DasJan hat geschrieben:@Kruttan: Was du schreibst, liest sich, als hätte eine Person X sich die komplette Bibel ausgedacht, mitsamt allen Widersprüchen, und die hätte sich bei allen Widersprüchen etwas Konkretes gedacht, wie diese zu interpretieren wären, und so weiter. Da die Bibel aber nur eine Textsammlung ist, denke ich nicht, dass es diesen großen Plan gibt, den du darin siehst.
Nein, das will ich natürlich nicht sagen. Ich betrachte sie aber als im gleichen "Geist" geschrieben. Die meisten Autoren wussten sehr gut um den bis Dato bereits bestehenden Stoff des biblischen Kanons. Jesus wird als Rabbi die wichtigen jüdischen Schriften auswendig gekannt haben. Er liefert und lebt seine Interpretation. Genauso Paulus und die anderen Autoren der Briefe. Diese Interpretationen spezifizieren und denken weiter.
Das ist nicht unlogisch, da der Widerspruch nicht die Aussage unter allen Vorbedingungen tangiert, diese variieren - daher kann kein Gesetz der Welt alle Strafen für jedes denkbare Verbrechen unter all ihren einzelnen Umständen festlegen. Es bleibt immer bis zu einem gewissen Grad unscharf.
Kruttan hat geschrieben:Als die Pharisäer Jesus und seine Jünger ermahnen, dass sie am Sabbat Ähren von den Feldern lesen, wird diesem Gesetz nur scheinbar widersprochen.
Eigentlich wird ihm ziemlich direkt und unmissverständlich widersprochen.
Und ich sehe das anders. Der Grund ist meines Erachtens, dass es einfach keine Weltformel gibt, die algorithmisch immer die angebrachteste Handlungsoption sofort ausspuckt. Fundamentalistische Christen mögen die Zehn Gebote als etwas verstehen, dass ihnen das Denken abnehmen kann. Die haben dann ein Problem, wenn sie vor Entscheidungen gestellt werden, die sich einem solchen, rein algorithmischen Denken entziehen.
Ich verstehe dich so, dass du von der Bibel eine solche Weltformel forderst. Und da nichts diesem Anspruch gerecht werden kann, also auch kein Text, ist sie für dich wertlos.
Ich gehe schon davon aus, dass es Prinzipien gibt, die hinter allem stehen (in Bezug auf Verhaltensmaßstäbe), die sich durch physikalische Gegebenheiten nicht erklären lassen.
Beim Feiertag-Heiligen wird ihmo nur präzisiert, was unter Heiligung des Feiertags zu verstehen ist. Dass das Abbrechen einer Ähre und ihr Verspeisen eben für die Jünger keine Arbeit im eigentlichen Sinne ist. Nirgendwo in der Bibel steht, dass wer am Sabbat etwas tut, wozu er Lust hat und das er nicht als Arbeit empfindet, eine Sünde begeht. Daher sehe ich hier keinen Widerspruch.
Ein Ähnliches Beispiel mag das Lügen Gebot sein. Stell dir vor, du würdest ein Kind erziehen. Dann würdest du ihm auch erst mal erzählen, dass es nicht lügen soll. Behauptet es, es hätte die Mathe-Arbeit noch nicht wieder, du aber findest im seinem Ranzen das Heft mit einer dicken Fünf, so wirst du dich auf dieses Gesetz berufen.
Nun ist in der Schule die NS-Zeit dran und im Lesebuch eine Geschichte von einem Menschen, der einige Juden im Keller versteckt und die Gestapo belügt. Nun ist dies imho kein Widerspruch zu dem vorhergesagten. Hier würde man sagen, dass das Lügen hier ein anderes Lügen ist, als das, was man dem Kind untersagt. Hier wird mit einer anderen Absicht getäuscht. Das hinter allem stehende, moralische Gesetz in Bezug auf die Lüge wird nur dann abgeändert, wenn man es als starren Algorithmus verstanden hat.
DasJan hat geschrieben:Wenn der Autor damit etwas anderes meint, nämlich das, was du da reininterpretierst, was da aber eigentlich nicht steht, warum hat er sich nicht klarer ausgedrückt. Dass er dem anderen Text widerspricht, präzisiert seine Intention nicht, sondern sorgt dafür, dass du es so siehst, jemand anders anders und ich darin nur einen logischen Widerspruch erkenne. Hat der Autor das so gewollt?
KhrisMUC hat geschrieben:Was erhebt die Bibel in ihren besonderen Status (abgesehen von ihrer enormen Verbreitung)?
Vermutlich ist sie einfach so wirr, dass man nach 2000 Jahren immer noch nicht damit fertig ist, sie zu interpretieren.
Das ist eine Frage der Interpretationstheorie. Genau genommen ist man niemals fertig, ein Buch fertig zu interpretieren. Lesen ist ein konstruktiver Prozess der aktiven Bedeutungszuschreibung bei dem das Vorwissen in einer ständigen Wechselwirkung mit den Impulsen des Textes steht. Diese Textimpulse sorgen zwar dafür, dass man immer in einem gewissen Radius möglicher Interpretationen landet, aber innerhalb dieser gibt es natürlich ein gewisses Spektrum an möglichen Interpretationen. Diese möglichen Interpretationen variieren je nach Vorwissen und weiteren persönlichen Faktoren. Liest du ein Buch zwei Mal, so ist das Modell, das du baust, in der Regel schon wieder ein anderes.
Je nach Zeit und persönlicher Situation ist demnach das, was aus einem Buch gewonnen wird, etwas anderes. Natürlich kommt man immer bis zu einem gewissen Grad an die Intention des Autors heran, aber nie völlig. Es mag noch Lehrer in unseren Schulen geben, die mit dem Satz "Was will uns der Autor damit sagen" ihren Schülern ein solches, völlig veraltetes Textverständnis in den Kopf hämmern. Vielleicht denkst du auch deshalb, dass einheitliche Prinzipien einen Autor fordern.
Bei der Bibel ist es schwierig, sie auf einige wenige Aussagen zu reduzieren, weil das Buch ein sehr reichhaltiges Spektrum an Infos für alle möglichen Lebenslagen liefert (im Gegensatz von den Büchern die KhrisMUC genannt hat. Das reichhaltigste Buch dürfte hier noch " der Herr der Ringe" sein, der ja gemäß Tolkiens kulturphilosophischen Backgrounds bewusst als ein anwendbares Buch konzipiert worden ist, allerdings ist der Versuch, eine Religion basierend auf Tolkien zu begründen kläglich gescheitert).
Auch finde ich die Aussage, der Autor in der Bibel widerspreche sich, heikel. Da es unterschiedliche Autoren sind, gibt es Spannungen. Ich vermute, dass die Autoren aber auf ihre Vorgänger eingehen, Jesus tut das dort, wo DasJan ihn als widersprüchlich beschreibt. Mir ist es wichtig, wie auf das Prinzip eingegangen wird. Wenn in der Philosophie ein Schüler in der Tradition seines Lehrmeisters steht und in einzelnen Punkten Sachen anders ausformuliert, tut er dies in der Regel auch, um dem behandelten Gegenstand näher zu kommen oder ihn von einer anderen Seite zu beleuchten.
Reine Autorenintention in der Bibel zu finden, geht schon aufgrund dessen nicht, weil es keinen einheitlichen Autor gibt. Man kann sich bestenfalls einen Evangelisten (oder die Teile eines Evangeliums, von denen man ausgeht, dass sie von einem Autor stammen) herausnehmen und gucken, wo er seine Schwerpunkte setzt. Hierbei hindert immer noch ein historischer Graben, so dass das ein sehr anspruchsvoller Prozess ist.
Auch läuft Interpretation immer mit einer bestimmten Fragestellung ab. Interpretieren zwei Leute den Text mit einer unterschiedlichen Fragestellung, so ist das Ergebnis auch meist unterschiedlich. Nur wenn sie die gleiche Fragestellung haben, ist gewährleistet, dass sie (sofern ihnen keine groben Fehler unterlaufen) große Überschneidungen haben.
Lesen läuft in einem sogenannten hermeneutischen Zirkel ab, dieser funktioniert nur, wenn man bereits Vorannahmen hat. Diese können während des Lesens z.B. durch den Text auch abgelegt (oder bestätigt) werden, aber sie sind als Startpunkt wichtig. Dies ist nicht als "Hineininterpretieren" zu verstehen. Das passiert nur, wenn man den Text nicht in seiner Rolle als primären Informationsgeber behält.
(Ich hoffe, diese oberflächliche Exkursion in Leseprozesse und Interpretationstheorie, war weder zu kompliziert noch zu neu)
KhrisMUC hat geschrieben:@Kruttan:
Eins fällt mir gerade noch ein: es war davon die Rede, dass deutsche, "gemäßigte" Christen die Bibel eher als grobe Richtlinie sehen (und z.B. keine Homosexuellen steinigen). Dazu meinte ich, sie sollen den Gedanken zu Ende denken und gleich vom Glauben abfallen.
Deine etwas unlogische Antwort war, sie würden beim Glauben bleiben, gerade weil sie den Gedanken zu Ende denken.
Könntest Du das etwas genauer ausführen?
(Ich hoffe, ich hab da jetzt nix durcheinander gebracht.)
Ich meinte, dass sie w e i t e r denken, nicht zu Ende. Im Rahmen der oben angeführten Textverständnistheorie dürfte aber auch erklärt sein, warum man nicht "zu Ende" denken kann/sollte. Wobei du als Empiriker da eine andere Ansicht vertreten wirst. Du deklarierst irgendwann einen Erkenntnisprozess als "zu Ende".
Wichtig ist, dass die Behandlung der Bibel von "Gemäßigten" nicht ein Herauspicken der Stellen ist, die ihnen gefallen. Das tun imho eher die Vertreter der Verbalinspiration (in der Regel alles andere als "gemäßigte" Christen), indem sie sich nur auf einige Stellen beziehen. Ich würde die "Gemäßigten" eher als jene mit einem "Reflektierten Glauben" bezeichnen. Ich meine damit nicht jene, die eigentlich Agnostiker sind und die Kirchenbänke nur aus Tradition drücken. Sondern ich meine jene, die bereit sind, ihre Überzeugungen und auch ihre Glaubensfundamente zu überprüfen.
Schon durch die Überprüfung der Fundamente wird der Glauben bodenständiger. Ich denke, dass z.B. von den Christen, die die Evolutionstheorie ablehnen, viele dies aus der Angst tun, sie könnten um ihren Glauben gebracht werden. Jemand, der sich seinem Glauben kritisch stellt und bereits ist, zu zweifeln, mag zu dem Urteil kommen, dass die Schöpfungsgeschichte nicht wortwörtlich zu verstehen sein kann, weil er vielleicht einfach mal ein Kapitel weiter liest - er entwickelt daher einen Glauben, der gefestigter ist. Wohl auch einen Glauben, der sich im praktischen Leben als deutlich rentabler erweist. Er wird diese Dinge nicht als Widersprüche sehen. Denn durch die tiefergehende Beschäftigung kommt er beispielsweise zu dem Schluss, dass eine Rechtssprechung im Israel vor Jahrtausenden (die schon zu neutestamentarischen Zeiten nicht mehr gültig war) nicht unbedingt ein Maßstab fürs Zusammenleben unter Menschen in heutigen Verhältnissen ist, und das das auch nirgendwo behauptet wird. Gewisse Grundpfeiler, die sich durch viele Texte hindurch finden, wird er aber schon als für die jetzige Situation als verbindlich betrachten (10 Gebote, Doppelgebot).
Allerdings muss noch gesagt werden, dass ich kein Theologe bin und das Buch bisher auch nur einmal vollständig gelesen hab (finde, das das jeder mal tun sollte, hat mich jedenfalls schwer begeistert) und daher sicher nicht die präziseste Antwort liefern kann. Wichtig ist aber beim Bibelverständnis auch dass im Zentrum des Christentums nicht direkt die Bibel bei all ihrem Wert auch steht, sondern Jesus, weshalb ein besonderer Stellenwert auf die Evangelien gelegt wird und das alte Testament nicht gesondert von neuen betrachtet werden kann.
Natürlich gehört auch zu einem solchen Menschen die Prämisse, der Bibel einen gewissen Stellenwert beizumessen. Da sich dieses Buch bei reflektierter Behandlung in der Praxis dann aber bewährt, wird dieser Wert eher bestätigt.
Aber ich finde es auch komisch, wenn man beispielsweise der Evolution einen Stellenwert jenseits der Biologie zuschreibt. Ihn vielleicht zum sinnstiftenden Element des eigenen Lebens macht. Die kant'schen Fragen "Was soll ich tun?", "Was darf ich hoffen?", "Was ist der Mensch?" mit ihm erklären will (wenn ich dich richtig verstehe, würdest du die letzten beiden würdest du mit "nichts" beantworten, der ersten gehst du immer aus dem Weg). Hier erfährt er meines Erachtens auch eine Aufwertung für die ich keinen Grund sehe. Warum sollten wir den Prinzipien der Evolution noch gehorchen und auf ihrer Grundlage handeln, wenn wir als Mensch doch schon selbst die Selektionsfunktion eingenommen haben?