realchris: Interessante Diskussion!
Ich glaube, Du siehst das eher vom philosophischen Standpunkt her und ich vom tragödientheoretischen.
Ganz genau weiß ich es nicht mehr, meine mündliche Prüfung ist auch schon über ein Jahr her, aber das mit der Subjekt-Bildung bei Gretchen hab ich noch genau in Erinnerung (hatte vorher auch eine Hausarbeit drüber schreiben müssen, was jetzt bestimmt über 2 Jahre her ist)!
Ich hab das jetzt für mich persönlich Intelligenz genannt und nicht mit Schiller gesprochen. Klar war damals eher die Rede von Vernunft.
Das Wort "Intelligenz" habe ich persönlich in Bezug auf Nomadenseele benützt, um zu verdeutlichen, daß eine vermeintlich naive Person weisere Schritte begehen kann als eine gebildete. Aus welchen Beweggründen auch immer, das wurde in Faust auch nicht erklärt. Das Interessante ist, daß Goethe völlig außen vor läßt, ab wann Gretchens Subjektwerdung einsetzt und genau herauskristallisiert; sie wird nur am Ende von Gott aufgenommen, weil sie sich Faust widersetzt. Wäre sie naiv und "dumm" geblieben, hätte sie das nicht getan.
Der Fokus der Tragödie liegt aber wirklich immer auf der Subjektwerdung, was ich sehr interessant finde. Kann man sogar schon bei Ödipus vorfinden, der ebenfalls am Ende die Verantwortung für sein Handeln auf sich nimmt.
Im Prinzip hängt das Ganze auch sehr stark mit Reflexionen zusammen, die wiederum am stärksten bei "Hamlet" sind: Der Typ ist nämlich so mit reflektieren beschäftigt, daß er viel zu spät (oder sogar gar nicht, das hab ich nicht mehr genau im Kopf) handelt - das andere Extrembeispiel also!
Ich hab nicht gesagt, daß Gretchen "besser" als Faust ist, nur, daß Goethe eigentlich genau in Bezug auf diese Subjektwerdung, die alle Tragödien gemein haben, sein "Faust I" lediglich wegen Gretchen und nicht wegen Faust selbst überhaupt Tragödie nennen konnte. Weil Faust nicht im eigentlichen Sinne tragisch ist. Das wird er erst im zweiten Teil. Gretchen übernimmt diese Tragik für ihn. Und wie gesagt; die Beweggründe, warum/wieso/weshalb werden nicht geschildert. Selbstverständlich handelt sie irrational und irre, als sie ihr Kind tötet. Aber am Ende - und darauf ist diese Tragödientheorie ausgelegt - übernimmt sie besagte Verantwortung und stellt sich ihrem Schicksal, was Faust nicht hinkriegt.
Ich persönlich habe das Intelligenz genannt - nicht Schiller, nicht Kant, kein anderer. Nur, falls Du das falsch verstanden hast.
Für mich persönlich ist Intelligenz nämlich im Umgang der Menschen miteinander verankert (und das meine ich nun nicht von einer philosophischen Theorie her, sondern einfach von mir selbst), nicht in der Bildung. Und als ich zu Nomadenseele sagte, daß die Literaturgeschichte eigentlich ihre Vorstellung von einer nicht-trennbaren Einigkeit von Bildung/Intelligenz widerlegt, hab ich diese Beispiele herangezogen - ist selbstverständlich meine persönliche Auslegung von Intelligenz. Ich wollte damit nur sagen, daß Faust und auch Ferdinand bei all ihrer Bildung dennoch Menschen sind, die trotz ihrem Streben nach Weisheit etc. versäumen, Verantwortung zu übernehmen oder Dinge zu erkennen, die doch eigentlich ganz klar vor ihnen liegen und die sie eigentlich erkennen müßten.
Irgendwie faszinierend, daß ausgerechnet Gretchen mit all ihrem beschränkten Verstand Verantwortung übernimmt, während Faust kneift.
realchris hat geschrieben:Interessant finde ich, dass Faust zuerst einer von Gottes Leuten ist (Siehe Prolog über die Wette)und sozusagen von der intellektuellen Redlichkeit abweicht und sich dem Triebhaften und bösen zuwendet. Während Gretchen den umgelehrten Weg geht. Zunächst keusch erzogen (Also ohne Verdienst), wird ihre schwache Vernunft übermannt, sie wird schwanger, wahnsinnig und entscheidet sich nach ihrer Tat dann bewusst für das Gute. So durchlebt Gretchen in Kurzform das, was Faust in 2 Büchern im Prinzip auch besteht. Beide stehen vor einer Prüfung, bei der es um ihre Seele geht.
Genau das meinte ich. Sie schafft es innerhalb viel kürzerer Zeit "ihre Seele zu retten" als Faust. Warum/wieso/weshalb? Hat Goethe offen gelassen. Vielleicht liegt es gerade daran, daß ihr die Bildung fehlt. Vielleicht aber auch handelt sie intuitiver.
Oder vielleicht ist es schlicht der Grund, daß sie - ganz Frau! - mehr auf ihre Gefühle hört!
btw: Ich weiß noch, daß Schiller gerade seine Theorie bei "Wallenstein" umsetzen wollte und es verschiedene Ansichten darüber gibt, ob ihm das gelungen ist oder nicht. Das hab ich aber leider nicht mehr im Kopf, müßte es also nochmal komplett durchlesen.
Und irgendwie bezeichnend, daß Goethe selbst nicht so wirklich DER Tragödienschreiber gewesen ist. Das Bürgerliche Trauerspiel lag ihm ja überhaupt nicht