Das Jahr ist noch jung, als am 18. Januar 2012 mein erster Verriss eines Spieles erscheint. Blauäugig hatte ich beim Testmuster zu Julia - Innocent Eyes zugegriffen und erlebte furchtbare Stunden vor dem PC. Denn ein Spiel, zu dem ich einen Test schrieb, durfte nicht abgebrochen werden. Das war eine Regel, die zwar oftmals zu einem fast schon masochistischem Verhalten führte, die ich aber wegen eines moralischen Anspruchs in sieben Jahren nie gebrochen habe. Ich belohnte mich selbst, indem ich den Titel genüsslich auseinander nahm. Das kam nicht nur in der Redaktion, sondern auch bei den Lesern gut an und entschädigte mich ein wenig für die verlorene Lebenszeit.
Dass nur einen Tag später gleich der nächste Test erschien, lässt erahnen, welche Priorität das Studium bei mir genossen hat. Da mein erklärtes Ziel aber ohnehin ein Job im Journalismus war, wertete ich die Arbeit für den Treff einfach als wichtige Vorbereitung und das Gewissen war beruhigt. Gerade nach Julia überraschte mich Lume - Part 1 durch seinen liebevollen, handgemachten Stil und seine schönen Rätsel. Parallel spielte ich bereits am nächsten Titel: Deponia. Dieses rotzfreche, auf so vielen Ebenen bewusst unkorrekte Spiel traf damals genau meinen Humor und setzte Daedalics Erfolgsgeschichte fort. Durch das klassische Comedy-Adventure mit all seinen abstrusen Rätseln und Wendungen wurde das Genre lebendig wie seit langem nicht mehr; und dank inzwischen groß gewordener Streamer über die engen Grenzen der Adventure-Community hinaus bekannt. Zum ersten Mal zückte ich eine Gold-Wertung. Platin verpasste der Titel nur knapp, weil er ein offenes Ende hatte und zur Veröffentlichung nicht klar war, ob es definitiv eine Fortsetzung geben würde. Und ein zweites Vampyre Story wollten wir nicht sehen.
An Deponia finde ich den Alterungsprozess sehr spannend. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich es heute noch empfehlen würde. Sicherlich, Humor ist immer Geschmackssache. Über einige Gags denke ich jedoch heute anders und finde sie nicht mehr besonders glücklich. Und auch das explodierende Inventar, die vielen, zunächst unübersichtlichen Schauplätze und die zum Teil sehr schweren und auch etwas kruden Rätsel würden mir heute vermutlich viel von meiner Motivation nehmen. Allerdings fehlt mir auch der Ansporn, es auszuprobieren.
2012 war auch ein Jahr, indem ich viel für den Treff unterwegs war. Ich besuchte die Cranberry Studios, die The Lost Chronicles of Zerzura zeigten, sah Jack Keane 2 bei Deck13 und schaute nur zwei Monate später bei Crimson Cow vorbei, die Der Fall John Yesterday komplett spielbar präsentierten. Eigentlich sollte die Veranstaltung einen ersten Einblick geben, doch wir waren so gefesselt, dass wir den gesamten Titel innerhalb von fünf Stunden durchspielten. Ohne es zu wissen, sah ich alle drei Studios zum letzten Mal, denn sie brachten keine Adventures mehr heraus. Die Konsolidierung der Branche setzte mit voller Wucht ein. Es war wieder schwierig, mit aufwendigen, hochwertigen Produktionen genug Geld einzuspielen. Ohne dass wir es damals wirklich mitbekommen hätten, hatte ein schleichender Prozess begonnen, den Ragnar Tornquist auf der AdventureX 2018 äußerst treffend beschreiben würde: Das Adventuregenre verlor seine Exklusivität. Tiefgehende Geschichten tauchten in immer mehr Genres auf, selbst Shooter versuchten sich an komplexeren Erzählungen. Es half auch wenig, dass viele verbliebenen Adventurefans Neuerungen, ein höheres Spieltempo, kürzere Erzählungen und actionreichere Titel rundweg und lautstark ablehnten: Letztlich waren es dann auch zu wenige, um die Nische in der bestehenden Form zu retten.
Besonders spannend war hierbei Der Fall John Yesterday. Beim Pressetermin vor Ort konnten Bene und ich wie erwähnt bereits den gesamten Titel durchspielen - und waren hellauf begeistert. Eine spannende, wendungsreiche Geschichte, die trotz des Adventureformats mit einem unvergleichlichen Tempo erzählt wurde, konsequent Zeitfresser wie Laufanimationen über den gesamten Bildschirm eliminierte und nach etwa fünf Stunden dort aufhörte, wo auch der Inhalt der Geschichte nicht mehr trug. In unseren Augen war es die perfekte Modernisierung des Genres, denn wir beide sehnten uns schon länger nach kürzeren Titeln, die besser in die gestiegenen Anforderungen des Alltags passten. Meine Zeit war durch das Voranschreiten im Studium mit gleichzeitiger Arbeit beim Studentenradio begrenzt worden, auch wenn ich immer noch traumhaft viel davon übrig hatte. Tempo und Geschichte werteten wir so hoch, dass wir Der Fall John Yesterday schließlich Platin gaben. Eine bei den Lesern sehr umstrittene Entscheidung. Tatsächlich wurde ich später noch häufiger gefragt, ob ich den Titel inzwischen anders werten würde. Das ist nicht der Fall. Aber der Test zeigte deutlich, dass sich die Meinung der Tester und die der Leser, die kommentieren, stark auseinander bewegen können. Zum Teil wurden die Kommentare recht drastisch. Dass der Titel zudem floppte, schien den schärfsten Kritikern Recht zu geben. Aus Gesprächen unter anderem auf der Treff-Party weiß ich aber, dass es auch viele gab, die den Titel ebenso genossen haben wie ich und ebenfalls auf kürzere, dafür gut erzählte Titel hofften. Nur blieben diese Leser zum Großteil stumm. Eine Erfahrung, die wir als Redakteure noch häufiger machen würden: Zwar gibt es häufig sehr laute, sehr aktiv ihre Sicht vertretende Autoren im Kommentarbereich - sie bilden aber bei weitem nicht immer die mehrheitliche Meinung ab. Viele lesen still. Und bekanntlich ist eine Beschwerde schneller getippt, als ein simpler Zustimmungskommentar. Somit tappt man auch als Redakteur häufig im Dunkeln, was der eigentliche Konsens unter den Lesern wirklich ist. Zum Teil war ich noch nicht einmal sicher, ob Tests überhaupt gelesen wurden oder wie sie ankamen.
Meiner Motivation tat dies jedoch keinen Abbruch und ich lernte aus dem heftigen Widerstand, noch deutlicher transparent zu machen, welche Aspekte ich in meinen Tests aufgriff, wie sehr ich sie gewichtete und wie ich sie wertete. Um diese Zeit wurde auch in der Redaktion über die Notwendigkeit von Prozentwertungen diskutiert – und das auch nicht zum letzten Mal. Ich war immer Fan der wertungsfreien Gesamtbetrachtung, konnte aber auch gut verstehen, dass manche mit einem Blick auf Zahlen feststellen wollten, wie gut ein Spiel ist.
Es folgten elf weitere Tests in diesem Jahr. Besonders hervorzuheben ist dabei The Second Guest, das zwar mit sehr guten Sprechern, aber ansonsten nur wenig punkten konnte und sich zum Desaster für den noch jungen Publisher Headup Games entwickelte. Glücklicherweise kam es hier nicht zum Bankrott, denn als einer der wenigen Spieleverleger versorgen die Kölner Jungs Fans bis heute mit physischen Sammlerexemplaren ihrer Spiele und halten die Adventurefahne hoch, zuletzt mit einer Box. Daedalic überraschte mit dem zweiten Teil von Deponia, der nun die anvisierten 90% holen konnte. Maßstäbe setzte auch Amanita Design mit Botanicula. Hier wurde auch der einzige Testkommentar eines Prominenten veröffentlicht. Michael hatte Smudo zu seinem eigenen Adventure Price of Peril interviewt und erfahren, dass er ein großer Machinarium-Fan ist. Im Gespräch führte eins zum anderen und der Sänger erklärte sich bereit, zum Test beizutragen. Dass seine Meinung überhaupt nicht zu der in der Redaktion passte, weil sich Smudo von den Baumwesen so gar nicht angesprochen fühlte, machte diesen Umstand umso lustiger.
Grafisch besonders beeindruckend kam Memento Mori 2 daher. Hier testeten wir zum ersten Mal das Konzept des sogenannten redaktionellen Let's Plays. Ich spielte den gesamten Titel auf YouTube durch und erweiterte den Playthrough mit zahlreichen Hintergrundinformationen. Die Produktion war äußerst aufwändig, lohnte sich aber sehr. Jede der 28 Folgen übersprang die Marke von 2.000 Zuschauern.
Ein sehr seltenes Ereignis gab es beim Test zu Geheimakte 3: Fast die gesamte Redaktion steuerte einen Kommentar bei. Durchgefallen war der Titel aber bei allen.
Bei zwei Titeln langte ich naiverweise auch noch einmal ordentlich daneben: Society of the Serpent Moon und Captain Morgane waren eine Herausforderung. Es folgten also zwei neue Verrisse. Captain Morgane half dabei mit seiner katastrophalen Übersetzung auf der Schachtel sogar selbst mit, denn die musste ich nur unkommentiert an den Test anhängen, um noch einen Lacher zum Schluss mit einzupacken.
Rückblickend war 2012 im Adventurebereich auch ein Jahr voller spannender Experimente. Das größte davon: Alt Minds von Lexis Numerique. Ein Live-Adventure über das Internet, dessen Inhalte sogar im Netz auf zum Teil bekannten Seiten versteckt waren. Bei der Vorstellung auf der gamescom waren wir rundum begeistert. Leider scheiterte das mutige Experiment, denn längst nicht jeder Teilnehmer konnte jeden Abend dabei sein - was schnell für Frust sorgte.
Auch Double Fine wagte ein Experiment: Tim Schafer startete mit viel Brimborium die Kickstarter-Kampagne zum Double Fine Adventure, das später den Titel Broken Age tragen würde. Über 3,3 Millionen US-Dollar wurden eingesammelt. Versprochen wurde ein Adventure und eine Doku über das Entstehen. Es sollte nichts Geringeres als die Wiederbelebung des gesamten Genres sein. Dass das Genre sehr wohl die ganze Zeit am Leben gewesen war, darüber sahen viele bereitwillig hinweg. Viel wurde vom Adventure-Urgestein Schafer erwartet. Längst nicht alles konnte er erfüllen. Doch dazu später mehr.
Zunächst unbemerkt trat derweil Dear Esther eine Spielelawine los. Die komplexe, vielschichtige Erzählung gilt als Begründer der Exploration Adventures, die schnell den negativen Spitznamen Walking Simulators aufgedrückt bekamen. Für das Genre war es ein wichtiger Schritt, denn die neue Erzählform erweiterte die Titelvielfalt und ebnete vielen unabhängigen Entwicklern den Weg. Spannenderweise zeigte sich aber auch schnell, dass der neue Stil nur begrenzt auf Dauer überzeugen konnte. Aufgrund einer Vielzahl solcher Titel in den kommenden Jahren wurde zügig klar, dass das Konzept weitere Elemente brauchte, um attraktiv zu bleiben – weshalb schrittweise immer mehr Adventureelemente hinzugefügt wurden. Hier lässt sich auch sehr schön eine Entwicklung beim Treff nachvollziehen: Die ersten Exploration-Adventures liefen noch als "Über den Tellerrand"-Feature, wurden also nicht als Adventure eingeordnet und erst Jahre später mit einem regulären Test versehen.
Auf der gamescom gelang es uns im Team, durch bessere Arbeitsteilung viele Inhalte noch während der Messe zu bearbeiten und zu veröffentlichen. Der Arbeitsberg nach der Veranstaltung, dessen Bewältigung im Alltag uns 2011 noch viel Kraft gekostet hatte, entfiel fast vollständig. Zudem konnten wir zum ersten Mal auch Videozusammenfassungen der Messetage erstellen, die sehr gut ankamen. Aus einer Schnapsidee heraus entstanden die ersten drei Bonusszenen, die seitdem traditionell am Ende des Videos nach einer längeren Schwarzblende gezeigt wurden. Die Produktion wurde mit jedem Jahr aufwändiger – und die Inhalte immer abstruser. Bis heute habe ich keine Ahnung, ob irgendjemand die Bonusszenen überhaupt gesehen hat, geschweige denn, ob sie halb so lustig ankamen wie bei uns um 3 Uhr nachts im Hotel. Hier gibt es alle diese Szenen in einem Video zusammengefasst.
Ende des Jahres tauchte in München still und heimlich ein Vorbote der Escape- und Livegame-Szene auf: O.R.pheus, ein Kunstprojekt von Evelyn Hribersek. Sie hatte Bunkeranlagen angemietet und aufwändig ausgestattet. Mit einem Smartphone in der Hand stiegen die Teilnehmer für eine Stunde hinab in den Keller und erkundeten allein diverse Räume. An bestimmten Stellen wurde die Umwelt auf dem Handydisplay angezeigt - und Inhalte hinzugefügt, sodass beispielsweise plötzlich ein Mädchen durch den Gang lief. Eine bedrückende Soundkulisse und sorgsam ausgewählte Requisiten schafften eine enorm dichte Atmosphäre. Stück für Stück erkundete ich sehr vorsichtig die Räume und erschloss mir über die Videos und die Umgegung die unheimliche Geschichte des Ortes. O.R.pheus brachte mich an die Grenzen meiner Belastbarkeit. Selten habe ich mich in meinem Leben so gefürchtet. Neben der bedrückenden Atmosphäre und dem Unwissen, ob sich hier unten nicht doch jemand versteckte, war auch die Geschichte um eine verlassene Schönheitsklinik so inszeniert, dass sie unbewusste Ängste der Besucher ansprach - ohne je explizit mit Schockern zu arbeiten. Eine wahre Meisterleistung an psychologischem Horror. Noch ein Clou: Das Erlebnis wurde für zwei gebucht - die beiden Teilnehmer dann jedoch getrennt, ohne dies vorher zu wissen. Ich musste mich im Anschluss mit meiner Freundin austauschen, um die ganze Geschichte zu erfahren, denn nicht alle Räume waren für beide gleich. Bis heute ist O.R.pheus für mich das mit Abstand beste Live Game, das ich je gespielt habe. Auch wenn es mich zum Teil auch wirklich verstört hat und ich nach einer Stunde schweißgebadet die lange Treppe des Bunkers hinaufstieg. In einem hellen Café kam ich nach einer halben Stunde mit einer heißen Schokolade langsam wieder zu mir.
Von Escape Rooms sprach damals noch niemand, doch die Grundlagen waren mit dieser bahnbrechenden Installation perfekt gelegt.
Mit der Aussicht auf viele neue und spannende Adventures endete das Jahr. Das Genre schien lebendig, die Zahl der künftigen Titel unbegrenzt.
Hans Pieper
Adventure-Treff-Verein
IBAN: DE38 8306 5408 0004 7212 25
BIC: GENODEF1SLR