Barcelona im Jahr 1514. Die Inquisition treibt ihr Unwesen und versetzt die Menschen in Angst und Schrecken. Freidenker und Ungläubige werden nicht nur verfolgt, gefoltert und hingerichtet, sondern auch von der restlichen Bevölkerung gemieden; man möchte nicht mit ihnen gesehen werden und so den Eindruck erwecken, auf der falschen Seite zu stehen. In diesen harten Zeiten arbeiten die Brüder Feodor und Ramon Morales an einem Gerät, das die Schwerkraft überwinden und den Menschen fliegen lassen soll. Nach einigen erfolglosen Versuchen scheint nun der perfekte Tag gekommen zu sein, um ihre Erfindung ihrem Geldgeber, einem reichen Grafen, zu präsentieren. Doch Feodor hat die Rechnung ohne den Wind gemacht und so landet das Fluggerät in einem Baumwipfel und Ramon beinahe im Meer. An diesem Punkt übernimmt der Spieler die Kontrolle über Feodor und seine erste Aufgabe besteht darin, seinen an einer Klippe hängenden Bruder wieder auf festen Boden zu bringen. Doch das ist nur der Anfang einer langen Reise, die Feodor und Ramon nicht nur in ferne Länder bringen, sondern das Leben der beiden unwiderruflich verändern soll.
Die Engine von Cranberry Production dürfte Spielern schon aus den letzten beiden Black-Mirror-Teilen bekannt sein. Gesteuert wird hauptsächlich mit einem Linksklick, zusätzlich können Objekte im Inventar mit einem Rechtsklick angesehen oder auch benutzt werden. Die Steuerung geht direkt flüssig von der Hand, allerdings sollte man während des Spielens nicht vergessen, dass eben auch Ereignisse ausgelöst werden können, indem Objekte im Inventar manipuliert werden. Da die rechte Maustaste ansonsten im Spiel gar keine Verwendung findet, verliert man diese Möglichkeit schnell aus dem Gedächtnis. Das Spiel bietet Komfortfunktionen wie ein automatisches Journal, Doppelklick für schnellen Szenenwechsel oder eine Hotspot-Anzeige durch Drücken der Leertaste. Das Inventar klappt automatisch auf, sobald der Mauszeiger in die Nähe des unteren Bildschirmrands bewegt wird.
Bei der grafischen Gestaltung haben sich die Designer von Cranberry nicht lumpen lassen. Die Hintergründe sind ausgesprochen detailliert, man erkennt praktisch jeden einzelnen Kratzer. Teilweise, wie zum Beispiel an Deck eines zerstörten Schiffes, kann sich das Auge kaum satt sehen, so viel gibt es zu entdecken. Dementsprechend viel hat man dann auch zu erforschen. Denn die Szenen sind nicht nur mit vielen Details versehen, sondern auch mit vielen anwählbaren Punkten, die oft einfach nur da sind, um dem Spielcharakter seinen Eindruck der aktuellen Umgebung zu entlocken. Das gibt dem Spiel atmosphärisch einen kleinen Schub, denn Feodor, der selbst die große weite Welt zum ersten Mal sieht, ist oft sehr beeindruckt von dem, was er sieht und diese Eindrücke gibt er auch gerne an den Spieler weiter. Komplettiert wird das positive Gesamtbild von vielen kleinen Animationen, die den Hintergründen Leben einhauchen. Manchmal hat man das Gefühl, dass alles, was sich im aktuellen Bild bewegen könnte, auch wirklich in Bewegung ist. So steht Feodor zum Beispiel auf Malta vor einer Piraten-Festung. Hier schwappt das Wasser grafisch effektvoll in Szene gesetzt vor sich hin, dort wehen eine Flagge oder Stofffetzen im Wind und während Feodor selbst sich immer wieder umschaut, ziehen im Hintergrund die Wolken vorbei. Einzig die Bewegungsanimationen der 3D-Charaktere wirken ab und zu etwas steif und unbeholfen, vor allem beim seitlichen Gehen. Dafür gibt es aber viele Spezialanimationen, wenn Feodor zum Beispiel auf eine Leiter klettert, durch ein Fenster hechtet oder den Boden fegt. Im Gegensatz dazu fällt die Qualität der Zwischensequenzen unangenehm auf. Hier werden nur grob animierte Zeichnungen verwendet, zu denen ein Sprecher den Fortgang der Geschichte schildert.
Als musikalische Untermalung hat man sich bei den Entwicklern gegen den massiven Einsatz typischer mittelalterlicher Klänge entschieden. Statt dessen wird oft ganz auf Musik verzichtet und nur in bestimmten Situationen werden dynamisch Stücke eingespielt. So erklingen zum Beispiel Töne, wenn bestimmte Teile einer Rätselkette gelöst wurden oder Feodor sich in gefährliche Situationen, wie etwa dem Balancieren auf einem Fenstersims, begibt. Dadurch bleibt akustisch mehr Raum für die vielen Hintergrundgeräusche wie rauschendes Wasser oder Vogelzwitschern, was ebenfalls einen guten Beitrag zur Atmosphäre leistet.
Die bei rain productions in Köln aufgenommene Sprachausgabe ist ausgezeichnet gelungen. Die Sprecher haben es geschafft, nicht nur das Wesen der von ihnen gesprochenen Figuren gut zu transportieren, sondern auch den jeweils zur Situation passenden Ton zu treffen. Besonders gelungen ist hier die Vertonung der Korsarentochter Jamila, welcher ihre rotzfreche Art jederzeit anzuhören ist, ohne dabei übertrieben zu klingen.
Die Idee, den Spieler in einem Adventure einen Erfinder spielen zu lassen, ist schlichtweg brilliant. Ständig ist Feodor irgendetwas am Bauen oder Basteln. Da im 16. Jahrhundert nur einfache Werkzeuge und Materialien zur Verfügung stehen, muss er dabei alles verwenden, was er finden kann. Zur Standardausrüstung gehören ein Klappmesser und eine Zange, die mehr als einmal gute Dienste erweisen. Aber auch Teer, Fasern, Holz, Mehl oder Sand dienen als Grundlage zum Erledigen von Aufgaben. Was man nicht hat, das baut man sich eben und erfindet dabei auch gerne mal die rudimentäre Rohversion von Dingen, die eigentlich in eine andere Epoche gehören. Die logische Folge ist, dass sich die meisten Aufgaben um das richtige Kombinieren und Manipulieren von Gegenständen oder der Umgebung drehen. Hinzu kommen wenige Minispiele, die auf Wunsch übersprungen werden können. Hierbei fällt auf, dass in Lost Chronicles of Zerzura nie das Gefühl entsteht, ein Rätsel sei um des Rätsels willen eingebaut worden. Was getan werden muss, ergibt innerhalb der Geschichte immer einen Sinn. Eine direkte Hilfsfunktion gibt es im Spiel nicht, allerdings liefern das automatisch geführte Journal, die Konversation mit anderen Charakteren sowie das Betrachten von Gegenständen genug Hinweise, um den Spieler auf die richtige Spur zu bringen. Leider liefern gerade die Objektbeschreibungen einige Lösungen zu früh, sodass Ideen, auf die der Spieler eigentlich selbst hätte kommen können, schon im Vorfeld verraten werden. Dennoch ist das erfinderische Rätseldesign mit eine der ganz großen Stärken des Spiels.
Obwohl Lost Chronicles of Zerzura als historisches Adventure angekündigt wurde, setzt die Epoche nur den Rahmen und die Voraussetzungen für die Geschichte des Spiels. Die Reise, auf die Feodor mit seinen Gefährten geschickt wird, ist ein echtes Abenteuer und greift auf viele Stilmittel der phantastischen Literatur zurück. Es ist nicht einfach nur eine Story um einen Erfinder im ausklingenden Mittelalter, sondern bringt ebenso den Charme einer Piratengeschichte, das Abenteuergefühl einer Reise durch die Wüste, den geheimnisvollen Flair einer ständig zu spürenden Gefahr, die von einem mächtigen Gegner ausgeht, sowie letztendlich mystische Elemente aus dem Fantasy-Bereich mit ein. Doch nicht nur das macht die Geschichte interessant. Auch die Charaktere, denen man begegnet, sind gut ausgearbeitet und glaubwürdig. Lost Chronicles of Zerzura vermag nicht zuletzt durch die schön geschriebenen Dialoge Gefühle wie Spannung, Trauer, Freundschaft und Verbundenheit glaubwürdig zu vermitteln und nimmt sich dafür entsprechend Zeit. Wer gemütlich spielt und die teils langen Dialoge verfolgt, kann diese Welt für etwa 12 bis 15 Stunden erleben.
Lost Chronicles of Zerzura ist ein bemerkenswertes Spiel, das viele tolle Elemente ernsthafter Adventures in sich vereint. Größte Kritikpunkte sind die teils steifen Animationen sowie die recht einfach gehaltenen Zwischensequenzen, für die offenbar die passenden Mittel gefehlt haben. Doch auch das ist Meckern auf hohem Niveau. Das Spiel sieht toll aus, spielt sich flüssig, ist bis zum Ende interessant und hinterlässt nach dem Abspann das wohlige Gefühl, ein wunderbares Abenteuer erlebt zu haben. Wer gerne mal wieder auf eine große Reise gehen möchte, ist hier genau richtig.
Schon die ersten Bilder, die wir auf der gamescom im August zu sehen bekamen, waren sehr ansprechend. Dass dieser Titel aber letztendlich inhaltlich so viel zu bieten hat, habe ich zu diesem Zeitpunkt auf keinen Fall erwartet. Die Entwickler von Cranberry Production haben sich endlich von der schweren Last befreien können, die ihnen mit der Erwartungshaltung an die Black-Mirror-Nachfolger auf die Schultern gelegt wurde. Jetzt zeigen sie erzählerisches Potential. Um so mehr ist es schade, dass dies wohl das letzte Adventure von Cranberry Production sein soll. Dabei gibt es im Abspann sogar noch einen Hinweis auf eine mögliche Fortsetzung. Es heißt zwar, man solle gehen wenn es am schönsten ist, in diesem Falle wäre das aber sehr bedauerlich. Ich persönlich würde von diesem Entwickler gerne noch einen weiteren Adventure-Titel sehen.
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