"Klein bleiben. Die besten sein. Kein Geld verlieren." - George Lucas' ursprüngliche Richtlinie für LucasArts
Während ihrer über 25-jährigen Geschichte hat die Game Developers Conference (GDC) diverse Podiumsdiskussionen zu Computerspielen abgehalten, um ein Forum für den Austausch über Spieldesign und -philosophie sowie über Ziele und Zukunft des Interactive Storytelling zu bieten. Auf der GDC 2014 aber gab es erstmals eine Podiumsdiskussion, die eine komplette Entwicklerfirma zum Thema hatte. Untersucht wurden Aufstieg und Fall eines der großen Adventurehersteller der 90er, LucasArts (vor 1990: Lucasfilm Games).
Die Podiumsdiskussion wurde moderiert von Noah Falstein, einem der ersten Spieledesigner, die George Lucas in den frühen 80ern anwarb, um eine Computerspielesparte innerhalb des rapide expandierenden Lucasfilm-Imperiums zu gründen. Als Referenz an seine aktuelle Anstellung als Chief Game Designer bei Google trug Falstein beim Moderieren eine "Google Glass"-Brille. Als Eröffnung fragte er ins Publikum, wie viele Teilnehmer schon mal ein LucasArts-Spiel gespielt hatten - fast alle Besucher klatschten oder hoben die Hand. Weitere Vortragende waren die ehemaligen Lucasfilm Games-Kollegen Steve Arnold, Peter Langston, David Fox und Chip Morningstar sowie die Adventure-Legende Ron Gilbert.
Die Podiumsdiskussion war nicht nur eine nostalgische Reise durch die Vergangenheit der Firma, sondern lieferte auch eine überzeugende Analyse, wie LucasArts zwar einerseits geschäftlich hochriskant agierte, andererseits aber ein Betriebsklima schuf, das Innovation und Kreativität förderte. Negative Aspekte wurden allerdings etwas stiefmütterlich behandelt: Der Niedergang und die Auflösung der Firma sowie die Gründe dafür wurden kaum erwähnt.
Ursprünglich wurde Lucasfilm Games als Abschreibungsobjekt konzipiert. Lucasfilm hatte bedingt durch den galoppierenden Erfolg von George Lucas' Filmmarken, insbesondere Star Wars und Indiana Jones, eine enorme Steuerlast zu tragen. Lucas konnte die Firmengewinne schmälern, indem er in seine eigene Firma reinvestierte, also gründete er unter dem Dach von Lucasfilm eine Computerfirma. Nach der Veröffentlichung des letzten Films der ersten Star Wars-Trilogie (Die Rückkehr der Jedi-Ritter) lenkte Lucas 1983 die Computersparte dahin, ein seiner Meinung nach möglicherweise revolutionäres, kreatives Umfeld zu erkunden: Computerspiele. Seine erste Amtshandlung war die Einstellung von Langston, der ein Team von Spielepionieren rekrutieren und führen sollte. "Ich wollte eine Umgebung schaffen, die Kreativität ermöglicht und fördert, nicht Marketing-Deadlines.", sagte Langston, "Ich habe versucht, dieses Team wie einen Zusammenschluss von Gleichberechtigten zu führen."
Lucasfilms erste Spiele, entwickelt für die eher einfachen Systeme Atari 800 und 5200, mögen nach heutigen Standards plump erscheinen - die klassischen Adventures für PCs entstanden erst deutlich später - aber damals warteten sie mit einigen interessanten technischen und ästhetischen Innovationen auf. Langston selbst schrieb 1984 die Musik für Ballblazer, und sie enthielt einen musikalischen Algorithmus, der jeweils akustisch untermalte, was in dem hektischen Arcade-Spiel auf dem Bildschirm passierte. Ein anderes Spiel aus dem Jahr 1984, Rescue on Fractalus, wartete mit außerirdisch anmutenden Fraktallandschaften auf, die man als Spieler mit seinem Raumschiff überfliegen konnte - und mit einer der ersten unerwarteten Plot-Wendungen der Spielgeschichte.
Nachdem Lucas Langston in der Spielesparte platziert und diese mit ausreichend Kapazitäten ausgestattet hatte, war seine direkte Beteiligung am Werdegang der Firma minimal. "Witzig an der Arbeit mit George war - wenn man ihm etwas präsentierte, schaute er sich irgendein Detail lange und intensiv an und sagte dann: 'Toll!', und das war's.", erinnerte sich Arnold, der von Langston direkt bei Atari abgeworben war, "Ein 'Toll!' aus ihm herauszukitzeln war ein gutes Ergebnis, wenn man vor George präsentierte."
Abgesehen von dem kurzen Sinnspruch in der Artikeleinleitung gab Lucas dem Team nur eine weitere Direktive mit auf den Weg: Sie durfte keine geschützten Marken der Filmsparte verwenden. "Uns wurde von Anfang an klar gemacht, dass wir keine Star Wars-Titel machen durften", erinnerte sich Fox, einer der ersten Vollzeit-Spieledesigner des Teams. "Ich war ganz schön angepisst - ich war zu Lucasfilm Games gegangen, weil ich ein Teil von Star Wars sein wollte!"
Diese Einschränkung wurde auf dem Podium allerdings als einer der Hauptgründe für den frühen kreativen Erfolg von Lucasfilm Games ausgemacht. Derartig limitiert war das junge Team gezwungen, aus dem Nichts komplett neue Welten zu erschaffen, die nicht an das Handlungsgerüst und das Erscheinungsbild bestehender Produkte gebunden waren. "Wir haben eine Arbeitskultur geschaffen, die auf Innovation ausgerichtet war. Lucasfilm hatte die Marke Star Wars, die Glaubwürdigkeit von Star Wars, den Star Wars-Franchise - wir mussten uns aber nicht innerhalb dieses Universums bewegen. Wir als Team operierten innerhalb einer superkreativen, technologisch versierten Firma und mussten unsere eigenen Erfindungen machen. Also entwickelten wir unsere eigenen Storys.", erinnerte sich Arnold.
Interessanterweise verursachte die Richtlinie, neues geistiges Eigentum zu schaffen, Spannungen innerhalb der restlichen Firma. "Was ich damals nicht wusste: Diese "Freiheit" hat anderswo in der Firma einiges an Eifersucht heraufbeschworen, weil wir unser eigenes Zeug entwickeln konnten, während die anderen echt kreativen und fähigen Kollegen gezwungen waren, nach Georges Vision zu arbeiten.", sagte Morningstar.
Das Podium verglich die Arbeitsatmosphäre in den frühen Lucasfilm-Games-Jahren mit der einer heutigen Indie-Firma für Spiele oder Filme. Die Videospieleindustrie steckte damals noch in den Kinderschuhen, und der Zwang, sich an Marktprognosen und demographischen Maßstäben auszurichten, war noch Jahre entfernt. Dadurch ergab sich für die Spieldesigner die einmalige Gelegenheit, reichlich zu experimentieren. „Da gab es halt diese Lizenzen, die die Leute mit George und Lucasfilm assoziiert haben und die jede Menge innovatives Storytelling beinhalteten. Und wir haben uns daran gemacht, das Storytelling umzusetzen für diese neue, interaktive Welt. Wir haben eine Menge Sachen entwickelt einfach nur, weil wir es durften.“, so Arnold.
Eins der interessantesten Experimente der Firma, wenn auch unter einem schlechten Stern stehend, war Habitat im Jahr 1986. Das Spiel wurde konzipiert zu einer Zeit, als der Begriff MMO (Massively Multiplayer Online) noch nicht mal erfunden war. Jahrzehnte vor Linden Labs Second Life konnten Spieler ihre Computer (z. B. den beliebten Commodore 64) über die damaligen einfachen und langsamen Modems mit einer virtuellen Cartoonwelt verbinden und diese gemeinsam erkunden. Habitat war eines der wenigen finanziellen Desaster in der frühen Phase von Lucasfilm Games, obwohl es seiner Zeit weit voraus war und heute noch wegen seiner ungewöhnlichen Ambitioniertheit gelobt wird. Allein der Gedanke daran, so große Datenmengen, wie sie Habitat benötigte, durch die vorherrschenden 300-Baud-Modems zu übertragen, wurde damals als völlig unmöglich betrachtet. „Wir wussten nicht, dass das nicht geht. Also haben wir damit angefangen, und irgendwie hat’s geklappt!“, so Morningstar, einer der Habitat-Designer, dem im Zusammenhang mit dem Spiel (fälschlicherweise) sogar ein Mitwirken bei der Erfindung des Begriffs „Avatar“ nachgesagt wird.
Mit der Zeit wuchs Lucasfilm Games, und zeitgleich entstanden neue Wege der Zusammenarbeit im Team. Viele Meetings fanden auf der Skywalker Ranch statt, etwas nördlich von San Francisco auf einer idyllischen Landzunge im Marin County. Dort entwickelte Steve Arnold den „Funativity-Quotienten“, mit dessen Hilfe bestimmt werden sollte, ob ein potenzielles neues Projekt weiterverfolgt werden sollte. Zentrale Fragestellung war, inwieweit ein Spiel, das den Designern Spaß bereitet, auch der anvisierten Zielgruppe Spaß macht. Das Spiel, das möglicherweise am meisten von dieser Arbeitsweise profitierte, war das erste Spiel, das Lucasfilm Games selbst veröffentlichte und das ihr erstes echtes Adventure war: Ron Gilberts und Gary Winnicks Maniac Mansion.
Die größte Innovation an Maniac Mansion war die SCUMM-Engine, die Adventures deutlich bedienbarer machte als der Textparser, der in den extrem populären und profitablen Adventures des Konkurrenten Sierra On-Line Standard war. „Meine prägendste Erinnerung an Maniac Mansion ist, dass ich fast gefeuert worden wäre, weil die Programmierung nicht vorankam.“, erinnert sich Gilbert, „Chip schlug dann vor, eine Skriptsprache zu entwickeln. Das schien mir eine bekloppte Idee zu sein, gerade auf einem Commodore 64. Er hat mich aber überzeugt, dass es klappen könnte, und hat dann beim Mittagessen einen ersten SCUMM-Compiler geschrieben. Das war echt beeindruckend. So entstand diese gesamte Adventure-Skriptsprache, die dann bekanntlich den meisten Lucasfilm-Adventures zu Grunde lag: Maniac Mansion, Zak McKracken, Monkey Island, Sam & Max und all diese Spiele. Das war unsere Arbeitsumgebung. Alle haben zusammengearbeitet.“
Nachdem die SCUMM-Engine 1987 in Maniac Mansion ihren ersten Auftritt hatte und 1988 Zak McKracken and the Alien Mindbenders erschien, wurde die Einschränkung, keine Lucasfilms-Lizenzen nutzen zu dürfen, endlich aufgehoben. Die neugewonnene Freiheit resultierte in der Entwicklung zweier Adventure-Klassiker, die in Lucasfilms lukrativem Indiana Jones-Universum spielten: Die Computeradaption von Indiana Jones and the Last Crusade sowie die Eigenentwicklung Indiana Jones and the Fate of Atlantis. Falstein fungierte bei beiden Spielen als Co-Designer.
1990 wurde aus Lucasfilm Games LucasArts, und aus ihren erfolgreichen Adventures wurden Legenden. Die Qualität der LucasArts-Adventures, ob Loom von Infocom-Koriphäre Brian Moriarty oder Gilberts Monkey Island-Serie, begann sogar Sierras beeindruckenden Produktkatalog zu überflügeln, auch wenn die Umsätze hinter denen von Sierra zurückblieben. Als aus dem Publikum Fragen an das Podium gestellt werden konnten, wurde Gilbert danach gefragt, wie die Konkurrenz mit Sierra sich auf LucasArts auswirkte. „Ihre Verkaufszahlen waren viel besser als unsere.“, entgegnete Gilbert, „King's Quest hat vielleicht zehn Mal so viele Einheiten verkauft wie Maniac Mansion. Wir hatten immer den Drang, besser zu sein als sie. Es lief aber alles auf freundschaftlicher Basis ab. Es gab sogar ein Baseballspiel LucasArts gegen Sierra, auf der Ranch – die Sierra-Jungs haben gewonnen. Der Erfolg von Sierra hat uns immer angetrieben, besser zu werden.“
Ein weiterer Adventurefan im Publikum sprach den Humor in den LucasArts-Adventures an und erkundigte sich, warum Humor in allen Spielen so eine große Rolle spielte. Gilbert: „Ich denke, Humor ist sehr wichtig für Adventures, weil man darin so viele lächerliche Dinge tut. Es ist gut für das Spiel, wenn man sich darüber lustig machen kann. In einem Comedyadventure kann man ein Gummihuhn mit einer Rolle in der Mitte mit sich herumtragen, und niemand stellt dumme Fragen. Wenn man dagegen ein ernsthaftes Spiel macht und so etwas merkwürdiges vorkommt, steht man gleich im Ruch der Unglaubwürdigkeit.“ Falstein referierte, dass das berüchtigte Gummihuhn lediglich das Resultat einer Brainstorming-Session mit dem Designteam von The Secret of Monkey Island war. Jemand schlug die schlussendliche Verwendung des Gummihuhn als Transportmittel vor, was so absurd war und so viel Gelächter hervorrief, dass allen sofort klar war, dass man diese Idee ins Spiel einbauen müsse.
„Das Großartige, das Besondere war, dass wir die Unterstützung des gesamten Lucasfilm-Teams hatten.“, sagte Fox, „Wenn wir ein Konzept für ein Spiel hatten, wurde es bei den Kreativen in der ganzen Firma rumgereicht. Das habe ich anderswo nicht oft erlebt, dieses Gefühl, von der ganzen Firma unterstützt zu werden.“
Fälschlicherweise wird der Höhepunkt von LucasArts' künstlerischen Erfolgen oft mit dem Ende des „Golden Age“ der Adventurespiele Ende der 90er gleichgesetzt. Tim Schafers Grim Fandango, ein Kritikerliebling, der für gewöhnlich eines der besten Adventures aller Zeiten genannt wird, wurde von der Öffentlichkeit als kommerzieller Fehlschlag wahrgenommen – zu Unrecht vielleicht, weil das Spiel sich in den Folgejahren noch gut verkaufte, aber der Anschein wird ja oft zur subjektiven Realität.
Als die Spieleindustrie immer lukrativer und turbulenter wurde und immer mehr Wettbewerber auftauchten, wendete sich LucasArts langsam von den experimentellen Wurzeln der Firma ab und konzentrierte sich fast ausschließlich auf risikoarme Unternehmungen, größtenteils basierend auf der Star Wars-Lizenz. So entstanden First-Person-Shooter, RTS-Spiele und sogar ein MMO. (Das Filmstudio zog nach und veröffentlichte eine ebenso uninspirierte Vorgänger-Trilogie.)
Die Spieleentwicklung wurde Anfang 2013 durch den neuen Eigentümer Disney eingestellt. Das GDC-Panel ging auf die Gründe für den Kollaps von LucasArts nicht tiefer ein, vielleicht da alle Teilnehmer mittlerweile längst für andere Firmen arbeiten. Stattdessen endete die Veranstaltung mit einer Diskussion darüber, was LucasArts in den 80ern und 90ern zu einem so einzigartigen Ort für Kreativität machte – und ob eine andere Firma diesen Geist heutzutage wieder aufleben lassen könnte.
„Einer der Vorteile, die wir bei LucasArts hatten, war, dass wir so eine Art „Indie-Spirit“ hatten.“, erinnerte sich Arnold, „Wir konnten in Ruhe ausprobieren, was Spiele interessant macht, oder spaßig, oder kreativ... Was ich heutige Firmen fragen würde ist, ob für so eine Art von Innovation Raum da ist. Raum, etwas neues auszuprobieren, statt Altbekanntes besser, härter oder schneller zu machen. WIR hatten damals die Chance zu sagen: Wir glauben, wir können das. Wir wissen nicht, ob's klappt, aber wenn es klappt, dann wird es die Arbeit wert sein.“
Damit endete die Podiumsdiskussion. Fazit: Diese eloquente und melancholische Grabrede auf die Firma, die die Teilnehmer mit aufgebaut haben, zeigte, wie wertvoll das Erweitern des Erwartungshorizonts in puncto künstlerischer Wert, künstlerischer Ausdruck und „Funativity“ sein kann.
Ruhe in Frieden, LucasArts.
Baldur Brückner (Übersetzung)
Scott Bruner (Autor)
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