DasJan hat geschrieben:Die Behauptung, die Masse könne sich irren, geht davon aus, dass es das eine "richtige" System gibt. Wer bestimmt das denn? Ist das "richtige" System nicht dasjenige, das sich als stabiles System durch das Verhalten der Masse eingestellt hat? OK, das "richtige" System könnte auch dasjenige sein, dass das Überleben der Menschheit für den größtmöglichen Zeitraum sicherstellt, aber da halte ich "harmonisches Miteinander" schon für einen ganz guten Kandidaten.
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Ja. Dies sind zwei Annahmen: (1) Es gibt das richtige System und (2) das Ziel eines "harmonischen Miteinander" ist konstitutiver für dieses richtige System als z.B. das Streben nach persönlicher Bequemlichkeit oder einer Regelung, die nur das Fortbestehen der Art im Sinn hat. Das halte ich für richtig.
Aber es gibt der Debatte um Moral auch die krasse Gegenposition, nämlich dass sie willkürlich und völlig subjektiv ist - und man sich ernsthaft fragen sollte, ob sie in der heutigen Zeit noch gilt (und dann kommt man vielleicht auch darauf, Harmonie durch Ökonomie oder der Prämisse des Überlebens zu ersetzen).
Du hältst auch das harmonische Miteinander für einen besseren Kandidaten für die richtige Moral, sofern es eine gibt. Wie weit du von der Existenz einer richtigen Moral ausgehst, weiß ich nicht, aber es ist eine interessante Frage, über die es sich echt lohnt, lange mit Kumpels zu diskutieren und drüber nachzudenken. Ich zähle mittlerweile in Bezug auf die Moral zu den Objektivisten. Nur ich komme bei der Beantwortung dieser Frage nicht ohne irgendwelche Annahmen aus, an deren Richtigkeit ich irgendwann einfach glauben muss. Dafür mag mein Hintergrund verantwortlich sein (die westliche Kultur), wobei ich mich auch lange mit der Moral beschäftigt habe, Vorlesungen und Seminare besucht habe und auch durch Abwägen der Argumente diesem Standpunkt näher bin als einem Subjektivismus.
Kruttan hat geschrieben:Ich erachte die Pluralität unter den Religionen als positiv, weil sie einem Stillstand entgegenwirkt und den gläubigen Menschen auffordert, seinen Glauben zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.
Das finde ich sehr merkwürdig. Ist ein religiöser Mensch nicht per Definition auf dem Standpunkt, in seinem Glauben Recht zu haben? Der kann dann vielleicht Menschen anderer Religionen als andere Menschen respektieren, aber aus seiner Sicht liegen die vollkommen falsch in ihrem Weltbild. Ein Christ glaubt an den
einen Gott, der per Selbstverständnis der einzige ist, und der Glauben an andere Götter ist eine schwere Sünde.
Dies gilt grundsätzlich für alle Menschen. Ein religiöser Mensch hat zwar seine Position, er glaubt an gewisse Dinge, wie z.B. an seinen Gott oder die Auferstehung. Er denkt daher schon, dass Menschen anderer Religionen in ihrem Weltbild Fehler haben. Aber das heißt nicht, dass das ein Miteinander nicht mehr möglich ist. Auch ein Atheist denkt, dass seine Position, es gebe keinen Gott, die richtige ist und denkt, dass die religiösen Menschen an eine Fiktion glauben. Kein Atheist würde sagen, dass die Juden mit ihrer Ansicht, ihr Gott sei der einzig wahre, Recht haben. Wobei dies ja den Atheismus genauso inkompatibel für weltbildübergreifende Debatten macht als den Religiösen.
Es gibt in der wieder aufgekeimten, fundamentsalischen Szene Menschen, auf die dein Vorwurf zutrifft. Dawkins Argumentationsstil will dies auf alle religiösen Menschen übertragen, da er gerne Exoten darstellt, die genauso in der christlichen Szene kritisiert werden, und sie zur Kritik an der christlichen Szene verwendet (vor allem in diesem Punkt halte ich für ihn unter anderem für absolut unwissenschaftlich). Viele der amerikanischen Megachurches werben mit einem (hierzulande, aber auch unter reflektiert denkenden Christen in den Staaten, sehr skeptisch beäugten) esoterischem Verhaltenschristentum. Dieses gibt völlig klare Verhaltensregeln für alle Bereiche vor. Jetzt ist es nicht mehr nur die Basic, die ich oben beschrieben habe, sondern alles. Man weiß, welche Bücher gut sind und welche verbrannt werden müssen, man weiß, dass Abtreibung immer abzulehnen ist, dass niemand vor der Ehe Sex haben darf, das der freie Markt okay ist, dass sämtliche Naturkatastrophen Gottes Strafe für die Menschen vor Ort sind, usw. Man glaubt nicht mehr, dass das eigene Weltbild wahr sei (wie es jeder tut), sondern man glaubt, dass man die Wahrheit komplett hätte (und hier liegt Irr-Glaube vor). Und nach diesem Maßstab verurteilt man jeden anderen Menschen. Hier ist ein Miteinander nicht mehr möglich, sonst schon.
Der ideale Gläubige ist sich aber der Vorläufigkeit all seiner Ansichten bewusst und er ist sich auch bewusst, dass es Dinge gibt, an die er glaubt, die andere nicht glauben und ihre Gründe dafür haben. Unter diesen Voraussetzungen ist Pluralität möglich. Man kann den anderen Menschen annehmen, ihn ernst nehmen und Erfurcht vor den Dingen bewahren, die ihm heilig sind.
Gegenseitiger Respekt und Toleranz sind für mich schon eine sehr gute Basis.
Andere Religionen haben es sogar zum erklärten Ziel, falsche Religionen auszulöschen.
Das kann in allen religiös wirkenden, weltanschaulichen Systemen vorkommen. Auch atheistische Regimes wollten Religionen (auch mit Gewalt) auslöschen.
Für meinen Begriff ist diese Pluralität keine gute Basis, um friedlich miteinander auszukommen.
Wir können diese Pluralität nicht abschaffen. Und das ist imho für ein vernüftiges Miteinander auch nicht möglich. Sicher hat es immer irgendwo Bestrebungen gegeben, alle Menschen in Bezug auf ihre Weltanschauungsbasis gleichzuschalten, sowohl in religiösen alsauch in atheistischen Regimes - dennoch liefert dies keine bessere Basis. Ich kann mir auch nicht denken, dass eine solche Gleichschaltung ohne Gewalt, Manipulation und Zwang stattfinden kann.
Mag sein, dass es friedlicher zugeht, wenn alle das gleiche denken, aber der Preis ist mir zu hoch. Und es geht nicht nur um Pluralität der Religionen, sondern um Pluralität der Weltanschauungen allgemein. Verschiedene Standpunkte haben auch den Vorteil, dass man eine Sache aus mehreren Perspektiven betrachten kann, um die Wahrheit näher zu kommen.
Kruttan hat geschrieben:Dawkins hat seine Position als seriöser Wissenschaftler verlassen und missbraucht sie für eine sehr fragwürdige Form der Mission.
Wenn du meinst, dass seine Polemik und seine Anfeindungen unwissenschaftlich sind, ja. Leider erpsart es diese offensive Art seinen Kritikern, sich mit Dawkins' inhaltlichen Argumenten auseinanderzusetzen, was sehr schade ist.
Da muss ich dir widersprechen. Dawkins hat in der christlichen Szene etliche Debatten ausgelöst. Er hat vielleicht auch sogar dafür gesorgt, dass zumindest der europäischen Szene ein wenig schneller die Augen für fundamentalistische und theologisch äußerst fragwürdige Positionen geöffnet wurden.
Wenn sie das nämlich täten, würden sie sehr starke, entlarvende Argumente finden, auf die ich von religiösen Menschen noch nicht annähernd befriedigende Antworten gehört habe. Deswegen hat er für mich nichts mit Evangelikalen zu tun. Polemisch ja, manchmal beleidigend ja, aber inhaltlich mit sehr starken und schlüssigen Argumenten bewaffnet.
Mag sein, dass er irgendwo inhaltlich starke Argumente hat, aber dann sollte er sich vielleicht auf diese beschränken und nicht unter so dermaßen viel Ballast kehren. Der Großteil von dem, was Dawkins sagt, ist nicht zu gebrauchen. Es ist nicht nur schwierig, zwischen den reißerischen Formulieren wie
„Der Glaube ist eines der großen Übel der Welt, vergleichbar dem Pockenvirus, aber schwerer auszurotten.“ und
"Ich halte Religion für eine Form mentalen Kindesmissbrauchs." sich wirklich auf Dawkins einzulassen, sondern auch nicht leicht, in diesem Meer von rhetorischen Reisseren tatsächliche Argumente gegen den Glauben zu finden – gerade auch deshalb weil Dawkins als Redner ja nicht primär von den Argumenten an sich lebt.
Die ganzen Anekdoten, die er über den religiösen Wahn vom Stapel lässt, sind ja nicht erfunden. Das meiste von dem ist absolut nicht zu akzeptieren, da muss ich ihm Recht geben. Aber seine Art, diese vorzutragen, ist mehr als nur heikel:
"S: Muss man die Sprüche solcher Extremisten wirklich ernst nehmen?"
D: "Die Frage gehört genau anders herum gestellt. Ich verstehe nicht, warum die Leute Milde walten lassen, wenn Gläubige so etwas von sich geben. In Ohio erlaubte ein Gericht einem Jugendlichen, in der Schule mit einem T-Shirt herumzulaufen, auf dem stand: "Homosexualität ist eine Sünde, Islam ist eine Lüge, Abtreibung ist Mord". Und warum? Weil das Teil seines Glaubens sei." (Spiegel 31/2007) [/i]
Was tut Dawkins hier? Schlüssig ist das nicht. Es ist natürlich ein Unding, wenn so eine Unverschämtheit passiert, wie bei diesem T-Shirt. Die meisten Gläubigen würden selbstverständlich so einen Akt streng ablehnen. Und es ist ein Unding, was die rechtliche Situation da zulässt, der Junge dürfte wohl auch ein Hakenkreuz auf seiner Lunchbox haben. Klar. Aber das Argument sagt nix. Auf den Vorwurf (der nicht von irgendwem, sondern sogar noch vom Spiegel kommt), der in die Richtung geht, Dawkins würde sich vielleicht auf zu unrepräsentative Extremisten konzentrieren (wo ich dieser Zeitung ausnahmsweise mal total Recht geben muss), wird nicht auf argumentativer Ebene eingegangen, sondern der Glaube wird durch ein Einzelbeispiel, auf das genau das gleiche Argument trifft, an sich sofort angegriffen. Dies erfolgt auf emotionaler Ebene, der Unmut wird übertragen. Ich meine, das ist nicht nur nicht schlüssig und nicht sachlich, es ist kein Argument, sondern grenzt schon Hetzpropaganda unterster Schublade. Und Dawkins zieht das das komplette
Interview voll durch.
Er verfehlt die Adressaten, an die diese Kritik eigentlich gehen sollte. Denn diejenigen, auf die diese Argumente zutreffen, wie besagter Junge, kommen eh aus einer Szene, in dem man nicht zweifeln darf und Angst hat, sowas zu gucken. Das heißt, die werden leider nicht erreicht und können auch auf diesem Weg nicht erreicht werden.
Die andere Liga der Gläubigen, die prinzipiell bereit ist, sich mit Dawkins zu beschäftigen, wird permanent beleidigt, ihr werden Unterstellungen übelster Art gemacht, und sie fühlt sich in eine Schublade geschoben, von der sie sich distanziert. Ich finde es schon eine lobenswerte Sache, das schon so viele aus der christlichen Szene überhaupt seine Bücher gelesen haben - auch wenn dies sich wohl ausschließlich auf die intellektuelle Liga der Christen beschränkt. Ich denke schon, dass man Verständnis dafür entgegen bringen sollte, wenn sich nicht jeder derart intensiv mit Dawkins’ Argumenten beschäftigt. Wenn ein Großteil der Argumente eben derart verletzend und sein Argumentationsstil wahrheitsverdrehend und hetzerisch ist, dann ist das eben nicht so einfach und bringt auch nichts.
Wenn das Ziel von Dawkins wirklich ist, Gläubige herauszufordern, geht er extrem ungeschickt vor. Er könnte seine Argumente dann auch sachlicher vortragen und 90% einfach weglassen. Und dazu müsste er auch durchaus in der Lage sein. Ich vermute, dass es Dawkins aber eher darum geht, eine bestimmte Form von Atheisten zu stärken und zu bestätigen, als eine kritische Beschäftigung mit seinen Argumenten hervorzurufen.
Kruttan hat geschrieben:DasJanKruttan hat geschrieben:Genau, und das ist auch das tolle an der Wissenschaft. Wie lange hat die Kirche gebraucht, um endlich einzugestehen, dass die Erde rund ist und nicht der Mittelpunkt des Universums?
Naja, aber wie lange brauchen Religionsgegner noch, dieses Argument nicht zu einer generellen Religionskritik verwenden?
Solange die Kirche derart ignorant auf Entwicklungen in der Restwelt reagiert, ist das eben Anlass zur Kritik.
[...]
Zum anderen denke ich schon, dass Galilei ein gutes Beispiel dafür ist, wie (Irr-)Glauben dazu in der Lage ist, Irrationalität und Dogmen über die Erkenntnis zu stellen. Das muss nicht passsieren - wie du sagst gab es auch damals gläubige Richtungen die Galilei unterstützt haben und auch heute sind nicht alle so stur wie der Papst - aber es kann passieren.
Es ist aber dann ein Argument gegen den Irr-Glauben, gegen fromme Raserei, Fundamentalismus, Bigotterie etc. und nicht gegen die gesamte Kirche und die Religion.
Der Trugschluss vieler bei deinem Argument ist ja, dass die Kirche die Religion und Galilei bei diesem Beispiel die Wissenschaft repräsentiert, und zumindest im Post vorher kam das für mich so rüber. Der Irr-Glaube war aber auch bei den Wissenschaftlern der damaligen Zeit vorhanden. Es ist kein Argument dafür, wie toll doch Wissenschaft im Gegensatz zu Religion ist – oder wie engstirnig die Religion ist. Engstirnigkeit liegt in der Natur des Menschen und ist nicht auf seine Religion gegründet. Seine Gräueltaten laufen allerdings in die Gefahr, schlimmer zu werden, wenn sie zusätzlich noch ideologisch oder religiös aufgeladen werden. Wobei die Kirche noch viel schlimmeres angerichtet als damals bei Galilei. In deiner jetzigen Interpretation ist das Beispiel aber auch auf den Stalinismus, den Sozialdarwinismus oder die Bildzeitung übertragbar, die allesamt nicht viel mit Religion am Hut haben.
Bitte kritisiere den jeweiligen Vertreter doch einfach. Kritisiere evangelikale Fundamentalisten und den abergläubischen Zweig innerhalb der Katholiken, kritisiere den Papst oder den jeweiligen Pastor, wenn er Mist vom Stapel lässt, statt der gesamten religiösen Szene. Einfach dort ein wenig präziser sein und nicht den Dawkins machen
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Nur eine Kleinigkeit noch, bitte nicht übel nehmen:
Deswegen hat er für mich nichts mit Evangelikalen zu tun.
Warum schreibst du „Evangelikale“ statt „evangelikale Fundamentalisten“? Ich würde mich zwar nicht als "evangelikal" bezeichnen, aber mich würde das schon mal interessieren...