Fightmeyer hat geschrieben:In meinen Augen gibt es zwei Arten von Gläubigen. Die einen, die irgendeiner Religion angehören (meißtens, weil die Eltern das auch schon waren und das halt einfach fortgeführt wird) und für die die Religion eigentlich mehr ein gesellschaftlicher Treffpunkt ist, denn eine Lebensweise.
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Die zweite Art sind dann wiederum das krasse Gegenteil. Gläubige, die nichts auf ihre Religion kommen lassen. Jedwede Kritik im Keim ersticken und für sich die allgemeine Wahrheit gepachtet haben.
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Sicherlich gibt es noch eine Dritte Gruppe, die aus Hoffnung, Trauer oder Verzweiflung wirklich glaubt oder versucht zu glauben. [...] Obwohl da jede Form des selbstkritischen Hinterfragens völlig Flöten gegangen ist.
Ich würde sagen, dass Gruppe 1 tatsächlich den Löwenanteil der meisten religiösen Menschen ausmacht. Wobei dies meiner Erfahrung nach bei jeder Gruppe auftritt, die ein bestimmtes Weltbild oder eine bestimmte Ideologie gemeinsam haben. Genauso wie die meisten sich keine Gedanken über ihren Glauben in der christlichen Szene machen, werden auch die meisten, die sich als nicht-gläubig bezeichnen, bloß deshalb nicht an einen Gott glauben, weil Gedanken über diese Materie keinen dominanten Platz in ihrem Leben haben.
Und diese zweite Art von Religiosität stellt dann die andere Extreme dar (das wären im Vergleich dann jene Atheisten, die zu einem öffentlichen Treffen christlicher Teenager gehen und diese mit Glasflaschen bewerfen).
Ich denke, dass dies immer die Gruppen sind, die am meisten auffallen, wenn man sich nicht innerhalb der eigentlichen Szene befindet. Entweder der Löwenanteil, der völlig oberflächlich ist, oder der extreme Kern, der halt auffällt, da positives Verhalten für gewöhnlich als selbstverständlich gilt und daher übergangen wird.
Dennoch halte ich dies für ein verzerrtes Bild, da es immer noch einen großen Teil gibt, den man nicht erfasst. Auch deine dritte Gruppe finde ich da unbefriedigend, solche gibt es sicher auch, aber das auch dort die Selbstreflexion fehlt, zeichnet schon ein Bild von Religion, dass selbstkritisches Hinterfragen ausschließt (da Selbstkrik für Gruppe 1 unwichtig und bei Gruppe 2 nicht vorhanden ist), was imho nicht richtig ist. Denn ist gibt in jeder Gruppe Leute, die keine Selbstkritik auf sich kommen lassen.
Ich würde sagen, dass ich viele Menschen kenne, von denen ich sagen würde, dass sie einerseits selbstreflektiert, andererseits aber auch authentisch glauben und Kritik ernst nehmen. (Wobei ich aber aus einem protestantischen Akademikerghetto komme und solche Leute weniger in einem texanischen Dorf nebst einer vor drei Jahren gegründeten Megachurch finden würde)
Vielleicht könnte man verschiedene Skalen einführen. Das sich Gläubige in ihrem Grad an (1) Selbstreflexion und Kritikfähigkeit und (2) dem persönlichen Stellenwert ihrer Religion unterscheiden.
Deine erste Gruppe hätte in (2) einen sehr niedrigen Wert, egal was für einen Wert (1) nun hat. Sie passt archetypisch in unsere Konsumgesellschaft. Dann haben andere einen sehr niedrigen Grad an (1) und einen sehr hohen an (2), was dann deiner zweiten Gruppe entsprechen würde. Die Gruppe Nummer drei hat dann einen höheren Grad an (1), der sie zwar bereits sozialfähig macht, aber in einem naiven Glauben belässt, was aber eventuell aufgrund der intellektuellen Möglichkeiten bei jenen Individuen vielleicht auch nicht besser geht.
Dass ein niedriger Grad an (2) nicht unbedingt zur Authentizität beiträgt und, dass man da eventuell auch nicht mehr von einem religiösen Menschen sprechen würde, sehe ich ein.
Dennoch würde ich sagen, dass ein hoher Wert bei (1) nicht zwangläufig einen niedrigen bei (2) bedingt. Nur dass der Wert (1) in unserer Welt bei den meisten Menschen ruhig höher sein dürfte (unabhängig von ihrem Glauben) und Religiösität nicht mit einem niedrigen Wert in (1) korreliert.
Ein hoher Grad an (1) sorgt dafür, dass man eben nicht annimmt, die Wahrheit für sich allein gepachtet zu haben und aufgrund der eigenen Fehlbarkeit auch Menschen anderer Glaubensrichtungen respektieren kann, dennoch seine Glaubensüberzeugung als wahr ansieht (auch mit der Bereitschaft, sie im Falle neuer Erkenntnisse zu modifizieren).
Wenn ich dich richtig verstehe, hältst du es für unglaubwürdig, dass ein religiöser Mensch hohe Werte in (1) haben kann, zumindest betrachtest eine solche Gruppe nicht bzw. aufgrund deiner Kommentare zu meiner Gruppe idealer Gläubiger (die sich durch ein hohes Maß an 1 und 2 auszeichnen) scheinst du ihre Existenz für utopisch zu halten.
Ich würde aufgrund meiner Erfahrung aber sagen, dass es aber solche Menschen gibt und nicht wenige. Diese "vierte Gruppe" dürfte zusammen mit deinen Gruppen eins und drei auf jeden Fall haushoch über deine Gruppe 2 dominieren. In unserem Kulturkreis dürfte Gruppe 2 sogar ziemlich klein, fast schon vernachlässigbar sein.
Nur ist es eben so, dass aggressive und äußerst dumme Verhaltensweisen hervorstechen, während man einen halbwegs zumutbaren Grad an (1) schon für selbstverständlich hält und daher nicht wahrnimmt.
Für die Gesellschaft problematisch sind meines Erachtens nur jene, die sehr niedrig in (1) und gleichzeitig seht hoch in (2) sind. Also deine Gruppe Nummer 2.
Allerdings umfasst sie nur einen kleinen Ausschnitt der religiösen Menschen und man muss auch betrachten, dass aggressives und zerstörerisches Verhalten nicht unbedingt aus der Religion gewonnen wird, diese aber super daraufgesetzt werden kann. Und man muss festhalten, dass bei einem hohen Grad von (1) vielleicht die Chance besteht, dieses Verhalten zu hinterfragen und zu ändern.
Daher verstehe ich es nicht, warum man gegen die Religion generell kämpft, anstatt sich für eine höhere Kompetenz im Bereich (1) einzusetzen. Warum sollen wir christlichen Religionslehrern Unterrichtsverbot erteilen, in der Hoffnung, dass sich nicht deren Weltanschauung auf die Schüler überträgt (was aber gleichzeitig impliziert, dass sich das Nicht-Überzeugtsein der Alternativlehrkräfte auf die Schüler übertragen soll), anstatt Lehrer zu fordern, die generell über ein hohes Maß an Kompetenz in (1) verfügen, unabhängig ihrer Religiosität? Da es generell ein Ziel der Schule sein sollte, die Schüler zur Kritik und Selbstreflexion zu erziehen, wäre dies doch viel angebrachter - außerdem kann man an den Universitäten dahingehend auch die Ansprüche bei der Lehrerausbildung legen. In jedem Fach ist ein Lehrer mit einem geringen Grad an (1) nicht zu gebrauchen. Auch ein Politiklehrer, der die Schüler die ganze Zeit von der Unfehlbarkeit eines "linksorientierten Anarchismus" überzeugen will, ist fehl am Platz.
Natürlich nur unter der Prämisse, dass (1) und (2) unabhängig voneinander sind und sich nicht ausschließen. Aber davon gehe ich aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen aus.