Kein anderes Medium bietet jungen Freiberuflern und Startups so sehr die Möglichkeit sich selbst auszudrücken wie das Computerspiel. Wo Filmemacher oder Grafiker sich stets über Jahre im Werbemarkt herumschlagen müssen oder gar dort hängenbleiben, ist das Computerspiel als Werbemittel bereits seit Mitte der 90er so gut wie nicht existent. Allerhöchstens im Filmmarketing finden sich heutzutage noch Online-Werbespiele - und selbst dort bleibt die Werbebotschaft meist im Hintergrund und gibt Raum für ein hohes Maß an Eigenkreativität.
Die Chance, mit geringem finanziellen Aufwand einen Fuß in die Branche zu bekommen oder gar einen Internethit zu entwickeln, ist dabei umso größer.
Entwicklerstartups zeigen oft eine hohe Qualität und den unbändigen Willen, neue Erzählformen und Stilmittel auszuprobieren. Häufig in nur wenig ausgereiften Spielen - wie kleine Testplattformen, die zunächst herausfinden sollen, ob ein Spielprinzip zufriedenstellend funktioniert, um es dann in nachfolgenden Spielen weiter ausbauen zu können. Auch weil die Entwicklung eines Computerspiels deutlich mehr iterativ, also über Ausprobieren und das Bauen von Prototypen funktioniert als jede andere Kunstform.
So findet sich oft besonders bei jungen Firmen und Entwicklern der Hang zum Episodenspiel. Die Erstellung von Episoden, bei denen die erste eben häufig den Platz des Prototypen einnimmt, bietet die Möglichkeit, eine episch angelegte Erzählung zu entwickeln, ohne sich an der Projektgröße zu verzetteln.
Die hier vorgestellten Epsiodenspiele sollen die unterschiedlichen Arten des Häppchenerzählens widerspiegeln und Beispiele der Monetarisierung zeigen, die uns letztlich einen Fortbestand des Browser-Indiespiels sichern.
Das weiße Kaninchen als Auftragskiller, der verrückte Hutmacher mit perversen Intrigen im Königshaus, und zu allem Übel scheint es nun Alice dahingerafft zu haben. Wer dachte, Lewis Carrols Original wäre ein übler Drogenrausch, kennt dieses Spiel noch nicht.
Alice is Dead (Homepage) gelangte schon lange vor Fertigstellung der Serie zu Ruhm - auch weil es auf die Unterstützung einer regen Community bauen konnte. Entstanden als Gemeinschaftsarbeit mehrerer Nutzer des weltweit ersten Flashportals mit Userbeteiligung ‘Newgrounds.com’, aber in kreativer Hauptverantwortung von ‘Hyptosis’ und ‘ImpendingRiot’ entwickelt, profitierte es stark von der internen Verbreitung des Portals und wurde sogar von dessen Gründer Tom Fulp unterstützt.
Der kreative Pool ist es letztlich auch, was ‘Alice is Dead’ besonders auszeichnet. Auf den ersten Blick herausstechend ist das beeindruckende Artwork von Hyptosis, der sich seine ‘Newgrounds’-Sporen mit dem kniffligen Spiel Wayfinder (Homepage) verdiente, das ebenfalls als Episodenspiel angelegt ist und auf Hyptosis’ eigenem Comic selben Namens basiert. Der grafische Stil, in einer Mischung aus Dark Fantasy, Science Fiction und Film Noir, der auch in Hyptosis anderen Arbeiten und Webcomics wiederzufinden ist, bildet den Hauptgrund für die verstörende Atmosphäre von ‘Alice is Dead’.
Inhaltlich wurde das Spiel in enger Zusammenarbeit von Hyptosis mit Coder ImpendingRiot entwickelt, der den Entwicklungsprozess auf seiner Seite so ausdrückt: “Über den Daumen gepeilt kann man sagen, dass alles was im Artwork geschrieben wurde von Hyptosis stammt, und alles im Spieltext geschriebene von mir.”
So entstand einer der wichtigsten Charaktere der dritten Episode, Dr. Burr, als Ergebnis einer Grafik, die für ein Puzzle in Episode 2 gedacht war, aber so viele Fragen bei den Spielern aufwarf, dass sie in die Handlung integriert wurde.
Insgesamt ist ‘Alice is Dead’ ein gutes Beispiel für den improvisierten Produktionsprozess, der häufig bei in Heimarbeit entstandenen Episodenspielen zu finden ist. So wurden die wichtigsten Handlungsfäden zu Anfang festgelegt, Storydetails aber im Verlauf der Entwicklung organisch eingearbeitet. Dies hat zur Folge, dass die erste Episode zwar ein ansprechendes Puzzlegameplay zu bieten hat, allerdings eine etwas magere Handlung - die folgenden Episoden sich dafür umso mehr in der komplizierten Geschichte verstricken. So sehr, dass ImpendingRiot sich auf seiner Homepage genötigt sah, nachträglich Erklärungen zum Ablauf der Handlung zu geben.
Dennoch zeigt das Spiel in seiner Gesamtheit, wie Artwork, Soundtrack und die detailverliebte Handlung zu einer beeindruckenden Hobbyproduktion zusammenfinden können, die manchen Profientwickler in die Kreativitätsschranken verweist.
Dass ‘Newgrounds’ mehr als eine Freizeitbeschäftigung ist, zeigt Jay Ziebarth alias Zeebarf mit seiner Firma ClickShake-Games, die er gemeinsam mit Kollege Steve Castro alias EntropicOrder gegründet hat.
Zeebarf erstellte 2001 gemeinsam mit ‘Newgrounds’-Gründer Tom Fulp sein erstes Spiel, auf das einige weitere in der gleichen Kollaboration folgten. Simple Spielprinzipien (denn Fulp ist zwar visionär mit seinem Portal, aber in der Spieleentwicklung nicht an der vordersten Kreativfront), die dank der humorvollen Grafik punkten konnten. 2007 beschritt er mit The Visitor (Homepage) und seinem ganz eigenen Ansatz für Point-and-Click-Gameplay Solopfade, und schuf so den Grundstein für ein ganzes Universum. Das wurmartige Alienwesen, das Hauptcharakter und Titelgeber ist, zieht sich danach wie ein roter Faden durch Zeebarfs Spielekreationen.
Was zunächst mit Journeys of Reemus als Einzelspiel angelegt war, wurde später mit Entstehen der ‘Reemus’-Reihe (Homepage) in Prologue umgetitelt, und übernahm den ‘Visitor’-Wurm als zentrale Gefahr. Dabei hat Reemus nicht nur in der Spielrealität, sondern auch im Entwicklertagebuch eine erstaunliche Reise hinter sich.
War der Prolog noch ein in wenigen Räumen erzähltes Logikrätsel, und im Spielprinzip noch sehr ähnlich zu ‘The Visitor’, wuchs sich die Serie danach zu einer epischen Ballade aus. Angereichert mit aufwändigen Zwischensequenzen, von Episode zu Episode breiter angelegt (so ist der alternative Lösungspfad in Folge 3 fast ein eigenständiges Spiel), und im Gameplay sprunghaft wechselnd, wirkt es fast so, als wollte der Entwickler alle Möglichkeiten austesten, die ihm das Genre zu bieten hat.
‘The Several Journeys of Reemus’ lebt vor allem durch die niedliche Präsentation, in der sich unerwartete Grausamkeiten und Splatterelemente verbergen, und durch den kauzig trockenen Humor, der die epische Breite der Geschichte schon im Entstehen bremst und durch Selbstironie ersetzt.
Leider fehlt den Helden der letzte Schliff in der Charakterisierung. Erscheinen sie auf den ersten Blick als das Duo des tumben Helden, der seine Probleme eher unbeholfen durch Gewalt zu lösen versucht, und seines schlauen aber im Hintergund stehenden Helferleins, werden doch am Ende zu viele clevere Puzzles gemeinsam gelöst, ohne dass dabei die Attribute der beiden Figuren richtig zur Geltung kommen. Zu einem ‘Sam and Max’ reicht es also nicht. Aber das wäre auch eine zu hohe Messlatte.
Mit der 4. Episode, obwohl die Geschichte unvollendet ist, kommt die Serie wenigstens vorläufig zu einem Ende. Denn ClickShake-Games will nicht im Hobbykeller verenden. Nach Gründung der Firma und diversen kleineren Auftragsarbeiten gehen die beiden Entwickler mit Ballads of Reemus (Homepage) einen Vollpreistitel an, und sind damit der beste Beweis, dass man mit Geduld und genügend Mund-zu-Mund-Referenzen den Sprung ins Profibusiness schaffen kann.
Wie es dort im Bereich Episodenspiel aussieht, zeigt bis heute eindrucksvoll das kanadische Entwicklerteam von Sarbakan. Mit “Bite-Size AAA Games”, wie das Unternehmen seine Spiele nicht ohne eine Spur Humor nennt, hat Sarbakan den Trend schon vor Beginn des neuen Jahrtausends erkannt, und konzentrierte sich stark auf den neu entstandenen Markt der Web- und Handheld-Games.
So wurde bereits 1999 das Episodenspiel ‘Arcane’ als Auftragsarbeit für Warner Brothers entwickelt, die damals auf der Suche nach neuen Marken waren, und das Internet als den richtigen Markt dafür erkannten. Arcane, das mit ‘The Miller Estate’ und ‘The Stone Circle’ zwei Staffeln umfasst, begann als Eigenproduktion mit schmalem Budget und deutlichen Limitierungen durch die Bandbreite - die damals noch einen entscheidenden Nachteil darstellte -, brachte es durch den Einstieg Warners aber auf eine beachtliche Verbreitung.
Liebevoll ‘Online Mystery Serial’ genannt, ist es tatsächlich einerseits eine Hommage an die filmischen Serials der 20er und 30er Jahre und andererseits, durch die Verbundenheit an die Filmstruktur, eine ganz und gar entgegengesetzte Erfahrung von den gewohnten ‘improvisierten’ Episodenspielen. Bei ‘Arcane’ ist jede Spielminute vorher durchdacht. Jede Episode funktioniert nach dem gleichen Muster, bietet dabei aber einen konstanten Spannungsbogen. Auch weil die Geschichte, in der drei paranormale Ermittler in ein Lovecraftsches Universum gesogen werden und gegen den bösen Cardinal antreten müssen, der die großen Alten zurück auf die Erde bringen will, genug epische Breite zu bieten hat, um für die, dem Genre durchaus angemessenen, Trashmomente zu entschädigen.
Creative Director - und zum damaligen Zeitpunkt Gesellschafter von Sarbakan - Richard Vallerand war durchaus bewusst, dass ‘Arcane’ spielerisches Neuland betrat: “Ich würde nicht sagen, dass wir uns revolutionär fühlten, aber wir wussten, dass ‘Arcane’ ziemlich innovativ für den Online-Markt war. Es gab zu dieser Zeit einfach noch nicht viel im Netz. Wir waren sicher nicht die ersten, die episodische Inhalte anboten, aber ich denke wir waren die ersten, die Interaktivität in die Animationen brachten, und Flash als Plattform für Spieleentwicklung sahen.”
Irgendwann verlagerte Warners Online-Abteilung den Fokus auf andere Marken, und ließ ‘Arcane’ verwaist zurück. Die verbliebene Fangemeinde ist leider nicht stark genug, um die Serie zu reanimieren. Sarbakan aber arbeitete weiter an innovativen Episodenspielen. So erschien 2007 die auf der selben Spielmechanik basierende Reihe Nightmares - the Adventures (Homepage), für die der bekannte Comiczeichner Djief Bergeron das Tim-Burtoneske Gamedesign beisteuerte, und die sich, obwohl für ein jüngeres Publikum gedacht, nicht vor ‘Arcane’ zu verstecken braucht.
Die Zeit ist knapp bemessen, aber es muss reichen, um neben den oben besprochenen Musterbeispielen einige ‘must plays’ kurz vorzustellen.
Foreign Creature (Homepage) ist ein zweiteiliges Episodenspiel von Belugerin Studios, das in der Spielmechanik deutlich von Zeebarfs ‘The Visitor’ inspiriert ist, sich aber durch den grafischen Stil und die deutlich erwachsenere Atmosphäre genügend absetzt, um kurzweilige und bösartige Unterhaltung zu bieten.
Gretel and Hansel (Homepage) ist eine bislang noch unvollendete Reihe vom ‘Newgrounds’-Portal, die besonders durch das wortlose Gameplay besticht, in dem Interaktionen durch in die Grafik eingepasste Piktogramme angezeigt werden. Neben der ein oder anderen schweren Kopfnuss, bereitet es vor allem Vergnügen, die zahlreichen Todesszenen zu erleben, die den Spieler sofort wieder zum Anfang der gleichen Szene springen lassen, und so keine Hürde darstellen.
Belial (Homepage), ein Spiel von Keybol, der sich nebenbei auch mit der Johnny Why-Serie (Homepage) einen guten Ruf aufgebaut hat, ist zwar ebenfalls noch unvollendet, verspricht aber durch den zunehmenden Umfang der Episoden und den starken Cliffhanger ein episches Finale. In der bislang dreiteiligen Reihe spielt ihr den Sohn Satans, und müsst versuchen, den Thron der Hölle zu übernehmen.
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