hätte einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen.“ Moué flüsterte, auch wenn er das wohl kaum ernst meinen konnte, wie George dachte.
„Und was glauben Sie?“ Fragte Stobbart den Gendarmen.
„Ich glaube, er ist selbst der Teufel.“ Diese Antwort wunderte George.
„Was macht Rosso mit dem Mädchen?“ Fragte George, um das Gespräch weiter voranzutreiben.
„Er dreht sie durch die Mühle, wie ihr Amerikaner wohl sagen würdet.“
„Bitte?“
„Wenn er sich einmal in einem Fall festgebissen hat, schüttelt ihn nichts und niemand mehr ab.“ Diesen Eindruck hatte auch George von dem Inspektor bekommen.
„War das sein Ernst mit dem ganzen Psycho – Polizisten – Kram?“ George hielt Rosso für zu intelligent, um sich auf so etwas zu verlassen.
„Natürlich! Inspecteur Rosso ist ein Pionier und Visionär! Wenn er seine revolutionären Methoden erst einmal perfektioniert hat, werden sie das Bild des Polizeidienstes von Grund auf umkrempeln!“ George zweifelte langsam wirklich am gesunden Verstand des Sergeants.
„Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass so was in L. A. klappt.“ George machte sich wieder einmal versteckt über seinen Gegenüber lustig und Moué hatte davon natürlich nicht den geringsten Schimmer.