Die Thüringer TML-Studios überraschen im Vorfeld mit einer für klassische Adventures untypischen Ankündigung: Die Inventarleiste wird komplett entsorgt. Zudem sollen unterschiedliche Lösungswege und die umfangreiche Sprachausgabe von 12 Stunden, für die sogar namhafte Hollywood-Sprecher engagiert werden konnten, den Wiederspielwert steigern. Doch leider ist bei Sunrise trotz vielversprechender Spielelemente nicht alles eitel Sonnenschein.
Hauptprotagonist Rydec, der großmäulige Max und Naturwissenschaftsgenie Brian bilden wahrlich eine verrückte geniale Truppe. Ständig am Streiten, sich gegenseitig beleidigend, arbeiten sie in ihrem zur High-Tech-Werkstatt umfunktionierten Loft an einem potenziell bahnbrechenden Experiment – Gegenstände erfolgreich zu beamen. Natürlich geht es komplett schief. Nach einer ordentlichen Explosion wachen die drei Chaoten wieder auf, im menschenleeren, verregneten New York City. Als sei das nicht schon schlimm genug, finden sie vor ihrer Haustür auch noch eine bewusstlose Frau. Der Spieler schlüpft nun in die Haut von Rydec, um den folgenschweren Fauxpas wieder rückgängig zu machen.
Aufgabenteilung ist angesagt: Während Brian fieberhaft an der Fehleranalyse arbeitet und Max für die ständige Meckerei zuständig ist, fungiert Rydec, also der Spieler, als Mädchen für alles. Benötigt Brian für seine Untersuchungen neues Werkzeug, macht sich Rydec unter heftigem Protest auf, dies zu besorgen. Hat Max vom ständigen Nörgeln Hunger, liegt es an Rydec, Essen zu besorgen. Richtig vermutet: Da kommt jede Menge Laufarbeit auf den Spieler zu.
Ein Beispiel einer typischen Aufgabe: Relativ zu Anfang soll man für die Truppe bereits erwähntes Essen besorgen. Dazu sucht man zunächst etliche Straßen nach einer Tankstelle ab. Nachdem Rydec festgestellt hat, dass die Tankstelle geschlossen hat, beschließt er, die anderen um Rat zu fragen, also den Weg nochmal zurücklaufen. Als besagter Rat eingeholt wurde und man die Strecke nach anderen Schwierigkeiten noch mehrmals hin und her gelaufen ist, gelangt man schließlich in die Tanke. Klickt man nun auf das ersehnte Essen, nimmt sich Rydec genau ein Paket Sushi. Mehr geht nicht, weil dies von ihm verweigert wird. Gezwungenermaßen läuft man wieder ins Loft, nur um postwendend zurückgeschickt zu werden. Warum? Weil ein Paket für alle vier Personen natürlich zu wenig ist. In dieser Art wird der Spielablauf die ganze Zeit über aufrecht erhalten. Rydec nimmt jeweils nur sehr wenige Gegenstände zu sich, meistens einen, der dann für das nächstanstehende Rätsel benötigt wird. Das ist zwar realistisch, führt aber schnell zu Frust. Zu oft weiß man ganz genau, dass gewisse Gegenstände im späteren Spielverlauf gebraucht werden, die kann man sich aber erst holen, wenn es der Protagonist so möchte. Im Endeffekt wird der Spieler dazu genötigt, das gesamte Spiel über Wege unnötig mehrmals zu gehen und sich zudem die Standorte von Items zu merken. Die Rätsel sind jedoch alle recht logisch und nicht sonderlich schwer.
Gegenstände kommentiert Rydec grundsätzlich nur einmal. Ohne gutes Gedächtnis kommt man nicht sehr weit. Klickt man doch ein zweites Mal auf ein Item, meldet sich Rydec nicht gerade selten äußerst aggressiv zu Wort. Das vom Entwickler geförderte „Coole Typen – Harte Sprüche“-Image darf hier sehr wörtlich genommen werden, zumindest was die harten Sprüche angeht. Cool reagieren die Charaktere hingegen fast nie. Da nimmt man doch lieber die integrierte Hilfe-Funktion in Anspruch. Per Doppelklick auf Rydec gelangt man in eine Art Status-Bildschirm. Hier kann die aktuell zu erledigende Aufgabe nachgelesen, oder eben Hilfe angefordert werden. Der jeweils nächste nötige Schritt erscheint klar und deutlich in Textform, das ist einsteigerfreundlich und bewahrt ungeduldige Spieler zudem vor der übertriebenen Lauferei sowie vor patzigen Antworten seitens des Protagonisten.
Ab und an kann man Rätsel auf unterschiedliche Weise lösen, dies hat jedoch nur geringe Auswirkungen auf den weiteren Spielverlauf. Des Weiteren hat man genau einmal die Wahl zwischen zwei verschiedenen Aufgaben. Egal wie man sich entscheidet, eine Location bekommt man nicht zu Gesicht. Ob die verpasste halbe Stunde zum Wiederspielen motiviert, bleibt fraglich. Auch der Rest ist doch nicht so weit vom klassischen Adventure entfernt wie zunächst angenommen: Kopfnüsse löst man per Klick auf einen Gegenstand. Rydec führt die richtige Aktion dann automatisch aus, vorausgesetzt er hat das passende Item bei sich. Logisch, dass bei diesem System Kombinationsrätsel fast gänzlich wegfallen. Manchmal jedoch muss sich der Spieler eines Multifunktionstools bedienen. Hier hat man dann die Wahl zwischen Zange, Schraubenzieher und Messer. Ein farbiger Mauszeiger informiert über Interaktionsmöglichkeiten. Last but not least aktiviert man per Druck auf die Leertaste die mittlerweile obligatorische Hotspot-Funktion.
Dadurch, dass man so gut wie immer nur den Gegenstand mit sich führt, der unmittelbar als nächstes benötigt wird, und es oft nur weiter geht, wenn eine ganz bestimmte Aktion ausgeführt wurde und ihr zudem von euren Kumpels strikte Anweisungen erhaltet, was zu tun ist, entpuppt sich Sunrise als sehr lineares, laufintensives Adventure. Tröstlich: ab etwa der Hälfte des Spiels fährt man Auto, dann geht’s auch im angenehmen Tempo voran. Rydec ist übrigens ein cooler Typ. Und coole Typen rennen grundsätzlich nicht, sie schlendern ganz gemütlich von einer Szene zur nächsten…immerhin darf man per Doppelklick den jeweiligen Bildschirm sofort verlassen.
Technisch darf man die Programmierer gerne loben. Realistische Schattenwürfe, ansprechende Texturen, abwechslungsreiche Lichtquellen und Dauerregen sind angenehm fürs Auge und erzeugen die vom Entwickler beabsichtigte Weltuntergangsstimmung. Auch die Animationen der Charaktere brauchen sich nicht zu verstecken. Positiv ist weiterhin die geschaffene Spielwelt. New York wirkt riesig, dank zahlreicher, mehr oder weniger originalgetreuer Schauplätze, abwechslungsreich und realistisch.
Für die Dialoge konnte der Hersteller echte Hollywoodgrößen beziehungsweise deren deutsche Synchronstimmen verpflichten. So waren mit Andreas Fröhlich (John Cusack), Torsten Michaelis (Wesley Snipes), Ulrike Stürzbecher (Kate Winslet) und Dirk Müller (Peter Lamb) echte Profis am Werk. Und das merkt man auch: Die Vertonung ist wirklich professionell und gehört mit zu den besten in einem Adventure. In einem Punkt scheiden sich die Geister: Die Charaktere in Sunrise sind durchweg unhöflich. Sie beschimpfen sich ständig, halten sich gegenseitig zum Narren und lassen einen (pseudo-)coolen Spruch nach dem anderen vom Stapel. Auch der Spieler wird nicht verschont. Jegliche Kommentare seitens Rydec triefen vor Sarkasmus und sind teilweise richtig unverschämt. Manch einer mag das witzig finden, ein anderer wird sich an dieser Art von Unterhaltung stören. Sunrise wurde ohne Altersbeschränkung freigegeben, das verwendete Vokabular ist aber nun wirklich nicht für die Gehörgänge eines Grundschülers bestimmt. Die Entwickler haben schon vor einiger Zeit eine Demo-Version veröffentlicht. Diese sollte man sich am besten anschauen und selber feststellen, ob man gewillt ist, sich dem circa 15 Stunden auszusetzen. In den Spiel-Optionen findet sich ein Punkt namens „Extended Version“. Ist dieser deaktiviert, vernimmt man im Spiel gekürzte Dialoge. Letztere sind übrigens selbstablaufend, ein Klick auf den potenziellen Gesprächspartner und die Charaktere streiten munter drauf los. Die Musikuntermalung ist durchweg rockig und für Fans dieses Musik-Genres gelungen, beschränkt sich jedoch auf die ab und zu eingestreuten Zwischensequenzen, den Titelbildschirm und den Abspann. Während des aktiven Spielens bestehen die einzigen vernehmbaren Geräusche aus dem Prasseln des Regens oder sonstigen natürlichen Tonquellen – in einem menschenleeren New York gibt es davon logischerweise nicht allzu viele.
Sunrise ist eines der zahlreichen Adventures, die jede Menge Potenzial verschenken und deswegen ins Mittelmaß abfallen. Schade um die guten Synchronsprecher, aber manchmal ist weniger eben doch mehr. Mit dem destruktiven, beleidigenden Vokabular der Protagonisten haben es die Storywriter der TML-Studios definitiv übertrieben. Wird man als Spieler vom Hauptcharakter angefahren, nur weil man einen Gegenstand mitnehmen will, den man später tatsächlich braucht, finden das wohl die wenigsten lustig. Das ist gleichzeitig das Kreuz, das „realistische“ Adventures tragen müssen. In der Realität ist es selbstverständlich, dass man nicht zig Gegenstände mit sich schleppt, im Spiel bedeutet diese Art von Realismus erheblichen Komfort-Verlust. Gerade bei Sunrise macht sich das bemerkbar, da die Laufwege auf Grund der zahlreichen Locations sehr lang ausgefallen sind und irgendwann hat man sich auch am virtuellen New York City satt gesehen. Sei's drum, wer einfach nur der durchaus spannenden Geschichte folgen will und Gefallen an den Dialogen findet, lässt sich nicht von den langatmigen Rätseln ärgern und nutzt die eingebaute Hilfefunktion.
Sunrise löste bei mir ein Wechselbad der Gefühle aus. In den ersten Stunden konnte ich mich noch an den Dialogen erfreuen, fand einige sogar ziemlich lustig. Als die Spielfiguren nach einer Handvoll Spielstunden immer noch rumfluchten und ich zum x-ten Mal ermahnt wurde, Rydecs kostbare Stimmbänder zu schonen, hatte ich davon genug. Erstens hat er ja anscheinend genug Energie, um minutenlange Streitgespräche mit seinen Kumpanen zu führen, zweitens bin ich der Spieler und als solcher möchte ich auch zu einem gewissen Grad das Sagen haben. Wenn ich weiß, dass wir später eine Brechstange oder ein Seil benötigen, möchte ich das Item bitteschön gleich mitnehmen und nicht erst nach einigen Stunden, wenn ich schon längst vergessen habe, wo es sich in der großen Spielwelt befindet und erst mühselig suchen muss. Klar, dafür gibt es ja die zugegeben mustergültige Spielhilfe, aber der eigentliche Sinn eines Adventures (Rätsel selbstständig zu lösen) ging mir dabei verloren. Sunrise ist kein Spiel, welches sich ausschließlich auf dessen Präsentation und fein ausgearbeitete Charaktere stützt, wie zum Beispiel Dreamfall oder Fahrenheit. Es wirbt darüber hinaus mit ausgeklügelten Rätseln, die aber in Wirklichkeit nur die Spielzeit strecken als dass sie unterhalten und non-Linearität, die es hier jedoch schlichtweg nicht gibt. Da ich unbedingt wissen wollte wie das Spiel endet, habe ich die Längen genervt in Kauf genommen und mich von einer guten Storysequenz zur nächsten gehangelt. Wer den destruktiven Humor des Spiels teilt, darf gerne einige Prozentpunkte auf die Wertung draufschlagen.
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