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Test

von  Jan "DasJan" Schneider
18.05.2005
Still Life
Getestet auf
  • Windows
  • Xbox
, Sprache Deutsch
88%

Die Akte Syberia ist geschlossen, mit der Special Edition wandern letzte Einheiten zu nennenswerten Preisen über die Ladentheke und Comiczeichner Benoît Sokal hat Microïds längst verlassen, um mit seiner eigenen Firma neue Welten zu erschaffen. Still Life zeigt jetzt, was das Entwicklerteam von Microïds ohne die künstlerische Leitung von Sokal zustandebringt. Gleichzeitig wird das neue Adventure der Kanadier wohl auch das letzte sein, ein Abschluss, denn zwischen Ubisoft und EA konnte sich die Firma nicht als eigenständiger Entwickler behaupten und wurde im März von Ubisoft geschluckt.

Rüstiger Opa

Die Handlung von Still Life teilt sind in zwei parallele Stränge auf, die sich gegenseitig abwechseln und sich 75 Jahre und viele tausend Kilometer voneinander entfernt abspielen. Im heruntergekommenen Prag des Jahres 1929 schlüpft der Spieler in die Rolle des Privatdetektivs Gus McPherson, den einige sicher noch aus dem Vorgänger Post Mortem kennen. Er untersucht eine brutale Serie von Morden an Prostituierten, die alle gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Dabei stößt er unter anderem auf den Widerstand von einem wenig kooperativen Polizeichef und zwei minderbemittelten, aber schlagfertigen Brüdern, die Gus nichts Gutes wollen.

Chicago 2004. Gus' Enkelin Victoria McPherson hat sich wie ihr Großvater ebenfalls der Verbrechensbekämpfung verschrieben. Die toughe FBI-Profilerin ist mit ihrem zweiten Serienkiller-Fall beauftragt worden und untersucht im Prolog bereits den vierten Tatort. Bald bermerkt sie Ähnlichkeiten dieser Mordserie mit den Vorfällen, die Gus in Prag untersucht hat und indem sie dessen Aufzeichnungen studiert, versucht sie auf die Spur des Killers zu kommen. Keine ungefährliche Arbeit, wie sie bald feststellen muss...

Starke Figuren

Wer in der abgeklärten FBI-Agentin und dem auf Vorschriften pfeifenden Privatdetektiv flache Stereotypen erwartet, wird erfreut sein, dass Microïds beiden Figuren einen glaubwürdigen Charakter verliehen hat. Zwar steht meistens die Jagd nach den Mördern im Vordergrund, doch nimmt sich Still Life auch Zeit, die Privatleben von Gus und Victoria zu beleuchten – Gus' Liebe zu einer Prostituierten und Victorias Umgang mit ihrem Vater und ihrem Lebensgefährten. Auch im „Prelude“, dem das Spiel begleitenden Online-Rätsel, werden einigen Charakteren aus dem Spiel schärfer umrissen.

Still Life ist über weite Teile ein spannender Thriller, der zum Beispiel vom Film „Sieben“ inspiriert wurde. Das starke visuelle Konzept und einige spektakuläre Zwischensequenzen bedingen die ungemein dichte Atmosphäre und erheben den maskierten Killer zur allgegenwärtigen Bedrohung. Dafür sorgen auch die vielen Leichen, die dem Spieler unbeschönt und unbedeckt zugemutet werden – doch anders als z.B. in „Midnight Nowhere“ geht es hier nicht um einen kalkulierten Tabubruch, der Schwächen des Spiels verbergen soll, hier sind die drastischen Bilder integraler Bestandteil der Handlung und dafür verantwortlich, dass man sich noch lange nach dem Abspann an die charakteristische Silhouette des mysteriösen Widersachers erinnern wird.

Spielmechanik

Die meisten Rätsel im Still Life sind eher einfach gehalten. So dürften sich auch Anfänger nicht überfordert fühlen und große Teile des Spiels frustfrei überstehen. An einigen Stellen haben die Entwickler logische Knobeleien und Schiebepuzzles zwischen die unterhaltsamen, aber wenig komplexen Inventarrätsel gestreut. Die sind meist originell ausgewählt und eine fordernde Abwechslung, doch sind einige dieser Einlagen deutlich über dem Schwierigkeitsgrad der restlichen Rätsel, was gerade bei weniger erfahrenen Spielern dann doch ein oder zwei Frustmomente hervorrufen kann. Insgesamt wirkt nur ein Rätsel im Spiel völlig deplatziert – ein ärgerlicher Ausrutscher, der einer spannende Phase massiv das Tempo nimmt.

Dem Point&Click-Prinzip von Syberia haben die Entwickler ein paar Modifikationen gegönnt. So ist es nicht möglich, nach Belieben Inventargegenstände mit der Umgebung zu kombinieren. Vielmehr erscheint ein „Benutze“-Symbol in der Szenerie, wenn Victoria an einer Stelle vorbeigeht, an der sie etwas benutzen kann. Dann muss nur noch das an dieser Stelle passende Objekt im meistens kleinen Inventar ausgewählt werden. Das macht die Rätsel zwar einfacher, erspart aber am Ende nur unnötiges Pixelhunting und nervige Ausprobierorgien wie in Tony Tough.

Auch an dem Dialogsystem hat Microïds gefeilt. Wenn Victoria etwas sagen muss hat der Spieler zwei Möglichkeiten: Mit der linken Maustaste fragt sie gezielt nach dem, was sie gerade wissen will, um zügig voranzukommen, mit der rechten Maustaste führt sie ein wenig Smalltalk über Themen, die gerade nicht im Mittelpunkt stehen. Freunde der verzweigten Dialogstrukturen der guten alten LucasArts-Tage wird das vielleicht Zahnschmerzen bereiten, doch werden auch mit dem neuen System alle Geschmäcker bedient: Diejenigen, die nur schnell etwas wissen wollen und diejenigen, die schon immer alle Dialoge durchgeklickt haben. Letzteren wird jetzt lediglich erspart, etliche Dialogzeilen x-mal hören zu müssen.

Intensive Bilder

Dass die Hintergrundgrafiker von Microïds zu den besten 3D-Künstlern gehören, die in letzter Zeit das Adventure-Genre bedient haben, konnten sie schon eindrucksvoll mit dem Syberia-Doppel beweisen. Auch in Still Life überzeugen sie wieder mit fantastischen Bildern (wenn auch nur in 800x600), die auch ohne Benoît Sokal mehr Kunst denn Kulisse sind. Das völlig heruntergekommene und unverschämt detailliert modellierte Prag der Dreißigerjahre wirkt in seinen abgenutzten brau-grauen Farbtönen wie aus einem vergilbten Fotoalbum, während gleichzeitig durch die ganze Stadt ziehende Nebelschwaden für Bewegung im Bild sorgen.

Die ansprechend modellierten 3D-Charaktere fügen sich hervorragend in die Szenen ein, was nicht nur an der Kantenglättung liegt, sondern auch an den dynamisch berechneten Schattenwürfen, die sich glaubhaft in die Hintergründe legen. Leider funktioniert die Lippensynchronität bei einigen Charakteren nicht, was zu skurrilen Mundbewegungen führt. Die 3D-Modelle der Figuren sind aber abgesehen von gelegentlichen Grafikfehlerchen an Victorias Frisur sehr gut gelungen.

Etwas farbkräftiger geht es da schon im verschneiten Chicago der Gegenwart zu. Von dem abgebrannten Appartement abgesehen, das man bereits in der Demo bewundern darf, dominieren hier zumindest oberflächlich intakte Heile-Welt-Locations wie die modernen FBI-Büros oder das heimelige Zuhause von Victoria, wo ihr Vater den Chicagoer Winter vor dem warmen Kamin verbringt. Anders als in Prag, wo Gus McPherson in den abstoßenden Straßen Prags und der Kanalisation darunter direkt in den Gefilden seines Gegenspielers operiert, verlässt seine Enkelin ihre intakte Welt nur selten. So bilden die beiden Hälften des Spiels nicht nur optisch zwei reizvolle Gegenstücke, die sich hervorragend ergänzen.

Hollywoodreif

So detailreich, wie die meisten Hintergründe gerendert sind, so genial sind die vielen Zwischensequenzen inszeniert. Während einige durch ihr starkes visuelles Konzept, den stilisierten Mörder und eine imposante musikalische Untermalung gerade zart besaiteten Seelen nicht so schnell wieder aus dem Kopf gehen sind andere wiederum spannend wie ein Hollywoodfilm. Zum Glück lassen sich alle bereits gesehenen Zwischensequenzen aus dem Hauptmenü erneut abrufen, wovon bei Still Life wohl so oft Gebrauch gemacht werden wird wie selten zuvor.

Einen besonderen Leckerbissen für alle Kunstfans bieten die zahlreichen Ölgemälde, die überall im Spiel an den Wänden hängen – besonders natürlich in der Galerie in Chicago – und eigens für Still Life von einem Künstler angefertigt wurden. Einziger grafischer Wermutstropfen: In manchen Szenen erkennt man bei genauen betrachten Kompressionsartefakte in den Hintergründen. Vielleicht hätte man hier einige Bilder schwächer komprimieren sollen.

Wirkungsvolle Musik

Wer die Demo von Still Life kennt, der wird sich vermutlich an den kräftig-poppigen Opernsound des Intros erinnern. Ähnlich kraftvoll sind auch einige andere Zwischensequenzen vertont. Im Spiel selber hält sich die Musik dezent im Hintergrund und überlässt oft ganz der sehr stimmungsvollen ambienten Soundkulisse den Vortritt. Auch an den Soundeffekten gibt es nichts zu bemängeln, sodass Still Life auch für die Ohren ein Fest ist. Erst durch die akustische Untermalung wird die dichte Atmosphäre zu dem, was das Spiel auszeichnet.

Es bleiben die Stimmen. Schon Syberia wurde für diesen Aspekt mehr kritisiert als gelobt und so war Skepsis angesagt als bekannt wurde, dass für Still Life dasselbe französische Team engagiert wurde. Und tatsächlich sind die Sprachaufnahmen auf einem ähnlich durchwachsenen Niveau wie die frostigen Abenteuer der Kate Walker. Das ist kein Beinbruch, denn schlecht sind die meisten Stimmen nicht, doch hätte der großteils exzellente Rest des Spiels einfach viel Besseres verdient. Etwas irritierend ist die Tatsache, dass Victoria McPherson von derselben Sprecherin vertont wurde wie einst Kate Walker, doch schafft Andrea Schieffer es zum Glück, dem neuen Charakter auch gerecht zu werden. Und wenn man mal von einigen missglückten Zeilen absieht, dann hat sie insgesamt, genau wie der Sprecher des anderen Protagonisten, gute Arbeit abgeliefert.

Oberste Liga

Still Life gehört zu den besten Adventures der letzten Jahre. Eine so dichte Atmosphäre konnten nur Syberia, streckenweise Black Mirror und – für Myst-Fans – Myst IV aufbauen, doch erzählt Still Life noch zusätzlich eine hochspannende Thriller-Story um zwei Serienmorde mit auffälligen Parallelen. Die künstlerische Leitung hat bei Microïds auch ohne Sokal tadellos funktioniert, die Geschichte birgt überraschende Wendungen und durch die Zweigleisigkeit einen raffinierten Aufbau.

Doch hindern einige ärgerliche, teilweise problemlos vermeidbare Details auch Still Life daran, zum lange ausgebliebenen Überadventure zu werden. So ist die Rätselbalance nicht bis ins Detail geglückt, insbesondere das erschreckend unnötige „Keksrätsel“ stört. Die Spieldauer übersteigt die von Nibiru, ist aber trotzdem nicht besonders hoch und die Sprecher werden dem Spiel leider nicht ganz gerecht. Trotz dieser kleinen Macken bleibt Still Life ein tolles Adventure, das nicht nur unter Genrefreunden Fans finden könnte und ein heißer Kandidat für das Adventure des Jahres.

thumb
Vorsicht, Demo Wie schon bei Syberia 2 hat Microïds kein besonders glückliches Händchen bei der Auswahl des Demokapitels beweisen. Die Still-Life-Demo zeigt den Anfang vom Spiel, doch ist dieser nicht besonders aussagekräftig. Er vermittelt durchaus einen gutes Gefühl für die Atmosphäre des Spiels, doch dient es eher dazu, das neue Interface einzuführen, als dass es repräsentativ für das Gameplay wäre. Man bekommt darin ein wenig den Eindruck, dass man ständig Tatorte untersuchen und in alter CSI-Tradition Beweise fotografieren und Blutproben nehmen muss. Diese monotone Polizeiarbeit legt Victria nach dem ersten Kapitel aber ab. Wen dieser Aspekt also gestört hat, sollte sich davon nicht abschrecken lassen. Die Konsolenversion Neben der PC Version gibt es auch eine Ausgabe für die Xbox. Diese unterscheidet sich jedoch kaum von der PC-Version, ein paar Dinge sollten aber bekannt sein: Bedingt durch die niedrigere PAL Auflösung der Fernseher, ist natürlich nicht die Grafikauflösung eines PC-Monitors möglich - leichte Abstriche müssen hier hingenommen werden. Besonders die Schrift in den persönlichen Notizen leidet, diese oft längeren Texte sind auf dem Fernseher schwerer zu lesen als auf dem heimischen Monitor. Keine Abstriche müssen hingegen beim Sound gemacht werden: digitaler 5.1-Ton verwöhnt bei entsprechender Ausstattung des Spielers Ohren. Die Ladezeiten sind auch etwas länger als am PC, aber noch im grünen Bereich. Äußerst positiv ist auch die Steuerung zu vermerken. Nach kurzer Eingewöhnung funktioniert sie erstaunlich gut für ein Adventure auf der Konsole. Es gibt hier kein Point and Click, sondern nur eine direkte Charaktersteuerung. Interessante Dinge werden automatisch angezeigt und man läuft nicht Gefahr, etwas zu übersehen - also sogar eine Erleichterung gegenüber Point and Click. Bei mechanischen Rätseln wünscht man sich aber doch die Maus herbei, die Hitpoints beim bewegen des Cursors könnten besser gelegt werden. Für Abonnenten von Xbox Live gibt es noch das "Live Aware"-Feature, damit könnt ihr während des Spiels eure Freundesliste einsehen und eingeladen werden. Ein Multiplayerspiel selbst ist natürlich nicht möglich. Welche Version soll es nun sein? Für mich gibt es zwei klare Gründe für die PC-Version: zum einen der um 10 Euro günstigere Preis und zum anderen die bessere Grafik und damit besser lesbare Schrift. Für die Xbox-Version spricht das Spielen von der Couch aus und das sorgenfreie Spielen ohne Installation oder technischen Ärger.

Kommentar des Verfassers

Kommentare

detail

Was für eine Schande, dass dieses Team wohl so schnell keine Adventures mehr entwickeln wird. Und was für ein Unglück, das Still Life wohl in Absehbarer Zeit keinen Nachfolger erhalten wird. Ein tolles Spiel, das ich mit Freuden durchgespielt habe.

Redaktions-Wertung

Grafik
Musik
Steuerung
Atmosphäre
Rätsel

Gesamt

Pro
Contra
  • Geniale Cutscenes
  • Super Grafik
  • Hochspannende Handlung
  • Imposante Musik
  • Stilvolle Mörder
  • Interessante Hauptcharaktere
  • Enttäuschende Stimmen
  • Keksrätsel