Als die schwedischen Entwickler Anders Gustafsson und Erik Zaring 2010 den Grundstein zu ihrem episodischen Grafikadventure legten, waren die damit verbundenen Mühen vor allem für außenstehende Beobachter kaum absehbar. Der kreative Umgang mit Naturmaterialien und das geradezu göttliche Ansinnen, menschliche Protagonisten aus Lehm zu formen, weckten aber einerseits großes Interesse und andererseits vielleicht sogar eine gewisse Ehrfurcht von Seiten der Spieler. Dies zog im Idealfall nach sich, dass man sich den talentierten Bastlern gegenüber nachsichtig zeigte. Letzten Endes sollte die Finalisierung des ambitionierten Zwei-Mann-Projekts nämlich erst sieben Jahre nach Veröffentlichung des Debüt-Kapitels geschehen. So durften wir nicht vor Mai 2017 erfahren, welchen Ausgang die höchst ungewöhnliche Geschichte um Victor Neff, dessen Gattin Alicia und ihrem ungeborenen Kind nehmen sollte.
Beinahe scheint es, als würde dem jungen Lebensglück nichts mehr im Wege stehen: Victor und Alicia Neff haben ihr neues Heim bezogen. Gewiss kein kostspieliges Einfamilienhaus, stattdessen jedoch eine gemütliche Unterkunft in der zweiten Etage eines recht überschaubaren Wohngebäudes. Diese soll künftig auch einem dritten Familienmitglied Platz bieten, welches das liebestrunkene Pärchen schon freudig erwartet. Bereits der erste Tag nach erfolgreichem Umzug steht aber unter äußerst unheilvollen Vorzeichen. Leicht beschämt berichtet die schwangere Angetraute ihrem Mann, dass sie im Traum ein Baby mit dem Gesicht des Hausmeisters gebar. Zwar durfte Alicia bislang nur flüchtige Bekanntschaft mit besagtem Mr. Morton schließen, doch mutet ihr dieser wie ein widerwärtiger Unsympath an. Als Victor binnen kurzem sogar eine verborgene Überwachungskamera aufspürt, die ausgerechnet im Schlafzimmer der beiden installiert wurde, muss er den Verdächtigen zur Rede stellen. Rasch erfährt er, dass Morton nicht bloß über den bescheidenen Rang eines Helfers und Instandhalters verfügt, sondern zugleich der Eigentümer des Hauses ist. Ebenso kann Victor die zwielichtige Person schon bald von der Anklage freisprechen, ein verdorbener Perversling zu sein. Mortons Obsession scheint sich vielmehr auf die Träume der Bewohner zu beziehen. So erkennt unser Held, dass Morton eine geheimnisvolle Maschine pflegt, die es ihm ermöglicht, zur Schlafenszeit in das Unterbewusstsein fremder Menschen einzudringen – zumindest all jener, die sich zu Victors Nachbarschaft zählen und somit ungefragt mit der gigantischen Apparatur vernetzt wurden. Als es dem zukünftigen Vater gelingt, den Spieß umzudrehen und in den Traum des schlummernd vorgefundenen Mr. Morton einzusteigen, wird ihm der Ernst der Lage allmählich bewusst. Morton stirbt vor Victors Augen, dahingerafft durch die monströsen Tentakel seiner eigenen ‘Dream Machine‘. Diese hat tatsächlich Gewalt über ihn und all die Träumenden erlangt – auch über seine geliebte Alicia. Wenngleich sie sich nicht dauerhaft im Schlafzustand befinden, beeinflusst die Maschine den Verstand seiner Opfer und zehrt an ihrem Schicksal.
Um Alicia zu retten, muss Victor neben Mr. Morton notgedrungen auch seine drei Nachbarn aus der Gefangenschaft der Maschine befreien. Nur ein vollständiger Sieg gegen die ‘Dream Machine‘ wird ihren Geiseln Frieden bescheren, wie Mr. Morton vor seinem tragischen Ableben prophezeite. Fortan erkundet Victor die Träume von Morton, Alicia sowie der übrigen Bewohner. Die dargebotenen Schauplätze, die sich aus dem Unterbewusstsein jener Nebenfiguren manifestieren, konfrontieren Victor nicht selten mit unangenehmen Situationen. An Bord eines Schiffes, welches von einem populären Kapitän namens Alicia kommandiert wird, begegnet er etwa unzähligen Doppelgängern seiner selbst. Es vermag kaum zu überraschen, dass diese meist von ihrer Befehlshaberin schwärmen. Voyeuristische Qualitäten entfalten sich umso mehr im Traum der Greisin Edie Jones, die dem Spieler Einblicke in bedrückende Jugendjahre gewährt. Auf brillante Weise arbeiten die Autoren das angespannte Dreiecksverhältnis zwischen Edie, ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter auf. Letztere fungiert hierbei als Nemesis, die Edies Verstand mit der Maschine verkabelt. Nachdem man sich zuvor überwiegend mit einer einzelnen Traumsequenz pro Episode begnügen durfte, wartet Kapitel 5 mit einer besonders komplexen Erzählstruktur auf. Hier wechselt der Spieler zwischen den Träumen von Theed und Willard, deren Wohnungen auf einer gemeinsamen Etage liegen. Auf welch raffinierte Art diese gegensätzlichen Traumschauplätze miteinander verwoben wurden, ist schlichtweg bemerkenswert. Im Verlauf der Serie erfolgt zudem eine psychologische Annäherung an Victors eigene Persönlichkeit. Dass dieser schon zu Beginn des ersten Kapitels von einem Aufenthalt auf einer einsamen Insel träumt, gibt bereits Aufschluss über das wahre Wesen eines Mannes, der sich wohl niemals als Familienmensch bezeichnen würde. Obgleich The Dream Machine als tiefgründiges wie emotionales Fantasy-Drama konzipiert wurde, werden Dialoge und Situationen häufig durch herrlichen, teils bizarren Humor aufgelockert. Wo ein Organdieb nachts durch die Wälder schleicht, um unschuldigen Personen Herz, Niere oder Lunge auszureißen, ist natürlich auch die Zielgruppe abgeklärt: Kindgerecht ist The Dream Machine mitnichten.
Als Flash-Anwendung kann The Dream Machine im Vollbild sowie im Fenster abgespielt werden. Ein Druck auf die F-Taste bewirkt einen schnellen Wechsel zwischen beiden Modi. Störend ist zunächst, dass das Spiel davon unabhängig stets im Vordergrund verweilt und man nebenbei nur schwer etwas Anderes erledigen kann. Ein Blick in die Komplettlösung wird somit wohl verhütet, solange das Programm geöffnet bleibt. Bemängeln lässt sich zudem manch seltene Sequenz, die unnötige Wartezeiten mit sich bringt. So muss man teils geduldig ausharren, bis ein geschrumpfter Victor auf einem Seil über einen Abgrund balanciert ist. Trotz einer „Stunden später“-Einblende kann dies gefühlte Minuten in Anspruch nehmen. Da die schwedischen Produzenten derzeit eifrig Updates nachliefern, könnte diese unliebsame Angelegenheit vielleicht noch korrigiert werden. Insgesamt halten sich die technischen Defizite bei The Dream Machine jedenfalls in Grenzen und als Besonderheit bleibt zu erwähnen, dass das Adventure sogar im Browser gespielt werden kann. Ansonsten bleibt bloß die Steam-Version als Alternative. Die klassische, wenngleich unkomplizierte Point & Click-Steuerung ermöglicht ein unbeschwertes Spielerlebnis. Sobald man die Maus zum oberen Bildschirmrand bewegt, wird das Inventar eingeblendet. Sämtliche Aktionen werden mit einem einzigen Mausklick getätigt und Items werden im Drag and Drop-Verfahren auf Hotspots oder sonstige Gepäckstücke angewandt. Darüber hinaus verfügt das Spiel über eine Autosave-Funktion und lässt auch keine frei belegbaren Speicherplätze vermissen.
Da die Entwickler dem Vorbild des traditionellen 3rd-person-Adventures nacheiferten, wird Victors Reise natürlich durch erfolgreich absolvierte Inventarrätsel und ausgeprägte Kommunikationsfreudigkeit vorangetrieben. Ein ausgewogener Schwierigkeitsgrad ist von Beginn an vorhanden, in späteren Etappen wird dem Spieler aber deutlich mehr abverlangt. Um sich diesen Herausforderungen zu stellen, sollte man durchaus um die Ecke denken können. Der allgegenwärtige Abwechslungsreichtum offenbart sich dem Spieler nicht zuletzt im Rätseldesign: So muss man für gesellige Victor-Klone unfreiwillige Botengänge erledigen, die zudem eine detektivische Komponente aufweisen und mitunter in kniffligen Knobeleien ausarten. Meist gilt es mehr zu vollbringen, als nur Dinge miteinander zu kombinieren und Dialogzeilen anzuklicken. Um etwa die Rezeptur eines Schlafmittels ausfindig zu machen, sind Dokumente zu durchforsten. Zur Lektüre von Büchern, der sorgfältigen Betrachtung einer Orientierungskarte und für sonstige Puzzlesequenzen, die einer Nahansicht bedürfen, erfolgt ein Wechsel in die Ego-Perspektive. Die Brillanz jener Rätsel, die stets perfekt in die (jeweilige Traum-)Handlung eingebettet sind, ist besonders nach Abschluss des vierten und fünften Kapitels nicht mehr von der Hand zu weisen. In Edies Traum muss deren inmitten eines Vakuums gelegenes Haus neu errichtet werden, indem man gerahmte Fotografien einzelner Räume aufstöbert und an der Wohnzimmerwand auf beliebige Weise aneinanderreiht. In den Träumen von Theed und Willard gelangt man in den Besitz mächtiger Werkzeuge, nämlich eines Schrumpfstrahlers sowie eines Zaubertranks, der Victor in einen Riesen verwandelt. Das Spiel mit den veränderten Größenverhältnissen, die sich ebenso auf Gegenstände in Victors Hosentaschen auswirken, wurde gekonnt auf die Spitze getrieben. Es verwundert nicht, dass aus diesem Konzept die umfangreichste Episode hervorging.
Wie schon angedeutet, wurde das Universum rund um Victor Neff komplett von Hand gefertigt. So dienen etwa Lehm, Kondome oder Brokkoli, um nur einige zu nennen, als Bausteine einer Umgebung, die durch ihre zahlreichen Traumwelten beachtliche Dimensionen annimmt. Dank der Kunstfertigkeit seiner Macher und der damit verbundenen Präzisionsarbeit ist ein wahrhaft zauberhaftes wie charmantes Grafikadventure entstanden. Während Mortons Wohngebäude an ein rustikales Puppenhaus erinnert, welches die Großmutter der vorletzten Generation nicht besser hätte gestalten können, fördern die Träume umso mehr die düstere Ebene des Spiels zutage. Besagte Abschnitte neigen oft ins Surreale, was zusätzlich Stimmung schafft. Trotz ihrer verschrobenen Gesichtszüge und der tendenziell grobklötzigen Körperform wirken die menschlichen Protagonisten äußerlich eher niedlich und sympathisch, was die Identifikation mit dem Hauptcharakter erleichtert. Die musikalischen Ergüsse bestechen durch ihre angenehme Introversion. Meist leise, gefühlvoll und doch ein wenig unheimlich anmutend begleiten sie das Spielgeschehen. Anstatt sich in den Vordergrund zu drängen, bleiben sie mit einer regen Geräuschkulisse verschmolzen und verursachen mit dieser eine packende Atmosphäre. Das mit sanften Gitarrenklängen untermalte Titellied kommt im mitreißenden Showdown besonders zur Geltung und sorgt dort nahezu unausweichlich für Gänsehaut. Enttäuscht wird lediglich, wer auf eine Sprachausgabe hofft.
Mit The Dream Machine ist Gustafsson und Zaring ein hochkarätiges Werk gelungen, das sich zweifellos mit den großen Klassikern des Genres messen kann. So wurde hier nicht bloß das narrative Element berücksichtigt, wie im Bereich des Episodischen üblich, sondern zugleich ein Adventure im traditionellen Sinne erschaffen. Letzten Endes lässt sich nur darüber staunen, mit welcher Selbstverständlichkeit zwei eigentlich unerfahrene Entwickler ein solch fulminantes, perfekt durchdachtes und künstlerisch wertvolles Spiel abliefern konnten. Da mutet eine Produktionsdauer von sieben Jahren schon beinahe rekordverdächtig an.
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